Das Altpapier am 25. September 2018 Im Zweifel für den Zweifel
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"Deutschland spricht": Gehört die Bereitstellung einer Infrastruktur für politischen Streit, eine Dating-Plattform gewissermaßen, zukünftig zu den Funktionen von Massenmedien? In Österreich empfiehlt das Innenministerium, kritischen Medien kein Zuckerl mehr zu geben. Die "Tagesthemen" vergreifen sich im Sound. Und auf "Hart aber fair" ist Verlass. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Inhalt des Artikels:
"'Sollte Deutschland seine Grenzen strikter kontrollieren?', lautet die erste Frage. Sandig hat sie online mit 'Ja', Geyer mit 'Nein' beantwortet. Im Gespräch wird schnell klar, dass es nicht so einfach ist."
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich mag Sätze, in denen die Wortkombination "nicht so einfach" auftaucht. Mit zumindest einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich um einen Beitrag, in dem zumindest keine ganz große These geschwungen wird, sondern um einen, der im Zweifel den Zweifel zulässt. Der obige Satz steht in der Zusammenfassung (sueddeutsche.de) eines Gesprächs, das im Rahmen der Reihe "Deutschland spricht" am Wochenende stattgefunden hat.
"Zwei sich bislang fremde Menschen treffen für zwei, drei, vielleicht mehr Stunden aufeinander und damit auf eine Person, die die Welt völlig anders sieht. Sieben Ja-Nein-Fragen haben (sie) dafür beantwortet" und weitgehend oder vollkommen "gegensätzlich beantwortet", so fasst Zeit Online (wo man die ganze Sache vor einiger Zeit erfunden hat) die Aktion zusammen, in deren Rahmen sich "bundesweit 9.000 Menschen" (@mediasres vom Deutschlandfunk), "etwa 4300 Duos" (tagesschau.de), "mehr als 8.000 Menschen im ganzen Land" (zeit.de) getroffen haben – es ist wohl nicht so einfach mit den Zahlen. Zusammenfassungen ausgewählter Gespräche gibt es auch etwa bei spiegel.de und tagesschau.de. Sascha Lobo und Harald Martenstein haben sich einem Foto nach auch nicht gehauen.
Die Frage, die sich förmlich aufdrängt, ist: Gehört die Bereitstellung einer Infrastruktur für politischen Streit, eine Dating-Plattform gewissermaßen, zukünftig zu den Funktionen von Massenmedien – als verbesserte Variante der Online-Kommentarfunktion quasi, die man mittlerweile, bei aller Liebe zum auch schriftlichen Austausch teilweise hingepfuschter Argumente, insgesamt wohl doch als zumindest umstritten betrachten kann?
In ihrer Bedeutung für den Gesamtdiskurs überschätzen sollte man die Treffen von 8000, 8600 oder auch 9000 Menschen zwar wohl sicher nicht. Aber allein für die Erkenntnis, dass ein persönliches Face-to-face-Gespräch offensichtlich seltener in Festgefahrenheit und Beleidigungen mündet als ein schriftlicher Austausch über die Bande eines Kommentarforums, hat sich die Aktion doch schon gelohnt. Alles, was Leute, die am Gesellschaftsgespräch teilzunehmen bereit sind, gerade nicht müde macht, kann jedenfalls so schlecht nicht sein. (Offenlegung: Ich arbeite frei für die beteiligten Medien Zeit Online und Spiegel Online, aber kann das Ganze trotzdem partout nicht schlecht finden.)
Sorry, was?
Was dagegen schon etwas müde macht: die Tatsache, dass die "Tagesthemen" ihren Eröffnungsbeitrag über die Entschuldigung der Bundeskanzlerin dafür, wie auch sie die Affäre Maaßen gehandhabt hat, am Montagabend mit der Songzeile "Sorry is all that you can’t say" aus einem Tracy-Chapman-Song unterlegte (Minute 0:52, Minute 3:52). Wenn man das Theater der Regierungsparteien um die Absetzung, Beförderung, Umgruppierung, Whatever des Verfassungsschutzchefs in den Bereich der Unterhaltung verschiebt, wird das Theater nicht eingeordnet, sondern potenziert.
Medienkontrolle à la FPÖ
Meanwhile in Österreich. Dort gibt es Neues von der Front der Einseitigkeitskritiker. Kritik an der vermeintlichen Einseitigkeit von Journalisten hat es auch in Deutschland schon gegeben (Altpapier), hier aber sind die Kritiker nur aufgesprungen auf einen Zug, der aus Österreich angerollt kam – dem Land, in dem die Partei der Einseitigkeitskritik, die FPÖ, nicht nur den politischen Diskurs versaut, sondern mitregiert.
In Österreich sollte Journalisten des öffentlich-rechtlichen ORF in diesem Jahr bereits "öffentliche Äußerungen und Kommentare in sozialen Medien" untersagt werden, "die eine voreingenommene, einseitige oder parteiische Haltung zum Ausdruck bringen" (Altpapier). FPÖ-Vizekanzler Norbert Steger hat zudem gedroht, es würden, sollte er was zu sagen haben, ein Drittel der Auslandskorrespondenten gestrichen, "wenn diese sich nicht korrekt verhalten", also "zu einseitig" berichten würden (Altpapier).
Nun hat das von FPÖ-Mann Herbert Kickl geführte Innenministerium seinen Auftritt:
"(W)as sich nun im Innenministerium (…) abspielt, ist ein Frontalangriff auf die Medienfreiheit", schreibt Der Standard. "In einer Mail an die Polizei wird den Beamten 'vorgeschlagen', die Kommunikation mit 'kritischen Medien' (…) auf das nötigste Maß zu beschränken’. Das Schreiben ist wohlgemerkt keine Weisung, sondern eine 'Anregung'."
Die kritischen Medien, die gemeint sind, sind nach übereinstimmenden Angaben: Standard, Kurier und Falter. Mehr hat deutscherseits Spiegel Online, wo aus dem Schreiben des Ministeriums zitiert wird:
"Leider wird wie eh und je seitens gewisser Medien eine sehr einseitige und negative Berichterstattung über das BMI beziehungsweise die Polizei betrieben (…). Man erlaube sich 'vorzuschlagen, die Kommunikation mit diesen Medien auf das nötigste (rechtlich vorgesehene) Maß zu beschränken und ihnen nicht noch Zuckerln wie beispielsweise Exklusivbegleitungen zu ermöglichen', schreibt das Ministerium weiter – außer es sei eine 'neutrale oder gar positive Berichterstattung' im Vorhinein garantiert."
Das Besondere an der Neutralität, wie sie hier gemeint ist, ist freilich, dass sie sich selber ausschließt. Das aus Ministeriumssicht positive Beispiel spricht Bände:
"Als beispielhaft wird eine neue Serie mit dem Titel 'Live PD' erwähnt, die ab Januar 2019 auf dem Sender ATV ausgestrahlt wird, in dem der Polizeialltag gezeigt wird. 'Jede Folge wird abgenommen und geht erst nach positiver Abnahme auf Sendung', heißt es."
Auf gut deutsch: Der Journalismus, den man "zu beschränken" gedenkt, ist im Gegensatz zu dem Journalismus, der hier gutgeheißen wird, tatsächlich Journalismus. Der Journalismus dagegen, der "nicht einseitig" genannt wird, ist genau das: einseitige Hofberichterstattung. Es ist zum Haareraufen, dass ein Innenminister damit durchkommen könnte.
Wobei: Er war’s eigentlich überhaupt nicht, schreibt die Kommunikationsabteilung des Ministeriums. "Tatsächlich war der Innenminister weder Auftraggeber noch Empfänger dieser Mitteilung". Woraus die Ministeriumssprecher dann schließen, dass die These, bestimmte Medien – nämlich die genannten kritischen – seien voreingenommen, zutreffend sei. Sonst hätten die ja wohl nicht geschrieben, die Mail aus dem Innenministerium habe – "Kickls brisante Medienkontrolle" – etwas mit dem Innenminister zu tun.
Es gibt Dinge, die sind nicht so einfach. Und es gibt Dinge, die sind in sich sehr verdreht, aber trotzdem sehr einfach. In diesem Fall handelt es sich um letzteres.
Verlässlichkeit ist alles
Kleiner Rausschmeißer: Vor einem Jahr war Bundestagswahl, und wollen Sie wissen, worüber wir seinerzeit tags danach im Altpapier schrieben? Über die Frage, ob "die Medien", speziell Talkshows, die AfD erst groß gemacht hätten, eine Frage, die von Politikern und Journalisten gleichermaßen aufgebracht worden war.
Am Montagabend nun gab es bei "Hart aber fair" eine Art Jubiläums-Talk mit dem Titel "Ein Jahr nach der Wahl: Verstehen die Bürger diese Regierung noch?" Darin ging es auch um den weiteren Aufstieg der AfD in Umfragen. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sagte, die Partei profitiere von Abstiegsängsten – auch deshalb, weil Deutschland "Angstweltmeister" sei; ständig gebe es Krimis und "apokalyptische Talkshows" im Fernsehen.
Sage also noch einer, die Welt sei nicht verlässlich.
Altpapierkorb
+++ Jörg Thomann geht in der FAZ einer etwas kuriosen Geschichte nach: "Vor drei Jahren ist Eberhard Storeck gestorben. Oder nicht? Für die Wikipedia lebt er weiter." Es geht um die Wikipedia-Debatte über die Frage, ob der Synchronsprecher, der nicht nur den Willi in "Biene Maja" sprach, bereits verstorben ist oder nicht.
+++ Die SZ interviewt Regisseur Cary Fukunaga, der den nächsten "James Bond" dreht, aber – deshalb wohl auf der Medienseite – "True Detective" und eine Netflix-Serie hinter sich hat.
+++ Serdar Somuncu spricht im Tagesspiegel-Interview über die vermeintliche "Verlogenheit" von Politikern, aha soso, und sagt über die Einladungspraxis zu seiner Talkshow "So! Muncu!": "Die meisten Politiker scheuen eine Auseinandersetzung, die für sie und ihre Umfragewerte unberechenbar ist. Deshalb meiden sie gerade im Umfeld solcher Ereignisse einen Besuch bei jemandem, der unangenehme Fragen stellt. Unsere Sendung ist dafür da, diese Verlogenheit aufzudecken. Wäre Politik ehrlich, müssten wir unsere Sendung nicht machen."
+++ Susanne Gaschke, Journalistin und ehemalige Kieler SPD-Bürgermeisterin, regt sich in der Welt über "Das Parlament" in leichter Sprache auf: Die Beilage "drückt komplizierte Dinge nicht einfach, sondern dumm aus." Sie findet sie "abstrakt-dozierend"; sie rege "diejenigen auf, für die sie nicht gemacht ist, und dürfte an all jenen vorbeigehen, die sie politisch bilden will". Ich habe nach der Lektüre ihres Kommentars und der Beilage leider keine Ahnung, warum sie das meint.
Frisches Altpapier kommt am Mittwoch.