Das Altpapier am 13. Dezember 2018 May the Ambiguitätstoleranz be with us

Sind die "Gelbwesten" das perfekte Medienphänomen? Was ist dann eigentlich noch real und was Projektion? Journalisten haben bei der Katastrophenberichterstattung dazugelernt. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Würde Gerhard Richter ein Bild aus den in der europäischen Politikberichterstattung genannten Farben malen, wäre ein Großteil der Leinwand wohl gelb. Allerdings nicht sonnengelb, sondern neongelb, eben wie die Westen der französischen Protestler. Die "Gelbwesten" oder Gilets Jaunes sind seit ein paar Wochen von Nachrichtenportalen, aus Radio, TV und Push-Nachrichten nicht wegzudenken.

Da wir Medienmenschen bei Konfrontation mir solch neuen Bewegungen ja gern dazu neigen, Klarheit schaffen zu wollen, wo es bisher vielleicht noch gar keine gibt und es uns häufig schwerfällt, Widersprüche einfach erst einmal stehen zu lassen, begeben wir uns doch einfach mal auf einen Streifzug durch die "Gelbwesten"-Berichterstattung hierzulande.

Nach allem, was ich bisher gelesen/gesehen/gehört habe, setzt sich in der Berichterstattung vor allem die Erzählweise durch, die Protestler seien enttäuschte, frustrierte Menschen in prekären Lebenssituationen, teils mit rechts-, teils mit linksextremen Tendenzen, teils durch Russland befeuerte, durch Facebook sowieso.

Nils Minkmar analysiert bei Spiegel Online, die Bewegung sei "das perfekte Medienphänomen":

"Man kann etwas Revolutionsfolklore hineindeuten, nach Belieben personalisieren und viel Häme gegen Macron verbreiten. (…) Aber diese Deutungen verkennen die fundamentale, ja intime Dimension der Verzweiflung in Frankreich. Sie hat mit der Erkenntnis zu tun, dass der Nationalstaat nicht mehr viel, aber Europa noch lange nicht genug vermag, um normale Bürger zu fördern."

Medien als Wirkhebel

Sind die "Gelbwesten" also nur ein weißes Tuch, auf das wir Medienmenschen einen Mix aus unseren Vermutungen, gespeist aus den bereits in unseren Köpfen bestehenden Narrativen werfen? Business as usual also, denn das ist natürlich erst einmal die Basis jeglicher Berichterstattung. Sascha Lobo erinnert allerding in seiner Kolumne (ebenfalls bei SpOn) daran, diese Schablonen im Kopf nicht allzu wichtig zu nehmen, weil die Bewegung sich aufgrund ihrer Diffusität und Diversität ohnehin irgendwie hineindrücken lassen wird.

"Bewegungen, die in sozialen Medien entstehen und strukturiert werden, folgen oft ähnlichen Grundmustern. (…) Die diffuse Graswurzel-Struktur ist Stärke und Schwäche zugleich. Die Schwäche zeigt sich in der medialen Rezeption, denn sozial-mediale Bewegungen sind zu Beginn die perfekte Projektionsfläche: Weil 'Gelbwesten‘ so divers sind, findet man für fast jede These über sie Belege, ob im Netz oder in Straßeninterviews."

Bei einem solchen Straßeninterview mit Watson lässt sich dann auch der Punkt "Medienskepsis" abhaken. Ein junger Demonstrant wird dort zitiert:

"Ich protestiere hier auch gegen die französischen Medien, die meiner Meinung nach ständig Propaganda für die Regierung machen. Das sind Politiker und nicht Journalisten. Ich informiere mich deshalb nur auf Russia Today oder bei unabhängigen Bloggern im Internet."

Das Attribut unabhängig könnte man hier natürlich wieder auseinanderargumentieren, aber darum soll es hier erstmal nicht gehen. Denn es stellt sich natürlich auch die Frage, was bedeutet die bisherige Berichterstattung wiederum für die "Gelbwesten" selbst? Lobo schreibt:

 "Auch scheint die Skepsis gegenüber Medien groß, und das nicht grundlos. Denn die Berichterstattung über die 'Gelbwesten‘ kann die gesamte Bewegung verändern. Auch das ist typisch für diffuse Netzbewegungen. Vereinfacht gesagt: Wenn in klassischen Medien der Tenor ist, die Bewegung sei als rechtsextrem einzuschätzen, dann werden in sozialen Medien und auf der Straße zunehmend Rechtsextreme angelockt, während Nicht-Rechtsextreme sich eher abgeschreckt zurückziehen. Natürlich kann die Zuschreibung auch umgekehrt funktionieren, aber in jedem Fall dienen redaktionelle Medien als Wirkhebel in die Politik. Denn die noch sehr klassisch geprägte politische Öffentlichkeit ist bisher kaum im Stande, mit der Ambivalenz und Diffusität netzbasierter Bewegungen umzugehen."

Damit wären wir wieder bei der Frage, wo verläuft die Linie zwischen Realität und Medienrealität? Wie wirkt Letzteres auf Ersteres? Und populistisch formuliert: Zeigt sich darin nicht wieder eine Verschwörung "der Medien" gegen "das Volk"? Nein, findet Lobo:

"Wenn Eindeutigkeit im Innern kaum vorhanden ist - wie jetzt noch bei den "Gelbwesten" - wird sie oft von außen behauptet, denn vor allem die Politik braucht Eindeutigkeit für eine sinnvolle Reaktion. Man darf das nicht als 'Verschwörung‘ begreifen, es zeigt vielmehr das Unvermögen der Strukturen des 20. Jahrhunderts, sich mit den neuen, sozialmedialen Bewegungen des 21. Jahrhunderts sinnvoll auseinanderzusetzen."

Also, durchatmen und ins Gedächtnis rufen: Die "Gelbwesten" sind zunächst einfach Menschen, die sich gelbe Westen anziehen und sich in sozialen Medien zum Protest verabredet haben. Und JournalistInnen tut es oft entgegen aller Erklär-Reflexe gut, erstmal Fragen zu stellen, statt vorschnell Antworten zu geben. May the Ambiguitätstoleranz be with us!

Beim Lesen des Vice-Interviews mit der Pariser Aktivistin und Akademikerin Aurelie Dianara zeigt sich allerdings auch, dass die Berichterstattung trotz Schablonenhaftigkeit etwas Gutes hat:

"Die Demonstrierenden kommen sowohl aus dem linken als auch dem rechten politischen Lager, doch ursprünglich bestand die Bewegung aus Leuten, die sich als unpolitisch bezeichneten – eine Bürgerbewegung; Menschen, die noch nie zuvor demonstriert hatten und stolz darauf waren. All diese Menschen haben eines gemeinsam: Am Monatsende reicht ihr Geld nicht. In den französischen Medien erklären sie jetzt, dass sie dann kein Essen mehr im Kühlschrank haben und zu viele Steuern und Rechnungen zahlen müssen. Sie erzählen, dass sie ihre Kinder nicht ernähren können oder dass ihnen nur 50 Euro im Monat bleiben, um Kleidung und andere Dinge zu kaufen. In den letzten Wochen haben wir erstaunlich viele Stimmen gehört, die sonst nicht zu Wort kommen."

Insofern könnte das Ganze auch mal wieder als Erinnerung für uns Journalisten dienen, verschiedene weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen bei all dem Hinterherrennen hinter und Mitreiten auf dem News-Karussell nicht aus dem Blick zu verlieren.

Innere Bremsen

Über die Rolle von Facebook bei den Protesten hatten wir am Dienstag bereits nachgedacht. Einen weiteren Aspekt zum Thema bespricht Jan Füchtjohann nun in der Süddeutschen. Die Schnelligkeit der Tech-Branche bzw. Facebooks. Da tritt endlich mal jemand einen Schritt zurück und wirft nicht nur einen Blick auf die bösen Plattformen selbst, sondern teilweise zumindest auch auf die Mechanismen hinter dem Social-Media-Zirkus.

Zwar sieht Füchtjohann einen, wenn nicht sogar den Auslöser für die Gelbwesten-Proteste in einer Algorithmus-Änderung von Facebook hin zu einer höheren Gewichtung lokaler Inhalte, die auch "lokale Wutgruppen" begünstige (womit meiner Meinung nach viele soziale Faktoren außer Acht gelassen werden).

Aber daneben wirft er auch einen Blick auf die enorme Beschleunigung der Informationsverbreitung und, "dass in einem unregulierten Wettbewerb immer die Schnellsten gewinnen":

"Und genau hier liegen die Schwierigkeiten. Viele alte Institutionen wussten das und enthielten darum 'innere Bremsen‘: Redaktionen mussten Fakten prüfen, bevor sie veröffentlicht wurden; Autos hatten Elchtests zu bestehen; in Parlamenten wurde ausgiebig diskutiert; vor Gericht gab es auch eine Verteidigung usw. In all diesen Fällen wurde bewusst nicht der kürzeste, schnellste und reibungsloseste Weg gewählt. Im Gegenteil: Das Verfahren sollte rumpeln, stottern und immer wieder innehalten, es waren Konflikte und diverse 'Checks and Balances‘ vorgesehen.

Genau das war mal ein Wettbewerbsvorteil: Verfahren dieser Art sind zutiefst demokratisch - sie lassen mehrere, oft widerstreitende Perspektiven zu Wort kommen, führen dadurch aber auch zu besser informierten Ergebnissen. Dass sie länger brauchen, wurde lange als notwendiges Übel akzeptiert."

Gefährdet eine solche Technologie also unsere Demokratie? Nicht die Technologie selbst, aber ein um jeden Preis gewinnorientierter Umgang mit ihr geht durchaus in eine solche Richtung, würde ich zu behaupten wagen. Wir brauchen jedenfalls, auch auf politischer Ebene, dringend mehr Auseinandersetzung mit solchen Grundlagen.

Verdrängung oder Lerneffekt

Das Altpapier ist heute sehr Frankreich-lastig. Nach Katastrophen oder Anschlägen lohnt sich ja meist ein Blick auf die Berichterstattung, sozusagen als Gradmesser für die Einhaltung journalistischer Grundsätze. Der Umfang fiel diesmal (den Eindruck habe ich jedenfalls bisher gewonnen) deutlich geringer aus, als sonst (z.B. bei Anschlägen in vergleichbarer Entfernung wie Nizza, Berlin, Paris, etc.).

ARD und ZDF berichteten in ihren abendlichen Nachrichtensendungen. Es gab allerdings keine Brennpunkte oder andere Programmunterbrechungen. Einige Pushnachrichten gingen raus und Liveblogs gab es natürlich auch.

Auf der FAZ-Medienseite (und hier online) wundert sich Michael Hanfeld über "die Zurückhaltung der großen hiesigen (öffentlich-rechtlichen) Fernsehkanäle":

"Den Angriff auf den Weihnachtsmarkt so dezent zu berücksichtigen wirkt wie Verdrängung. Der Täter könnte längst über die Grenze geflüchtet sein und sich das weniger dichte Verfolgungsnetz in Deutschland zunutze machen. Das nächste Attentat könnte auf jeden anderen Weihnachtsmarkt verübt werden, hüben wie drüben. Der Terror kennt keine Grenzen, er sucht sich Ziele mit Symbolgehalt, den Weihnachtsfrieden zu zerstören und dabei möglichst viele Menschen zu töten ist das Ziel."

Spekulationen über eine mögliche Grenzüberquerung des mutmaßlichen Täters hätten meiner Meinung nach aber auch niemandem weitergeholfen, sondern eher Panik verbreitet (das würde hier übrigens auch so stehen, wenn das Altpapier nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Portal erscheinen würde). In Deutschlandfunks "@mediasres" sagte Wulf Schmiese, Redaktionsleiter des "heute Journals", die zurückhaltende Berichterstattung habe auch pragmatische Gründe gehabt: Fehlende Bilder und eine unklare Informationslage:

"‘Der Terrorverdacht lag nicht im Zentrum‘ – in diesem Aspekt habe sich die Berichterstattung gewandelt, so Schmieses Einschätzung: 'Man muss gar nicht spekulieren, ist das Terror?, sondern jeder Zuschauer und Zuhörer hat das natürlich im Kopf, er muss nicht drauf hingewiesen werden. Wenn es nicht Terror ist, dann ist es ja fast schon eine Überraschung‘."

Und:

"Dies sei auch ein Ergebnis eines 'Selbstlernprozesses‘ im Umgang mit Berichterstattung zu Anschlägen: 'Lehren aus einer zu hektischen Berichterstattung‘ aber auch eine Reaktion auf Kritik von Zuschauern. In den 'Jahren des Terrors‘ habe man gemerkt, dass man besonders dosiert und ausgewogen berichten müsse".

Eigenlob, klar. Aber wenn eine solche Linie in Zukunft beibehalten wird, meiner Meinung nach tatsächlich ein positiver Lerneffekt.


Altpapierkorb (Unmut bei Funke, Hannibal, Predictions for Journalism, Zukunft des Papiers)

+++ Gestressten, überarbeiteten ZeitungsredakteurInnen zu sagen: "Heute ist es ja so, dass ein Tageszeitungsjournalist [um] zehn Uhr ankommt, dann vielleicht einen Kaffee trinkt, um zwölf Uhr [ist] die erste Konferenz, und dann wird der Tag angegangen“, kommt in Zeiten von Arbeitsverdichtung, Sparprogrammen und nicht gerade fürstlicher Bezahlung gar nicht gut. Hat Funke-Geschäftsführer Andreas Schoo aber trotzdem gemacht. Bei Übermedien schreibt Boris Rosenkranz über die Reaktionen der Funke-Journalisten und geplante Veränderungen in dem Essener Medienhaus. Über befürchtete Sparmaßnahmen schreibt auch Gregory Lipinski bei Meedia.de.

+++ Hannibal-Recherchen der taz und des Focus über ein mutmaßliches rechtsextremes Netzwerk in der Bundeswehr (siehe Altpapier x und y) sollen nun juristische Folgen haben. SpOn berichtet: "Der Generalbundesanwalt ist bei seinen Ermittlungen zu der angeblichen 'Schattenarmee‘ auf eine Liste mit Namen vermeintlicher politischer Gegner gestoßen. Eine Vertreterin der Bundesanwaltschaft sagte im Innenausschuss des Bundestags, auf der Liste befänden sich auch Namen von Politikern. Wie mehrere Teilnehmer der nicht öffentlichen Sitzung weiter berichteten, wollten Mitglieder des Netzwerks diese Menschen 'zur Rechenschaft ziehen‘.“ Was genau das heißen soll, ist wohl noch nicht klar. Vorsichtig lässt sich allerdings auch in diesem Fall behaupten #RechercheWirkt.

+++ Unter Medien-Nerds löst das wohl in etwa soviel Freude aus wie unter Serien-Nerds eine neue Staffel  "Stranger Things“: Die neuen Predictions for Journalism 2019 sind beim Nieman Lab online gegangen. Nicht alles erweist sich natürlich als haltbar, aber die vielen verschiedenen Blickwinkel sind trotzdem eine gute Einstimmung auf das kommende Medienjahr.

+++ Und wer sich fragt, wo denn die gute alte Zeitung bei all dem Digitalzeugs bleibt: Am Reuters-Insitute hat Jayant Sriram die Rolle der Printmedien in der digitalen Nachrichten-Welt untersucht: "Publishers of the future will, and must, play up the strengths of print for opinion, analysis, long-form narratives and infographics. In the world of 24 hour digital news, newspapers must move beyond the traditional American-style multi-section format approach, with page after page containing news that is already old by the time it reaches the newsstand.” Print bleibe wichtig.

+++ Mehr als ein Viertel der Tweets zum UN-Migrationspakt stammen laut einer Botswatch-Analyse von Social Bots, hatten wir an dieser Stelle am Dienstag berichtet und in Frage gestellt, ob das ein Grund für Alarmismus ist. Hintergründe zur Kritik an den Kriterien der Analyse gibt’s jetzt bei Meedia.de.

+++ In Venezuela sitzt Billy Six, ein Reporter der rechtskonservativen Jungen Freiheit, in einem Militärgefängnis. "Ungeachtet seiner persönlichen Ansichten hat er wie jeder Journalist das Recht, überall frei und ohne Furcht vor Verfolgung und Inhaftierung zu berichten. Deshalb setzt sich Reporter ohne Grenzen für Billy Six ein wie für jeden Journalisten“, fordert die Journalisten-Organisation.

+++ Mit "Der alte Mann auf der Bank" sei "eine ungewöhnliche Animationsfilm-Reihe entstanden, die Geschichtsvergessenheit adressiert und rechte Rhetorik entlarvt“, schreibt Thomas Lückerath bei dwdl.de über die neue Animations-Kurzfilm-Reihe bei dem Pay-TV-Sender „History“.

+++ Wegen unseres frühen Redaktionsschlusses nur kurz als Info: Der Rundfunkbeitrag ist laut Europäischem Gerichtshof rechtmäßig und wird nicht als "unerlaubte staatliche Beihilfe“ gewertet. In einer dpa-Meldung bei Zeit Online gibt’s z.B. mehr Details.

Neues Altpapier gibt’s wieder am Freitag.