Das Altpapier am 26. September 2018 Tage wie diese
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Angela Merkel hat eine "Riesen-Klatsche" bekommen, Unions-Fraktionschef Volker Kauder eine "schwere Schlappe" eingesteckt – sein Nachfolger ist ein Mann, der "Mitglied im 1. FC Köln Fanclub des Bundestags" ist: über die aktuelle politische Sportberichterstattung. Und: die Reaktionen auf die Medienbeschränkungsanregung aus dem Wiener FPÖ-Innenministerium. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Würde ich Bingo spielen, hätte ich gestern eines gehabt, als ich die Lausitzer Rundschau las: Da war sie, die "Kanzlerinnen-Dämmerung". Die hatte gerade noch gefehlt.
Die "völlig überraschende" "schwere Schlappe" des "Merkel-Vertrauten" Volker Kauder in der "Kampfabstimmung" gegen den "Revoluzzer" und späteren "Sieger" Ralph Brinkhaus, der eigentlich gar "nicht als Flügelspieler bekannt ist", nun aber zu Kauders Nachfolger als Unionsfraktionschef gewählt wurde, hat gestern zu Aufwallungen im politischen Berlin geführt. Ist Merkel nach dem "Aufstand" der Fraktion, der zu Kauders "Sturz" führte, nun eine "Lame Duck"?
Im Namen der Deutungshoheit war es unter Journalistinnen und Journalisten am Dienstagnachmittag zu regelrechten Rudelbildungen im Bereich der Regale mit den Sportlexika gekommen: Wer findet die schönste Metapher? Gewonnen hat am Ende allerdings dank eines eleganten Tricks die Neue Osnabrücker Zeitung, die einfach im Kochbuch nachschlug:
"Merkel wird künftig mit einer selbstbewussteren Fraktion leben und kleinere Brötchen backen müssen. Noch ist ihr Feuer nicht erloschen. Viel Hitze hat ihr Ofen aber nicht mehr."
Auch die anderen Spatzen aber pfiffen am Ende, schiedsrichter-like, Großes von den Dächern: einen "Angriff auf die Macht", aber auch den "Abschied von der Macht". Denn die Kanzlerin hat nicht nur "verloren", sie hat eine "Riesen-Klatsche" bekommen. Die Unionsfraktion hat ihr die "gelbe Karte" gezeigt, gegen ihren Wunsch Brinkhaus gewählt und damit ein "Mitglied im 1. FC Köln Fanclub des Bundestags". Was für ein "Paukenschlag"!
Der Dienstag wird aber auch deshalb als ein großer Tag für den politischen Sportjournalismus in die Annalen eingehen, weil er seine prophetischen Qualitäten wieder einmal unter Beweis stellen konnte: Hochmotiviert ging es raus auf den Platz, und dann rein mit dem Ding. Das Siegtor erzielte wiederum die Neue Osnabrücker:
"Schon oft ist die Kanzlerinnendämmerung prophezeit worden. Jetzt hat sie begonnen."
Diesmal wirklich. Ganz sicher. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und… Abpfiff. Wir gratulieren: "Trotz aller journalistischen Distanz gehen die Glückwünsche aus Ostwestfalen zum neuen starken Mann der Union".
Und jetzt hübsch ab mit allen Politikjournalistinnen und -en ins Sauerstoffzelt. Das haben sie sich nach großem Kampf mehr als verdient.
Kickl, Pölzl, Zuckerl – die Fortsetzung
Meanwhile in Österreich. In einer Mail aus dem FPÖ-geführten Innenministerium (BMI) an die Pressestellen der Landespolizeidirektionen hatte es, wie gestern im Altpapier berichtet, geheißen, den Beamten werde "vorgeschlagen, die Kommunikation mit 'kritischen Medien'" – genannt wurden der Standard, der Falter und der Kurier – "auf das nötigste Maß zu beschränken'". Diese würden "eine sehr einseitige und negative Berichterstattung über das BMI beziehungsweise die Polizei" betreiben. "Zuckerln wie beispielsweise Exklusivbegleitungen" sollten ihnen nicht ermöglicht werden, "außer es sei eine 'neutrale oder gar positive Berichterstattung' im Vorhinein garantiert" (Spiegel Online).
Dazu gab es im Lauf des Dienstags nun zahlreiche Stellungnahmen, auch aus der österreichischen Regierung:
"Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) übte am Rande der UNO-Generalversammlung in New York Kritik an der vom Innenministerium 'empfohlenen' Info-Sperre gegen kritische Medien. Es dürfe durch Kommunikationsverantwortliche keine Ausgrenzung gewisser Medien geben, betonte Kurz", schreibt der Kurier.
Im Innenministerium ist man seit gestern offiziell auch nicht an einer Einschränkung bestimmter Medien interessiert:
"Der österreichische Innenminister Herbert Kickl hat sich von dem umstrittenen Rundschreiben seines Pressesprechers distanziert", schreibt tagesschau.de. Dieser Sprecher, Christoph Pölzl, könnte – nach einem "klärenden Gespräch" mit Kickl darüber, dass "die Pressefreiheit unantastbar" sei (sueddeutsche.de) – außerdem womöglich ohnehin nur auf der Maus ausgerutscht sein: "Ich bin mir (…) bewusst, dass die Formulierung der kritisierten Passagen ein Fehler war, weil dadurch ein Feld für Interpretationen aufgemacht wurde."
Begeben wir uns damit auf dieses Feld der Interpretationen. Zu deuten gilt es etwa: Inwiefern ist der Innenminister für die "Anregung" aus seinem Haus verantwortlich?
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (S. 5) gewährt dazu einen interessanten Einblick in die Struktur der österreichischen Ministerien:
"In den Wiener Ministerien wird üblicherweise zwischen dem 'Sprecher des Ministers' und dem 'Sprecher des Ministeriums' unterschieden. Die – in Kickls Fall – Sprecherinnen sitzen wie Kommunikationschef Höferl im 'Kabinett', gehören also dem Ministerbüro an, während der für die fachlichen Anfragen zuständige Ressortsprecher" – der besagte Christoph Pölzl also – "weiter unten in der Hierarchie angesiedelt ist und – im Innenministerium – gelernter Polizist ist. Er soll der Verfasser jener Mail gewesen sein, die vor allem einen einheitlicheren Auftritt der Sicherheitsbehörden zum Ziel gehabt habe. Kickl selbst sei 'weder Auftraggeber noch Empfänger dieser Mitteilung'."
Das ist in der Tat wissenswert. Die Frage, ob Kickl – oder auch die Regierung Kurz – somit nichts mit der "Anregung" zu tun hat, ist aber deswegen natürlich nicht entschieden. Die Süddeutsche Zeitung (bzw. sueddeutsche.de in einer Langfassung des Printkommentars) meint:
"Auch wenn Bundeskanzler Kurz nun betont, dass 'jede Einschränkung von Pressefreiheit nicht akzeptabel ist', und sich damit von der FPÖ distanziert: Sie ist nun einmal Teil seiner Regierung. Und auch wenn Herbert Kickl betont, die E-Mail sei nicht von ihm: Es ist nun einmal sein Ministerium."
Unter anderem der "Faktenfinder" von tagesschau.de ordnet die Sache in den Rahmen weiterer Medieneinschränkungsversuche in Europa und den USA durch rechte/autoritäre/illiberale Regierungen ein:
"Der Streit um die Informationspolitik des Innenministeriums in Wien ist nur der jüngste Fall, in dem es um die Pressefreiheit in demokratischen Staaten geht." Beispiele: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán "sprach 2014 von einem illiberalen – einem nicht-liberalen – Staat, den man in Ungarn aufbaue. (…) In Polen brachte die nationalkonservative Regierung öffentlich-rechtliche Medien unter ihre Kontrolle und erhöhte den Druck auf private Medien."
Die FAZ (S. 8) findet die Angelegenheit allerdings alles in allem etwas aufgeblasen:
"Der Versuch, Medien zu gängeln, ist in einem Rechtsstaat inakzeptabel. Gut, dass Kanzler Kurz das gleich klargestellt hat. Aus der aufgeregten Blase, in der jetzt gleich 'Goebbels' ventiliert wird, als sei auch Pawlow ein Wiener gewesen, darf trotzdem Luft gelassen werden. Dass bei der Vergabe von Interviews darauf geschaut wird, ob das Medium einem gewogen ist, hat es in Wien auch früher unter anderen 'Farben' gegeben, und übrigens auch in Bonn und Berlin."
Das stimmt sicher – nur geht es in der "Anregung" aus dem Ministerium nicht nur um Interviews, sondern um die gesamte Informationspolitik. Außerdem ist der einzige redaktionelle Text, den Google News aktuell ausspuckt, wenn man "kickl goebbels" sucht, ein Verweis auf den FAZ-Kommentar. Kein Mensch hat "Goebbels" ventiliert, es wurde vielmehr "Orbán" als Vergleichsgröße herangezogen, was ein Unterschied ist, den man gerade dann wahrnehmen könnte, wenn man dabei ist, sich von "aufgeregten Blasen" abzugrenzen.
Falter-Chefredakteur Florian Klenk sagt im Interview mit Zeit Online (der früheren Redaktion von Standard-Chefredakteur Martin Kotynek):
"Wir bekommen praktisch keine Antworten mehr auf unsere Anfragen. Ich dachte am Anfang erst, diese Verzögerung sei einer gewissen Unprofessionalität des neuen Teams geschuldet. Aber es zeichnet sich ab, dass auch andere Journalisten keine Antworten mehr bekommen. Was wir hingegen bekommen, sind ständige Inszenierungen des Innenministers. (…) Ein österreichischer Kabarettist hat es ganz treffend gesagt: Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht."
Die neue Dimension, laut Klenk:
"Was hier nun passiert, ist ein Zugriff auf die Informationen des Ministeriums in politischer Absicht. Das ist eine Entwicklung, die neu ist und die in Österreich die Journalisten sehr beunruhigt. (…) Das Bedrohliche ist für mich weniger die Einschränkung der Pressefreiheit der kritischen Medien, sondern die ostentative Belohnung der willfährigen Medien. Dieser 'Zuckerl'-Journalismus ist das freundliche Gesicht einer illiberalen Politik, in der die Braven belohnt werden."
Als "die Braven" war in der Mail an die Polizeipressestellen die Serie "Live PD" über den Polizeialltag genannt worden, die 2019 auf dem Sender ATV ausgestrahlt werden soll. "Jede Folge wird abgenommen und geht erst nach positiver Abnahme auf Sendung", hieß es.
Die ATV-Geschäftsführung hat sich davon nun distanziert:
Aus rechtlichen Gründen des Personenschutzes sei bei "LivePD" zwar "ein geordneter und korrekter Ablauf mit der Polizei einzuhalten um die erforderliche Sensibilität (Täter- und Opferverpixelung) sicherzustellen". Aber: "Die endgültige redaktionelle Verantwortung der Sendungen liegt ausschließlich bei ATV. Auch bei dieser geplanten Sendung wird sich daran nichts ändern, auch wenn es womöglich MitarbeiterInnen des Innenministeriums vielleicht gerne anders gestaltet hätten. Im Falle eines versuchten redaktionellen Eingriffs, würde ATV die Produktion einstellen."
Das ist der Stand. Mehr an dieser Stelle, wenn es einen neuen gibt.
Altpapierkorb (BDZV-Kongress, "Kruso"-Verfilmung, 40 Jahre taz)
+++ Wir dürfen das Steckenpferd unseres MDR360G-Kollegen Steffen Grimberg nicht vergessen: In seiner Bewegtbildkolumne beschäftigt er sich mit "Friede, Freude, Eierkuchen" beim Kongress des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger zwischen Verbandspräsident Mathias Döpfner und dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm: "Die alten Schlachten sind geschlagen und werden kaum erwähnt. Dafür kündigt der Verlegerpräsident den ARD-Vorsitzenden höchstpersönlich an. Und Ulrich Wilhelm schlägt die ganz große Zusammenarbeit vor."
+++ Meedia findet, Mathias Döpfner habe in seiner Rede einen "Hallo-Wach-Ruf an die Journalisten" gesandt. In der Berichterstattung über #Chemnitz und #Köthen habe er sich "'nicht immer gut informiert gefühlt (…) Und ich bin mir nicht sicher, ob das Prinzip Zeitung in allen Fällen seiner Verpflichtung zur Wahrheit gerecht geworden ist', so der Springer-CEO, in dessen Verlag die Tageszeitungen Bild und Welt erscheinen. 'Waren die Aufwallungen in den Städten – von links wie von rechts – wirklich nicht nur so wichtig wie, sondern noch wichtiger als die Todesfälle an sich?' Die Antwort ließ er offen." Wobei, sind rhetorische Fragen nicht eigentlich Antworten?
+++ Mehrfach besprochen wird die ARD-Verfilmung von Lutz Seilers Roman "Kruso" durch Ufa Fiction und MDR (wo auch das Altpapier erscheint). Die SZ verlegt sich auf eine Nacherzählung mit einer kleinen Schlusseinschätzung: "Dabei zuzusehen ist bedrückend und befreiend zugleich." Die FAZ ist weniger angetan: "In hundert Minuten wirkt fast alles gequetscht, sind gut und aufwendig konzipierte Szenen immer schon vorbei, wenn sie gerade erst angefangen haben. (…) So sieht man sich zwischen überraschenden Regie-Einfällen (ein Gespräch kippt plötzlich in eine Art Musikvideo zu dem schönen Silly-Lied 'Bataillon d'Amour') oft hin und her gerissen, ohne sie angemessen aufmerksam würdigen zu können. (…) Der Ton ist stellenweise katastrophal." Der Tagesspiegel dagegen meint: "Die Verfilmung (Regie: Thomas Stuber, Buch: Thomas Kirchner) geht erfolgreich gegen alle Überhöhung an. (…) Was im 100-Minuten-Film auf der Strecke bleiben muss, Eds Vorgeschichte in Leipzig und den Epilog mit der Erkundung einer surrealen Sammlung von Überresten der in der Ostsee ertrunkenen anonymen Flüchtlinge, kann man verschmerzen. Die Fernseh-Inszenierung gibt dem Romanstoff eine bezwingende jugendliche Unschuld zurück."
+++ Und das Neue Deutschland schreibt über die taz, die in diesen Tagen 40 wird: "Galt in den 80ern ein kämpferischer Subjektivismus noch als Ausdruck von 'Gefühl und Härte', um nicht 'bessere Zeitungen', sondern bessere Zeiten durchzusetzen, verloren sich die meisten 'taz'-Autoren ab den 90ern in einem verkrampften Objektivismus, der sich keinen Begriff mehr von einer anderen Gesellschaft machen konnte oder wollte. (…) Zwar werden in der Zeitung bis heute die individuellen Freiheitsrechte verteidigt, aber ohne jede gesellschaftlicher Fantasie".
Frisches Altpapier kommt am Donnerstag.