Das Altpapier am 27. September 2018 Die neue Schizophrenie
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Warum übernimmt Deutschlands oberster Zeitungsverleger die "Propaganda rechtsnationaler Gruppierungen"? Brauchen wir neue Instanzen für die Aufarbeitung von Medienskandalen? Fehlt der taz der "heilige Zorn"? Ein Altpapier von René Martens.
Falls es Altpapier-Leser gibt, so schwer uns diese Vorstellung auch fällt, die die Kolumne am Dienstag und Mittwoch verpasst haben: n-tv.de liefert aktuell einen Satz, mit dem sich gut in das in diesen beiden Tagen hier Verhandelte einsteigen lässt:
"Vor seiner Berufung als Innenminister diente Herbert Kickl der FPÖ über 20 Jahre als Mann fürs Grobe."
Der von Kickls Ministerium formulierte Angriff auf die Medienfreiheit im Nachbarland hat mittlerweile auch den zuständigen OSZE-Beauftragten auf den Plan gerufen (kontrast.at), und die Forderung, Kickl, pardon, rauszukicken, steht auch im Raum. Rubina Möhring im Press-Freedom-Watchdog-Blog des Standard:
"Nun wird auch international klar, dass Österreich unter der jetzigen Regierung demokratiefeindlichen Jahren entgegenschlittern könnte. Fünf lange Jahre dauert in dieser kleinen Alpenrepublik eine Regierungsperiode. Erst neun Monate sind durchlebt, in denen die jetzige Regierung mit antisozialen, antidemokratischen Maßnahmen schwanger ging. Zuerst wurde der Sozialstaat gekappt, nun geht es den Menschenrechten an den Kragen. Eines dieser Grundrechte aller Menschen heißt bekanntlich Pressefreiheit."
Im Kern lautet die Botschaft:
"Kickl muss gehen, Kurz muss endlich handeln."
Das klingt für mich ein bisschen so, als habe Kurz nicht gewusst, auf wen er sich mit Kickl einlässt, und das kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen. Aber ich bin ja auch kein Österreich-Experte.
Matthias Thieme, der Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse, schlägt einen Bogen zu hiesigen Verhältnissen:
"Auch in Deutschland träumen einige von der Abschaffung der Pressefreiheit. Nachdem die AfD im Hochtaunuskreis von Revolutionen schwadronierte, bei denen Verlage gestürmt und Mitarbeiter auf die Straße gezerrt wurden, versicherte der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland zwar, er hege keinerlei Gewaltfantasien. Aber er stelle es sich schon so vor, dass Chefredaktionen einfach von der Stimmung des Volkes hinweggeschwemmt und durch andere ersetzt würden. Auch hier treibt die Fantasie von der Einschränkung und Inbesitznahme der Medien rege Blüten."
"2021 oder sogar eher!" – für diesen Zeitraum hat der AfD-Bundestagsabgeordnete Andreas Mrosek die Verwirklichung seiner Fantasien terminiert. Auskunft darüber gibt er in einem an den Journalisten Falko Wittig – der für den MDR arbeitet, wo bekanntlich das Altpapier erscheint – gerichteten Droh-Tweet:
"Der Tag wird kommen, an dem Sie als Journalist der Systempresse Fragen beantworten müssen!"
Der von nordhessischen Gesinnungsgenossen des Gentlemans aus Dessau-Roßlau ebenfalls per Twitter formulierte Wunsch, dass sich "Schmierfinken" alsbald "vor einem Tribunal" wiederfinden, ist noch als Screenshot verfügbar.
Döpfners Propaganda
"Waren die Aufwallungen in den Städten – von links wie von rechts – wirklich nicht nur so wichtig wie, sondern noch wichtiger als die Todesfälle an sich?” lautet einer der Sätze aus Mathias Döpfners Rede beim BDZV-Kongress am Dienstag (siehe Altpapier), an die man sich vielleicht noch länger erinnern wird. Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, hat dem Springer-Vorstandschef und BDZV-Präsidenten nun in Form eines Offenen Briefs geantwortet (den meedia.de veröffentlicht hat). Meier ist der Ansicht, Döpfner rede einer "Gefährdung der Demokratie” das Wort:
"Sie beklagen, dass über die Straftaten von Asylbewerbern, Flüchtlingen und anderen Ausländern ausführlicher und mehr auf den Titelseiten der überregionalen Medien berichtet werden solle (…) Dass die Zeitungen zu wenig und zu wenig prominent über die Straftaten von Asylbewerbern, Flüchtlingen und anderen Ausländern berichten würden, ist ein wesentlicher Teil der Propaganda rechtsnationaler Gruppierungen. Und das nicht erst seit dem Aufkommen und dem Erstarken der AfD, der Pegida oder der Identitären Bewegung, sondern im Grunde seit Jahrzehnten. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Seit vielen Jahren belegen Inhaltsanalysen, dass Journalismus das Bild des 'kriminellen Ausländers' und verwandter Stereotype vermittelt. Fremde Menschen werden deutlich überproportional im Vergleich zur Realität als Täter dargestellt. Dies betraf in den 1960er und 1970er Jahren Gastarbeiter und seit den 1990er Jahren Asylsuchende und Flüchtlinge. Und jetzt – insbesondere nach der Silvesternacht in Köln – wählen die Zeitungen erneut vermehrt Ereignisse aus, an denen Ausländer als mutmaßliche Täter beteiligt sind, und sie erwähnen verstärkt die Nationalität von ausländischen Tätern. Sie berichten grundsätzlich mehr über Straftaten – und deutlich öfter und intensiver über die Beteiligung von ausländischen mutmaßlichen Tätern als von deutschen. Die verstärkte Berichterstattung über Kriminalität führt dazu, dass viele Menschen Angst haben, Opfer zu werden. Und das, obwohl die Straftaten in Deutschland auf einem niedrigeren Niveau sind als in den 1990er Jahren."
Das ist – natürlich – richtig, aber – natürlich – weiß Döpfner das alles, zumal die Angstmacherei zu den Kernkompetenzen der in seinem Haus erscheinenden Bild-Zeitung gehört. Interessant ist doch eher, dass Deutschlands oberster Verlagschef jetzt den Zeitpunkt für gekommen hält, ein Bündnis zwischen Elite und Mob vorzubereiten, beziehungsweise mit Menschen zu paktieren, die es sich in der Wahnwelt gemütlich gemacht haben.
Ein neues Gremium braucht das Land
Lorenz Matzat rekapituliert bei der Plattform Medium, dass der sog. BAMF-Skandal sich letztlich als "Presseskandal" entpuppt hat. Das klang hin und wieder auch im Altpapier an, unter anderem in dieser Kolumne im Juni, die Bezug nahm auf einen vom Juristen Henning-Ernst Müller verfassten, bis heute immer wieder ergänzten Blogbeitrag, den nun auch Matzat aufgreift. Er kritisiert:
"Der Skandal ist, dass es eine Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den begangenen Fehlern und seinen Folgen nicht gibt (…) Weder die Folgen für eine Person, die mit einem potentiellen 'Rufmord' (…) durch Verdachtsberichterstattung einhergehen können, noch die absehbaren Konsequenzen – Änderung des Aufenthaltsstatus oder sogar Abschiebung – für tausende Menschen auf der Flucht waren für den Rechercheverbund ein Hinderungsgrund",
und gemeint sind damit die Erstveröffentlicher von Radio Bremen, NDR und Süddeutscher Zeitung. Matzat weiter:
"Wenn (…) neben einzelnen Betroffenen unter dieser fehlerhaften Berichterstattung die gesellschaftliche Debatte gelitten hat, müsste es dann nicht innerhalb der Profession einen Austausch darüber geben, was hier schief gelaufen ist? Der so genannte BAMF-Skandal war ja keine Lappalie: Die sich daraus entwickelnde Dynamik führte fast zum Bruch zwischen CDU und CSU ('Masterplan Integration') (…) Die Glaubwürdigkeit des Journalismus wurde beschädigt. Darüber wird von den Beteiligten schlicht hinweggegangen – eine Auseinandersetzung über die Rückkoppelung des eigenen journalistischen Handels zu gesellschaftlichen Prozessen findet nicht statt."
Matzat weist sodann daraufhin, dass es hier zu Lande an einer Institution oder Instanz fehlt, die solche Fehlleistungen aufarbeitet:
"Blogbeiträge wie dieser hier oder die eher unsystematischen Bespiegelungen der Branche durch Medienjournalisten reichen als Korrektiv allein nicht aus (…) Wer könnte ein Verfahren und ein Gremium organisieren, das nicht als Nestbeschmutzung empfunden wird? Es bräuchte eine Einrichtung, die anders als der Presserat nicht nur aus Branchenangehörigen besteht und auf solidarische sowie fundierte Weise Kritik an Fehlern in der Berichterstattung vor dem Hintergrund ihres gesellschaftlichen Effekts übt."
Wo bleibt der Klassenkampf?
Der 40. Geburtstag der taz war bereits am Mittwoch Thema im Altpapier. Heute berichtet in der taz selbst der Veteran Michael Sontheimer über die Anfangszeit, und die SZ war dabei, als am Mittwoch die Gründer*innen der Zeitung einst die Sonderausgabe zum Jubiläum produzierten. Imre Grimm nimmt den runden Geburtstag zum Anlass, um in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung einen gewissen Wehmut zum Ausdruck zu bringen,
"Es gibt Zeiten, da wünscht man sich den alten, heiligen Zorn zurück",
meint er, und in diesen Zeiten lebten wir gerade. Die taz falle mittlerweile "nicht mehr groß auf". Beziehungsweise:
"Je weiter die Republik jetzt nach rechts rutscht, je weiter die blauen Balken der AfD auf den Wahlgrafiken in die Höhe ragen, desto größer müsste doch eigentlich die Nachfrage nach einem publizistischen Sammelbecken sein für diejenigen, die den stramm rechten Geschichtsklitterern und Wutbürgern den Mut zur Freiheit entgegenhalten. Aber die Wahrheit ist: Die wichtigsten linken Stimmen gegen den ‚scheppernden und beklemmenden Sound von rechts' (taz-Chefredakteur Georg Löwisch) finden sich nicht mehr auf den Lohnlisten der taz."
Mag schon sein, aber wo finden sie sich dann? Finden sie sich, falls diese Korinthenkackerei erlaubt ist, nicht sowieso eher auf Honorar- als auf Lohnlisten? Grimm fragt:
"Ist die taz (…) noch Organ des Klassenkampfes? Oder nur noch Renommierblättchen mit lustigem Titelbild für Ökohipster, deren größte Sorge nicht Nicaragua ist, sondern die Suche nach frischen Pastinaken? So wie der Rolling Stone zum Bewacher der Asche des Rock ’n’ Roll geworden ist, umweht auch die taz etwas Nostalgisches. Sie macht sich gut im Einkaufskorb auf Bauernmärkten."
Wie aber kann denn die taz überhaupt "Organ des Klassenkampfes" sein angesichts dessen, dass dieser so out ist wie nichts anderes derzeit bzw. so out wie noch nie? Ansonsten: Bei vorgestrigen Irgendwas-mit-Ökohipster-Witzeleien bin ich raus. Disclosure: Ich schreibe regelmäßig für die taz.
Widersprüchliche Botschaften
Als eine "der wichtigsten linken Stimmen" kann gewiss Georg Seeßlen gelten, der, um die Korinthenkackerei von eben aufzugreifen, auf gar keiner Lohnliste steht, unter anderem für die taz arbeitet und sich aktuell für die Oktober-Ausgabe von konkret (der Text steht derzeit nicht frei online) mit dem "Niedergang der Printmedien" beschäftigt. Den macht er unter anderem an Folgendem fest:
"Die meisten großen Medien leisten sich – möglicherweise verstehen sie das als demokratisch – ein Nebeneinander von links- liberalen und rechten Mitarbeitern und Contents. Süddeutsche oder Spiegel wirken wie ein absurdes Ineinander von Widersprüchen, als wollten sie zugleich den Rechtsruck der Gesellschaft und den Widerstand der Zivilgesellschaft bedienen. Das geht über die klassische Schizophrenie des bürgerlichen Mediums (reaktionärer Wirtschaftsteil, linksliberales Feuilleton) weit hinaus. Mit dem Qualitätsanspruch wird auch der Leuchtfeuercharakter des Printmediums geopfert. Während die Botschaften der Online-Publizistik immer spezifischer und subjektiver werden, werden die 'Leitmedien' der linearen Kommunikation immer widersprüchlicher."
Das ist im Prinzip fein beobachtet, und Seeßlens Abhandlung lässt sich gut kurzschließen mit der Kritik an der kontraproduktiven sog. Vielfalt, um die es am Montag unter der Überschrift "Eine Zeitung ist kein Roman" im Altpapier ging. Ob die von Seeßlen genannte SZ in diesem Zusammenhang ein besonders gutes Beispiel ist – da bin ich mir gar nicht so sicher, als sporadischer Autor der Zeitung aber vielleicht auch nicht unbefangen.
Altpapierkorb (Meinungsforschungsgauner, Sat 1-"Akte" ohne Meta, Schmerzensgeld für Kachelmann)
+++ Vom Digital News Innovation Fund des Google-Konzerns profitieren deutsche Medienhäuser am meisten – das hat Ingo Dachwitz für netzpolitik.org recherchiert. "Großzügig verteilt der US-Konzern mit der Fördergießkanne Millionen, auf dass die hiesige Medienlandschaft blühe. Und die krisengebeutelten deutschen Presseverlage können bei diesem Angebot einfach nicht ablehnen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, schließlich sparen sie sonst nicht mit Kritik an dem Machthunger des US-Konzerns, der sich nach und nach in jedem Gesellschaftsbereich unentbehrlich machen will. Und so begab es sich, dass im Februar 2016 nur eine Woche zwischen einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Googles kreative Buchhaltung zur Vermeidung von 11 Milliarden Euro Steuern in Europa und einer Pressemitteilung lag, in der die Zeitung ankündigte, als eines der ersten Häuser 500.000 Euro für ein Projekt zur Nachrichtenpersonalisierung von dem Datenkonzern anzunehmen." Ein neues von Google gefördertes FAZ-Projekt habe ich am Wochenende kurz in einem taz-Text erwähnt.
+++ Dass Manuel Campos Sánchez-Bordona, der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dem Gericht in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen hat, "den deutschen Rundfunkbeitrag nicht als rechtswidrige staatliche Beihilfe einzustufen", kritisiert Michael Hanfeld (FAZ) mit der erwarteten Vehemenz. Die kompletten Schlussanträge finden sich hier.
+++ "Deutschland spricht" (Fortsetzung, 1. Teil siehe Altpapier von Dienstag). Adrian Schulz (taz) hält überhaupt nichts von der Aktion, und zwar unter anderem deshalb, weil die hier agierenden "Normalos" "sich dabei doch nur denselben Wortmüll entgegen (schallen), den die Politiker, Tagesschaus und di Lorenzos dieses Landes eh schon ständig von sich geben. Die selige Mitte debattiert darüber, dass sie endlich debattiert, worüber sie schon immer debattiert".
+++ Ebenfalls aus der aktuellen taz-Produktion: ein Artikel über das Meinungsforschungsinstitut Civey, auf dessen Umfragen zum Beispiel Spiegel Online, Süddeutsche Zeitung, Welt, Tagesspiegel und Phoenix Civey liebend gern zurückgreifen. "Fragt man die anderen Institute, fällt das Urteil über Civey böse aus. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen, den man aus dem ZDF als sachlichen Statistiker kennt, spricht plötzlich von 'Bullshit' und 'Scharlatanerie', Forsa-Chef Manfred Güllner nennt die Civey-Leute einen 'gefährlichen Gaunerhaufen'".
+++ Bilder-Rückwärtssuche, Verifikation via Metadaten, Fotoforensik – wie man überprüft, ob "ein Foto oder ein Video, das einen angeblichen Skandal oder eine unglaubliche Geschichte beweisen soll", das ist, was es zu sein vorgibt, verrät Oliver Klein bei Mimikama.
+++ Was bald nicht mehr fehlt: Schmerzensgeld von Döpfners Laden auf Jörg Kachelmanns Konto. 530.000 Euro werden fällig, weil der BGH eine Nichtzulassungsbeschwerde Springers zurückgewiesen hat. Robert Bongen berichtet für "Zapp". Kachelmann selbst sagt: "Der Schmuddelverlag zahlt das zwar alles aus der Portokasse, dennoch ist das Urteil wichtig, weil deutlich wird, dass sich Bild entgegen deren Eigenwahrnehmung nicht außerhalb der Zuständigkeit der deutschen Justiz befindet."
+++ Die Firma Meta Productions, die 23 Jahre lang für Sat 1 die Sendung "Akte" produziert hat, wird dies künftig nicht mehr tun. Das berichtet unter anderem der Tagesspiegel. Die Firma war kürzlich durch einen Deal mit einem Thüringer Neonazi aufgefallen (Altpapier), von dem sich der Sender distanziert hatte.
+++ Für Altpapier-Leser im Raum Hamburg: Im Lichtmeß-Kino ist die Langfassung des Dokumentarfilms "Global Family" zu sehen, der im August in einer kürzeren Version bei Arte zu sehen war. Der Film, der Anfang des Jahres den Max-Ophüls-Preis für den besten Dokumentarfilm bekam, erzählt die Geschichte einer somalischen Familie, die infolge des Bürgerkriegs in ihrem Land über mehrere Kontinente verteilt wurde – und fügt den vielen Filmen über Migration damit eine weitere Facette hinzu.
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.