Das Altpapier am 28. August 2018 Ein Hauch von Apokalypse
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Liveblogs der Freien Presse und der ARD-"Tagesschau", Lob für Sachsens Polizei und Kritik an der "Bild"-Zeitung, "Pimmel mit Ohren" und in den Morgen-Newslettern ein kleiner Hauch von Apokalypse: Nach holprigem Start gibt es #Chemnitz-Berichterstattung in allen Formen auf allen Kanälen. Unterdessen werden die größten Medienkonzerne der Welt immer noch größer. Rupert Murdoch dürfte stärkster Mann bei Disney werden. Ist die ARD auch so ein Top-Medienkonzern? Ein Altpapier von Christian Bartels.
"Was passierte am Sonntag in Chemnitz?" fragte die ARD-"Tagesschau" am gestrigen Montag um 13.45 Uhr und setzte in ihrem Internetauftritt einen "Liveblog zum Nachlesen" auf, "der als Eilmeldung über die 'Tagesschau'-App verbreitet wurde" (Tagesspiegel). Nachdem die "Tagesschau" am Sonntag in ihrer Hauptausgabe die vielfältigen Ereignisse dort mit keinem Sterbenswörtchen und in den auf "Tatort" und Talkshow folgenden "Tagesthemen" "dann ... kurz" behandelt hatte (Altpapier), gab es am auch nicht ereignisarmen folgenden Tag dann also einen von unten nach oben aktualisierten, erst kurz vor Mitternacht beendeten "Liveblog". "Innerhalb einer Viertelstunde wurden die ersten vier Berichte abgesetzt", zeigte sich der Tagesspiegel beeindruckt.
Gleich als zweiter Post fünf Minuten nach Start wurden die deutlichen Worte zitiert, mit denen Bundesregierungssprecher Steffen Seibert die "Hetzjagden" in Chemnitz kritisiert hatte – quasi in Echtzeit, nachdem er sie getwittert hatte. Der Vorwurf, Aussagen der Bundesregierung wenig Raum zu geben, wäre freilich auch der allerungerechteste, den jemand der "Tagesschau" machen könnte. (Eher könnte Seibert sich, falls in ihm auch noch ein bisschen das Herz eines Nachrichtenmoderators schlägt, über den breiten Raum gewundert haben, den die "Tagesschau" am Sonntag trotz allem, was sonst noch passiert ist, seiner Chefin und ihrem Regierungspartner gab...)
Der tagesschau.de-Liveblog zeigt jedenfalls, dass eine häufig beklagte Schwäche der ARD, ihr krasser Föderalismus, berichterstatterisch auch eine Stärke sein kann, weil die ARD eben auch jenseits der Medienmetropolen kompetentes Personal hat. Zum Beispiel war es wohl der MDR, der dort (15.24 Uhr) als erster berichtete, dass der am Sonntag in Chemnitz von Angreifern getötete Mann "kubanische Wurzeln hat". Empfehlenswert ist ferner das Special der Chemnitzer Lokalzeitung mit dem schönen Namen Freie Presse (die dem Zeitungs-Komplex Medien Union und damit zur Südwestdeutschen Medien Holding gehört). Ein Liveblog ist dort ebenfalls dabei.
Inzwischen wird überall und laufend neu jede Menge zum Thema berichtet und nähern wir uns dem im Pluralismus natürlich wünschenswerten Zustand, dass ungefähr überall, in print- und fernsehbasierten redaktionellen sowie sozialen Medien, alle bekannten Gemengelagen im Lichte der neuen Ereignisse beleuchtet werden. Dazu nur noch ein exemplarischer Schnelldurchlauf:
#Unvollständiger Chemnitz-Schnelldurchlauf
+++ Mehr über das Todesopfer ("soll ... nach Angaben von 'T-Online' auf Facebook ein Fan der SPD und der Linken gewesen sein sowie Seiten wie 'Metalfans gegen Nazis' oder 'Faust Hoch gegen AfD' gelikt haben"), schrieb der bei schwierigen deutschen Themen oft empfehlenswerte österreichische Standard. +++ Wie so oft gibt es Kritik an der Bild-Zeitung, und zwar, was die schnelle Verbreitung der Mob-Narrative angeht. Stephan Anpalagan fundiert auf Facebook mit zahlreichen Beleg-Links: "Für die 'besorgten Bürger' in Sachsen stand schnell fest, was die Polizei ihnen verheimlichte: Eine Gruppe von Ausländern belästigte eine Frau, mutige Deutsche kamen ihr zu Hilfe und wurden 'abgeschlachtet' [2]. Wie sich die Herrschaften, angestachelt von PI-News, so schnell auf diese Version der Tatabfolge einigen konnten? Weil sowohl die regionale als auch die überregionale Variante der BILD (!) genau das in einer ersten Version ihres Artikels veröffentlichte. Nachdem allerdings die Polizei Sachsen klarstellte, dass es 'keinerlei Anhaltspunkte' dafür gibt, 'dass eine [sexuelle] Belästigung der Auseinandersetzung vorausging'" [3], änderte die BILD klammheimlich ihren Artikel, vergaß allerdings die entsprechenden Tweets [4] zu löschen [5] ..." . +++ Es gibt Kritik an der Nennung der Herkunft der verhafteten Verdächtigen des Tötungsdelikts (z.B. hier auf Twitter, in einer Antwort auf den Tweet der Polizei Sachsen. +++ Lob für die zuletzt (vgl. alle Altpapiere der vergangenen Woche) häufig mit Recht kritisierte sächsische Polizei gibt es ebenfalls: "Auf ihren Social-Media-Kanälen hat die Polizei Sachsen diesmal übrigens alles getan, um eine Zuspitzung zu verhindern", schrieb Matthias Meisner (Tagesspiegel). Und die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel fand der taz gegenüber "die Kommunikationsstrategie der Polizei recht gelungen" – bloß mit den übrigen Strategien habe die Polizei "versagt".
Nachtaktuelle Kritik an Polizeistrategien vom gestrigen Abend gibt es natürlich ebenfalls (SPON 1.37 Uhr: "Wie die Polizei eine Stadt den Rechten überließ"). +++ Wobei die Morgen-Newsletter ohnehin leicht Apokalyptischem zuneigen: "Staatsversagen!", titelt Gabor Steingart. +++ "Ein Hauch von Weimar" heißt "Die Lage am Dienstag" bei SPON, und damit meint Roland Nelles nicht den heiteren "Tatort", in dem die ARD am Sonntag wieder mit vollfiktionalen Kriminalfällen unterhielt, sondern die ehemalige Republik, die vor fast 100 Jahren entstand, es aber nicht lange machte. +++ Die Meinung, dass gerade in Sachsen "ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus" geleugnet wurde, wird ebenfalls mit Recht und häufig prominent geäußert, zum Beispiel im gestrigen "Tagesthemen"-Kommentar vom MDR-Redakteur Oliver Köhr.
An populi-/populärem Sachsen-Bashing herrscht auch kein Mangel. Exemplarisch verdient ein auch an Einfluss reicher prominenter Hamburger Publizist Erwähnung, der in seiner Kolumne auf Spiegel Online starke Zeilen über "Pimmel mit Ohren" ins Netz hinaus rülpste (wobei dieses Verb derselben Kolumne entnommen ist). Jakob Augstein hat auch zur Frage der Berichterstattung und Nichtberichterstattung eine elaborierte Meinung:
"Das Netz bietet diesen Menschen die rechten Dunkelkammern, in denen sie sich nach Taten, wie der von Chemnitz über die Nichtberichterstattung der Tagesschau beschweren. Die Zeit, die verantwortungsvoller Journalismus braucht, wollen diese Leute ihm natürlich nicht einräumen."
Wobei zum Zeitpunkt, als am Sonntag die "Tagesschau" in ihrer Hauptausgabe im Fernsehen kein Sterbenswörtchen für Chemnitz übrig hatte, alle relevanten Nachrichtenportale, darunter SPON, Berichte dazu selbstverständlich ganz oben stehen hatten ... Ob Augstein SPON zu "verantwortungsvollem Journalismus" rechnet, ist unklar. (Bzw. sprechen seine Kolumnen für: eher nicht). Aber dass die Fernseh-"Tagesschau" aus der Echtzeit-Berichterstattung aussteigt, um 24 Stunden später verantwortungsvoller zu berichten, während man alle, die sich aktuell informieren wollen, diesen und jenen Internetportalen überlässt, kann ja wohl nicht mal Augsteins Ernst sein.
Größte Medienkonzerne (Telefonnetz kauft Inhalte, Disney Murdoch und umgekehrt)
Und noch was gehört über'n Strich: Die größten Medienkonzerne der Welt werden immer größer, bloß die aus Europa immer kleiner. Die neue Datenbank der 100 größten internationalen Medienkonzerne des von Lutz Hachmeister geleiteten Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik steht zwar noch nicht online (sondern die alte von 2017). Aber sie war schon mal an Hans-Jürgen Jakobs gegangen, der beim Handelsblatt "Senior Editor" ist und die frischen Daten ausführlich analysiert hat. Vor allem der gegen den Willen des ja keineswegs generell Großkonzerne-gegnerischen US-amerikanischen Präsidenten laufende Kauf des Time-Warner-Konzern durch AT & T beschäftigt ihn:
"Tatsächlich hat der AT&T-Deal ganz neue Zeichen im globalen Medienmarkt gesetzt. Nun gehört auf einmal zusammen, was bisher nicht zusammengehörte: Telefonnetze, Internet-Verbindungen und Bewegtbilder aller Art. Eine neue 'Konvergenz' von Vertrieb und Medieninhalten soll die Kunden beglücken und zu Umsatzsprüngen führen. Das ist das neue Gesetz der Branche. Motto: Alles aus einer Hand. Verbunden ist das Ganze mit einer riesigen Unternehmenskonzentration, wie sie noch nicht zu erleben war. Das Kommunikationsgeschäft hebt sich dabei sogar von anderen Branchen der Weltwirtschaft ab, in der auch immer weniger Global Player immer stärker die Regeln bestimmen.'
Wobei die Zeitschrift namens Time, die im Namen Time-Warner noch mitschwingt, natürlich nicht mehr zum Konglomerat gehört, aber zum Beispiel der "Games of Thrones"-Hersteller HBO.
Es laufen noch weitere solcher Verschiebungen, zum Beispiel die Aufspaltung weiterer Teile des Fox-Imperiums von Rupert Murdoch, der dadurch umgekehrt mit "knapp neun Prozent" größter Eigentümer des niedlichen, aber riesengroßen Disney-Konzerns werden dürfte . Hat so etwas Auswirkungen auf deutsche Medien-Endverbraucher, die ja zunehmend Abonnements mit internationalen, vor allem US-amerikanischen Anbietern abschließen (beim noch nominell britischen, demnächst vermutlich aber auch eher amerikanischen Pay-TV-Anbieter Sky jedoch öfter als früher kündigen, wie medienkorrespondenz.de gerade berichtete)?
"Angesichts der Dynamik erstaunt es fast, dass ARD und Pro Sieben Sat1 umsatzmäßig immer noch zu den größten 50 zählen. Am weitesten oben taucht auf Rang 15 Bertelsmann aus Gütersloh auf – vor 30 Jahren noch die Nummer eins der Medienwelt",
schreibt Jakobs – und kommt dann auch auf ein einheimisches Unternehmen zu sprechen, das in den 2017-Hot Hundred nicht vertreten war, aber ein Telefonnetz und Internet-Verbindungen besitzt, die Deutsche Telekom:
"Nun wollen die Manager über ihre Streamingeinheit Entertain TV (3,2 Millionen Kunden) expandieren. Geschätztes Budget für Rechte und Inhalte: eine Milliarde Euro für vier Jahre. Es gehe um 'Content Sourcing', sagt ein Sprecher",
und neue Anglizsimen rauszuhauen, war ja schon immer eine Stärke der Telekom. Mehr über diese Pläne, in deren Zentrum die lange angekündigte deutsch-französische Serie mit Christoph Maria "Stromberg" Herbst steht, berichten wuv.de und heute auch die Medienseite der Süddeutschen.
Mehr über die globale, weitestgehend US-amerikanische Konzentration der Medienkonzerne zu sprechen, wäre auch in Deutschland sinnvoll – gerade auch im Rahmen der ARD, die sich selbst zwar überhaupt nicht als so ein Konzern betrachtet, aber doch Geld für Inhalte auf einem internationalen Top-50-Niveau ausgeben kann.
Altpapierkorb (Zeitungsabos erst ab 55, "der mit dem 'Tatort'", keine Abmahnungswelle, "Clicktivismus", Medienmuseum in Augsburg?)
+++ Sächsische Lokalpresse jenseits des Tagesaktuellen ist ein Thema bei Journalistengewerkschafts-Medium mmm.verdi.de. "Es gelingt uns faktisch nicht mehr, Zeitungsabos bei Leuten jünger als 55 zu generieren", sagt Sächsische Zeitung-Chefredakteur Uwe Vetterick.
+++ Vor dem Hintergund enger Drähte zwischen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmagazinen und der Bundespolitik noch lesenswert: Hans Hütts Doppel-Besprechung des "Sommerinterview"-Finales bei ARD und ZDF (mit Merkel und Horst Seehofer) am Sonntag bei faz.net. "Am Ende bleibt vor allem die Annahme, dass sich beide Politiker im Urlaub gut erholt haben".
+++ Hans Janke war Fernsehspielchef des ZDF, als diese Abteilung noch nicht die Nichts-als-Krimi-Schleuder war, die es heute ist. Nun hat er für epd medien einen Nachruf auf Gunther Witte, "den mit dem 'Tatort'" beim damals einzigen Rivalen WDR, diesen "unangestrengt asketischen, allem irgendwie Modischen lebenslang fernbleibenden Mann" verfasst. +++ Und falls Ihnen der Nachruf etwas kurz erscheint: Online gibt es ebd. auch noch einen von Norbert Schneider, der sich immer etwas länger fasst.
+++ Bei netzpolitik.org pflichtet Ingo Dachwitz tagesschau.de bei, und zwar der Meldung, "dass Warnungen vor flächendeckenden Abmahnungen" im DSGVO-Zusammenhang "überzogen" waren.
+++ Auf der FAZ-Medienseite kritisiert Volker Rieck, "Geschäftsführer der FDS File Defense Service, die für den Schutz von Werken und Urheberrechten im Internet eintritt", "Clicktivismus" am Aktionstag gegen die geplante EU-Urheberrechtsrichtlinie."
+++ "Der erste Fernsehspielfilm von Axel Ranisch, einem Regisseur der Berliner Schule" heißt "Familie Lotzmann auf den Barrikaden", läuft heute um 22.45 Uhr im ARD-Programm und wird auf der SZ-Medienseite gelobt. +++ "Eine entwaffnende Sternstunde", würde Heike Hupertz in der FAZ sagen.
+++ Aber auch die neue RTL-Soap "Freundinnen", oder zumindest, wie sie sich dem "erzählerisch völlig unterschätzten Ort" Einkaufszentrum nähert, hat was, findet Claudia Tieschky (SZ).
+++ In Augsburg plant Markus Söder eine neue "Außenstelle der Landeszentrale für Politische Bildung... , die Bildungsangebote gegen Fake News und hassgetriebene Diskussionen im Internet erarbeitet und anbietet", und darin auch noch "eine Art Museum zu digitalen Medien und zur Mediengeschichte" anzusiedeln. Das berichtet die dortige Allgemeine (wie etwa die FAZ heute berichtet).
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.