Das Altpapier am 31. August 2018 Kalkulierte Aktualität
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Die "Brennpunkte" der ARD bleiben problematisch, auch wenn sie gesendet werden. Über Menschenrechte gibt es keine ausgewogene Berichterstattung. Klaus Brinkbäumer antwortet nicht. Ciao Hansemann. Was hat "Fidschi" im Duden zu suchen? Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Zu sagen, Robert Burdy sei enttäuscht gewesen, wäre zu zynisch. Aber irgendwie wollten seine pathetischen Anmoderationen im vom MDR verantworteten "Brennpunkt" im Ersten gestern Abend nicht zu dem passen, was in Chemnitz dann wirklich passierte – im Vergleich zu den Eskalationen der vergangenen Tage nämlich nicht so viel.
"650 Menschen nahmen letztlich an dem Bürgergespräch (mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, CDU, Anm. AP) teil – bei der in der Nähe stattfindenden Demo waren es 900, so die Polizeidirektion Chemnitz am Abend.
Bis gegen 21 Uhr registrierte die Polizei acht Straftaten. Dabei handelt es sich um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen",
livetickerten die Dresdner Neuesten Nachrichten als Lokalzeitung vor Ort.
Als Menschen, denen man ihre nicht-deutsche Herkunft ansieht, durch die Straßen der Stadt gehetzt und verprügelt wurden von anderen Menschen, die zudem Nazi-Parolen brüllten und den Hitler-Gruß exhumierten, sah die ARD keinen Anlass, eine Sondersendung zu zeigen und hatte dafür massiv Kritik kassiert (Debatte s. Altpapier).
Gestern wollte sie es besser machen und verkündete per Pressemitteilung schon nachmittags:
"Aus aktuellem Anlass ändert Das Erste heute, am 30. August 2018, sein Programm und strahlt um 20:15 Uhr einen 10-minütigen ,Brennpunkt' vom MDR aus (…). Heute besucht der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seinem Kabinett die Stadt zu einem Bürgerdialog und wieder sind Proteste angekündigt. Der 'Brennpunkt' zeigt mit Beiträgen, Live-Schalten und Expertengesprächen die aktuelle Situation und fragt nach den Hintergründen der Entwicklung."
Doch dann blieb es in Chemnitz verhältnismäßig ruhig, und der Erkenntnisgewinn – über alles in den vergangenen Tagen zur generellen Problematik Veröffentlichtes hinaus – blieb gering.
Drei mögliche Lehren daraus:
- Aktualität kann man nicht planen und sollte es daher auch nicht. Der gottverdammte Job von Journalisten ist es allerdings, mit dieser Unsicherheit umzugehen, spontan, jeden Tag.
- Wenn die Anberaumung eines "Brennpunkts" so eine riesige Sache ist: Warum lässt die ARD es nicht einfach sein und verlängert alternativ je nach Bedarf die "Tagesschau", die die Ressourcen und fähiges Personal für die (s. 1) erforderliche Spontanität hat und mit deren Inhalten sich die ollen "Brennpunkte" eh immer doppeln?
- Was sich die ARD selbst (Offenlegung: unter deren MDR-Dach ja auch diese Kolumne erscheint) wohl lieber denkt: Wie man's macht, macht man's verkehrt.
Nicht-Berichten ist auch keine Lösung
Zugegebenermaßen: Letzteres Fazit zu ziehen, dafür bietet sich für alle Journalismus Betreibenden derzeit genügend Gelegenheit.
In seiner evangelisch.de-Kolumne über die sächsischen Keyword-Städte Chemnitz und Dresden und den medialen Umgang damit kommt Altpapier-Kollege Christian Bartels zu dem Schluss:
"Einerseits hat Ministerpräsident Kretschmer, der sich inzwischen übrigens offensiv Journalistenfragen stellt, geäußert, 'neben der bundesweiten Mobilisierung sei Chemnitz auch 'durch überregionale Berichterstattung' für Extremisten attraktiver und interessanter geworden' ('Tagesspiegel'). Andererseits aber hatte am Sonntag, an dem die Eskalation begann, das wichtigste deutsche Nachrichtenmedium, die ARD-'Tagesschau', mit keinem Wort über den Ausgangspunkt, die gewaltsame Tötung eines Chemnitzers mutmaßlich durch Flüchtlinge berichtet – obwohl zu dem Zeitpunkt bereits ein Stadtfest mit tausenden Besuchern abgebrochen worden war und Meldungen darüber in allen Nachrichtenportalen im Netz ganz oben standen. Ist damit nicht eher belegt, dass Nichtberichten gegen Eskalation nicht hilft – sondern allenfalls denen, die die freien Medien ohnehin attackieren?"
Auf der Medienseite der FAZ (€) erklärt Michael Hanfeld derartige Themen-Ignoranz zu bewussten, politischen Entscheidungen.
"Meines Erachtens gibt es bei uns im Journalismus den Reflex, Themen zu umgehen, die den Rechten 'nutzen' könnten. Das hält man dann für Haltung",
erklärt er der von ihm interviewten Chefredakteurin des WDR, Sonia Seymour Mikich, die wiederum entgegnet:
"Stimmt, man gerät in ein Dilemma. Ich bin gegen jedes Ausblenden von Themen, nur weil es jemandem 'nutzen' könnte. Nur: Es gibt keine Ausgewogenheit in Sachen Menschenrechte, Frauenverachtung oder Klimawandel. Es gibt rote Linien, die man nicht übertreten darf. Was ich nicht mag, ist, wenn Journalisten dogmatisch werden, den 'moral highground' beanspruchen und anderen sagen, was sie meinen und wie sie fühlen sollen. Journalisten sollten nüchtern, analytisch und multiperspektivisch an die Sachen herangehen. Und bei wesentlichen Dingen Haltung zeigen. (…) Im Journalismus geht es darum, die Demokratie zu schützen."
Um es anders dramatisch auszudrücken: Die zentrale Erfahrung von Journalisten in Deutschland im Umgang mit sich ausbreitendem Rechtsextremismus endete damit, dass es keinen Journalismus mehr gab. Wie soll es da heute keine a) eindeutige Haltung gegen derartige Tendenzen, damit aber auch b) große Unsicherheit in der Berichterstattung darüber geben? Zumal ja nicht einmal klar ist, was "rechts" eigentlich bedeutet und ab welchem Maße es für die Demokratie problematisch ist (s. wiederum Altpapier). Und angesichts der Tatsache, dass sich gewisse Kreise eh in einem Nachrichtenparalleluniversum bewegen, in der nur noch Glaube und Fanatismus zählen, wie ein unfassbar gruseliger, aktueller Beitrag der Faktenfinder der "Tagesschau" zu den Chemnitzer Ereignissen darlegt.
Noch ein weiterer Gedanke, der hier passt, auch wenn es in dem Artikel des Soziologen Dirk Baecker von der Uni Witten/Herdecke in der aktuellen Ausgabe epd medien eigentlich um die Kritikfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems geht (derzeit nicht online):
"Selbst wenn der Rundfunk das hohe Lied der Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit singt, kann die Art und Weise, wie dieser Vielfalt Rechnung getragen wird und wie diese Ausgewogenheit hergestellt wird, immer noch als Propaganda gelten: als Propaganda zugunsten einer Vielfalt, die es nicht erlaubt, sich auf einzelne Probleme mit der ihnen gebührenden Radikalität einzustellen."
Wie schreibt Christian Bartels in seiner Kolumne noch?
"Es bleibt enorm kompliziert."
Klaus Brinkbäumer gibt ein Interview nicht frei
Im direkten Vergleich als thematische Petitesse erscheint es dagegen, wenn der Noch-Chefredakteur eines großen, deutschen Nachrichtenmagazins ein Interview im Prozess der Autorisierung komplett zurückzieht. Genau das hat Klaus Brinkbäumer nach einem Gespräch mit Planet Interview gemacht, wie Jakob Buhre nun veröffentlicht und bei der Gelegenheit problematisiert hat. Er schreibt:
"Wie wollen deutsche Medien noch ernsthaft die Einschränkung der Pressefreiheit zum Beispiel in der Türkei kritisieren, wenn einflussreiche deutsche Medienmacher genau diese Pressefreiheit mit Füßen treten, wenn es um ihre eigene Person geht?
Ich habe es in zwei Fällen erlebt: Nikolaus Blome schwärzte 40 Prozent unseres Gespräches, Brinkbäumer streicht alles. Ich bin nur ein winziger Journalist, der online und in ein paar Magazinen und Tageszeitungen veröffentlicht. Aber Blome und Brinkbäumer, das sind wahrlich keine unbedeutenden Figuren in der deutschen Presselandschaft, sondern Vertreter aus der Chefetage viel gelesener Nachrichten-Medien. Ihre Verantwortung ist ungleich größer, ihr Handeln hat Vorbildcharakter."
Recht hat er. Allerdings gibt es, wie immer, eine zweite Seite, die der plötzlich nicht mehr schweigsame Brinkbäumer selbst via Twitter verbreitete:
"Das ist dann doch etwas billig. Ich erlebe gerade eine vermutlich kurze Phase, in der ich aus juristischen Gründen keine Interviews gebe (oder freigebe). Unglückliche Umstände eben, die Herr Buhre kennt; und er kennt auch meine Entschuldigung."
Nun bin ich noch nie geschasster Spiegel-Chefredakteur gewesen, kann mir aber vorstellen, dass dies rechtlich einige Komplikationen mit sich bringt. Allerdings gibt Buhre an, eine Variante des Interviews zur Veröffentlichung angeboten zu haben, in der es nicht um das Nachrichtenmagazin, sondern ausschließlich um Brinkbäumers Buch "Nachruf auf Amerika" gegangen sei. Und selbst wenn das auch problematisch sein sollte – dann hat Brinkbäumer genau das scheinbar nicht gut erklärt. Oder Buhre es nicht richtig verstanden.
Kommunikationsprofis, die es nicht schaffen, miteinander zu kommunizieren. Weniger problematisch wird's heute wohl nicht mehr?
Hans Beimer verabschiedet sich
Nein, wahrlich nicht. Denn am Sonntag verlässt zu allem Unglück on top auch noch Hans Beimer die "Lindenstraße".
"Wenn ich das, was Hans Beimer in seinem Leben alles durchgemacht hat, selbst hätte erleben müssen, müsste ich eigentlich einmal die Woche beim Psychiater auf der Couch sitzen. Mindestens",
erklärt Schauspieler Joachim H. Luger im Interview mit Carolin Gasteiger für die Medienseite der SZ.
"Vielen 'Lindenstraße'-Verächtern werden die Infos egal sein. In TV-Soaps kommen und gehen Leute. So einfach ist das aber nicht (…). Immer noch schalten rund drei Millionen Fans Sonntag für Sonntag kurz vor sieben ein, um am Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie teilzunehmen." (Markus Ehrenberg, Tagesspiegel)
Zum Abschied wird das WDR Funkhausorchester live die Filmmusik einspielen (Pressemitteilung des WDR), und dann wird Hans, nachdem er Bennys Tod, Annas Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung, Parkinson, Hanf-Zucht und nicht zuletzt die Scheidung von Helga und ihren Spiegeleiern überlebte, sterben. Nur um sicherzugehen, dass er nicht irgendwann wieder zurückkehren muss.
So ist das im Showgeschäft. Auch nicht schön.
Altpapierkorb (Tolu und Yücel, Dumonts Ex-Korrespondenten, "Der Schwarm" als Serie)
+++ Gerade erst hat man ihr die Ausreise erlaubt, nun will Mesale Tolu im Oktober zu ihrem Prozess in die Türkei zurückkehren (Der Standard). Deniz Yücel verklagt derweil die Türkei auf Schadenersatz für seine Zeit in Haft (taz). By the way: #FreeThemAll!
+++ Hallo? Hallo?! Noch jemand da, der bei Dumont was mit Journalismus macht? Bald nicht mehr, denn nach den Hauptstadt- werden nun auch die Auslandskorrespondenten entlassen (Ulrike Simon, Spiegel+).
+++ Andererseits ist das Einsparen von Korrespondenten ein allgemeiner Trend: "Während Medienhäuser aus aller Welt früher ganz selbstverständlich einen Korrespondenten in Berlin hatten, gibt es heute nicht selten nur noch einen Journalisten, der von London oder Paris aus über ganz Europa berichtet" (Phoenix-Chef Helge Fuhst im Interview mit dem ehemaligen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen und Alexander Krei von DWDL anlässlich des 65. Geburtstags des "Internationalen Frühschoppens").
+++ An die Einstellung der Frankfurter Zeitung am 31. August 1943, also vor genau 75 Jahren, erinnert in der FAZ (€) Reinhard Müller. "Der Name Hitlers wurde in der Zeitung so selten wie möglich erwähnt. Stattdessen bezeichnete ihn die Redaktion zunächst stets als 'Führer und Reichskanzler'. Damit sollte an Pflichten aus Recht und Gesetz erinnert werden."
+++ Wie landet ein rassistischer Begriff wie "Fidschi" im Duden? Das hat Anh Tran für Übermedien Kathrin Kunkel-Razum, die Leiterin der Duden-Redaktion, gefragt.
+++ Den Mann, der die Welt als @drguidoknapp bei Twitter mit kuriosen Geschichts-Geschichten versorgt, hat Altpapier-Kollege René Martens für die taz interviewt.
+++ "Ein dystopischer Öko-Thriller, den man auch als Science-Fiction-Geschichte beschreiben könnte, ist ein Genre, das man vielleicht eher Netflix oder Amazon zugetraut hätte als der Heimat des 'Bergdoktors'. Aber es ist in der Tat das ZDF, das mit Frank Schätzing zusammen eine deutsche Science-Fiction-Serie realisiert." (Thomas Lückerath bei DWDL über die Pläne des ZDF, aus "Der Schwarm" eine Serie zu machen.)
+++ No Billag ist überstanden, nun müssen die Öffentlich-Rechtlichen in der Schweiz sparen (Der Schweizer Journalist Thomas Wagner im Gespräch mit Sebastian Wellendorf bei Deutschlandfunks "@mediasres").
+++ Was Youtube löscht: Den Trailer zur bei Arte gelaufenen Dokumentation "The Cleaners" über Social-Media-Aufräumtrupps in Manila (W&V). Was Youtube nicht löscht: Videos, in denen Essgestörte die Magersucht glorifizieren (Zeit Online).
Frisches Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!