Das Altpapier am 15. Mai 2018 Alternative Schlachtfeld-Fakten
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Welchen Wert misst die Fifa der Pressefreiheit bei? Warum schreiben Journalisten völlig enthemmt, wenn es um Pyrotechnik beim Fußball geht? Wird die überregionale Berichterstattung der FR geschwächt? Ein Altpapier von René Martens.
Seien wir am Anfang gleich mal ein bisschen ungerecht und kategorisieren das aktuelle Zeit-Online-Interview mit Charlotte Roche zum Fall Gebhard Henke als Fortsetzungsbeitrag zur großen Spiegel-Geschichte zu den Vorwürfen gegen den freigestellten WDR-Fernsehspielchef (siehe Altpapier). Ungerecht ist das insofern, als die Kollegen Leonie Seifert und Björn Stephan auch schon zu der Sache recherchiert haben, bevor der Spiegel erschienen ist. Wie auch immer: Roche schildert hier ausführlich, was ihr bei einer Veranstaltung über den Film "Schoßgebete", der auf ihrem gleichnamigen Buch beruht, widerfahren ist:
"(Henke) stellte sich mir vor, reichte mir seine rechte Hand und hörte nicht auf, sie zu schütteln. Seine linke Hand legte er dabei mitten auf meinen Po. Ich kenne Situationen, in denen Männer ihre Hand bei der Begrüßung auf meinen Rücken legen und sie langsam runterrutschen lassen. Das ist unangenehm, aber geht nicht weiter als bis zum unteren Rücken, da ist die Grenze. Doch die Hand von Henke lag ganz fest auf meinem Po und blieb auch da. Vorne wurde die ganze Zeit weitergeschüttelt. Dabei redete er mit mir."
Auf die Warum-haben-Sie-sich-denn-nicht-gewehrt-Frage sagt Roche:
"Wenn ich zum Beispiel im Nachtleben unterwegs bin, erwarte ich, dass so etwas passieren kann. Da habe ich schon viele Male richtig reagiert, geschubst, geschrien, mich gewehrt. Aber auf dieser Veranstaltung fühlte ich mich sicher, ich kannte viele Leute, ich mochte die. Deshalb war ich komplett perplex. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn ich den Mann von mir wegstoße und schreie, was ein normales Verhalten wäre, dann verursache ich damit den Eklat des Abends."
Anne Burgmer geht im Kölner Stadt-Anzeiger auf eine Pressemitteilung ein, die Peter Raue, Henkes Advokat, gerade verschickt hat. Der Promi-Anwalt kritisiert, der Sender habe die Vorwürfe gegen seinen Mandanten bisher nicht konkretisiert. Burgmer dazu:
"Der Anwalt hatte den Kölner Sender aufgefordert, die Vorwürfe bis 10. Mai zu konkretisieren. Laut Raue ließ der WDR durch den Hauptabteilungsleiter Personal, Kurt Schumacher, am 9. Mai erklären: 'Wir hoffen, dass dies bis zum 18. Mai 2018 erfolgen kann.'"
Wir tippen mal, dass da am späten Freitagnachmittag etwas kommt, das ist generell ein beliebter Zeitpunkt für Verlautbarungen unangenehmen Inhalts.
Probe aufs Exempel
Wie sollen sämtliche in Frage kommenden Beteiligten darauf reagieren, dass der ARD-Journalist Hajo Seppelt nicht nach Russland reisen darf, um während der Fußball-WM von dort zu berichten (Altpapier)? Michael Hanfeld schreibt in der FAZ (zu haben ist der Text für 3,12 Cent pro Zeichen bei Blendle):
"Dass Russland das vom SWR für Hajo Seppelt beantragte Visum für ungültig erklärt hat, bedeutet für die öffentlich-rechtlichen Sender eine Probe aufs Exempel, ob sie tun können, wozu sie verpflichtet sind. Gefordert ist in diesem Fall die Bundesregierung, die sich schon eingeschaltet hat, vor allem aber der internationale Fußballverband Fifa. Welchen Wert dieser der Pressefreiheit zumisst, wird man am Fall Seppelt ablesen können."
Das von Hanfeld erwähnte Sich-Einschalten der Bundesregierung belegen die Überschriften "Merkel fordert von Russland Visum für Seppelt" und "Der Fall Seppelt wird zur Staatsaffäre". Ebenfalls für die FAZ kommentiert Peter Sturm:
"Man darf gespannt sein, mit wie viel Enthusiasmus sich zum Beispiel Fifa-Präsident Gianni Infantino für die Freiheit der Berichterstattung einsetzt. Im Abblocken kritischer Journalisten lässt sich der Schweizer im wirklichen Leben nämlich wenig vormachen (…) Russland hat mit der Einreiseverweigerung offenbart, dass es eine gehörige Portion Angst vor Leuten hat, die nicht davor zurückschrecken, einen Sumpf als solchen zu bezeichnen."
Seppelt selbst sagt gegenüber Patrick Gensing und Silvia Stöber (faktenfinder.tagesschau.de):
"'Moskau hat sich damit keinen Gefallen getan.' (…) Denn nun werde 'erst recht über Doping und Pressefreiheit in Russland diskutiert. Zudem ist die FIFA der Veranstalter der WM und Russland nur das ausrichtende Land. Und als solches muss es sich an die eingegangenen Verpflichtungen halten – und die sehen einen ungehinderten und freien Zugang für Journalisten vor.'"
Wahrnehmungsstörungen
Bleiben wir beim Fußball: Der HSV ist am Samstag aus der Bundesliga abgestiegen, und ein Unglück ist das auf jeden Fall für den Postillon, denn als Zweitligist wird der Klub die Kollegen wohl nicht mehr zu derart vielen Artikeln inspirieren wie bisher.
Ein Aspekt der Berichterstattung über das letzte Spiel ist auch unter medienkritischen Aspekten interessant. Die Rede ist von den medialen Reaktionen auf das unfreundliche Feuerwerk, das einige HSV-Fans kurz vor Schluss veranstalteten. Der freie Journalist Ivo Bozic sieht die Artikel als
"ein Beispiel dafür, wie schnell auch seriöse Medien alternative Fakten bzw. einfach Quatsch verbreiten. 'Binnen Minuten verwandelte sich die Arena in ein Schlachtfeld' (Süddeutsche Zeitung) (…) 'Randalierer verwandeln den HSV-Abstieg in eine Horror-Show' (stern), 'Es waren Bilder, die mehr an einen Bürgerkrieg als an ein Fußballspiel erinnern.' (Augsburger Allgemeine). Schlachtfeld? Bürgerkrieg? Was war passiert? Nachdem einige Ultras mit Raucheimern und Pyros die Nordkurve eingenebelt hatten, wobei eine Werbebande beschädigt wurde, stürmten Hundertschaften der Polizei mit Polizeihunden und Polizeipferden den Platz. Und dann: standen sie da rum. Weil sonst eben nichts passierte.
Die zitierte "Schlachtfeld"-Beschreibung stammt im übrigen aus diesem SZ-Artikel, in einem anderen SZ-Beitrag ist in einer Bildunterschrift von "etwa zweihundert Cretins" die Rede, wobei die polyglotte Schreibweise (Cretin statt Kretin) wohl über die mäßige Originalität des Schimpfworts hinwegtäuschen soll.
Spiegel Online ordnet die Berichterstattung – zu der auch der Allround-Experte Julian Reichelt einen Beitrag lieferte – folgendermaßen ein:
"In der Welt hieß es, man müsse in der Bundesliga Angst haben, von 'geistig tiefergelegten Chaoten erschlagen zu werden.' Aber zu Gewalt ist es im Hamburger Stadion gar nicht gekommen. 'Es sind keine Personen verletzt worden – weder vor noch nach dem Spiel', sagt eine Sprecherin der Polizei Hamburg auf Spiegel-Anfrage. Zu Sachbeschädigungen konnte die Sprecherin keine Angaben machen. Das kann alles nur Glück gewesen sein, ändert aber nichts am Ergebnis. Wer viele Berichte zu den Vorkommnissen gelesen hat, muss den Eindruck haben, dass deutlich mehr passiert ist."
Neu ist dieses Phänomen nicht: Wenn Journalisten Feuerwerk in einem Stadion sehen (sei es live vor Ort, sei es als Fernsehzuschauer), setzt bei ihnen die Wahrnehmung aus und das schlägt sich dann in enthemmten Texten nieder. Meine küchenpsychologischen Kenntnisse reichen für eine vollständige Erklärung leider nicht aus. Ich gehe aber mal davon aus, dass eine gewisse Bürgerkriegslust – siehe das von Bozic erwähnte Zitat aus der Augsburger Allgemeinen – eine Rolle spielt. Die kam ja auch in der Berichterstattung über Ellwangen zum Ausdruck (Altpapier).
Was wird aus der FR?
Neulich hat Boris Palmer, der grün lackierte Tichyaner, geschrieben, die FR sei "keine seriöse Zeitung mehr", und einen besseren Beleg für die Qualität einer Zeitung kann es ja kaum geben, ich hätte jedenfalls beinahe spontan ein FR-Abo abgeschlossen. Wie es weiter geht mit der FR und der Schwesterzeitung Frankfurter Neue Presse (FNP) nach dem Verkauf an Ippen und die Zeitungsholding Hessen (ZHH) – darauf geht aktuell die taz ein:
"Inzwischen ist (der) FNP-Chefredakteur (und ZHH-Mitgesellschafter – RM) Max Rempel gleichzeitig Geschäftsführer der Frankfurter Rundschau. Das gilt als Zeichen, dass sich auch für die Redaktion der FR erhebliche Änderungen und Einschnitte ergeben dürften. Zunächst waren viele Rundschau-Redakteur*innen davon ausgegangen, dass sich für ihre Zeitung wegen ihres besonderen Profils nur wenig ändern würde."
Etwas ändern wird sich möglicherweise bei der überregionalen Berichterstattung:
"Die neuen Verleger*innen haben (…) den Vertrag mit der Berliner Hauptstadtredaktion – die einst als Redaktionsgemeinschaft, kurz ReGe, ins Leben gerufen worden war – zur Disposition gestellt. Sie liefert bislang für die Zeitungen der DuMont-Gruppe und für die FR Texte aus der Hauptstadt. 'Zu teuer' sei die Zulieferung, mit der die Rundschau einen großen Teil ihres eigenen Mantels gestaltet, hieß es aus dem Verlag. Noch ist unklar, ob der Vertrag gekündigt oder zu einem günstigeren Preis weitergeführt wird."
Altpapierkorb (Missverständnisse zu #efail, das ZDF fragt dumm, der John McEnroe der Anwaltswelt)
+++ Am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche verhandelt das Bundesverfassungsgericht vier Verfassungsbeschwerden in Sachen Rundfunkbeitrag. Die Verhandlungen fallen, wie die SZ leicht blumig konstatiert, "in eine unruhige Zeit, in der eine zunehmend erregte Öffentlichkeit nach Halt sucht: Was ist wahr? Was ist erfunden? Welche Deutung stimmt?" Die SZ hat die bevorstehenden Termine in Karlsruhe als aktuellen Aufhänger für ein Interview mit dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm gewählt, in dem es rund um die zitierten Fragen geht, und in dem dieser sagt, auch "Persönlichkeiten" wie Konrad Adenauer, Winston Churchill, Willy Brandt oder Helmut Schmidt heute "dem Risiko ausgesetzt wären, dass ihre Autorität in Zweifel gezogen wird. In Netzforen und Filterblasen werden Politiker und Entscheider heute oft auf gewöhnliche, mitunter ordinäre Motive reduziert, Idealismus wird ihnen nicht zugebilligt."
+++ #efail lautet gerade einer der trendenden Hashtags unter Was-mit-Medien-Leuten. Warum? "Einem Forscherteam der FH Münster, der Ruhr-Universität Bochum und der KU Löwen in Belgien ist es in einem Test gelungen, einen der zentralen Bausteine für sichere Kommunikation im digitalen Zeitalter zu zertrümmern (…) Was die Forscher herausgefunden haben, ist so verheerend, dass das Vertrauen in verschlüsselte Mails zumindest auf absehbare Zeit verloren sein dürfte." Das schreibt die SZ. Auf "Missverständnisse zu efail" bzw. "fehlende Kontexte" geht Torsten Kleinz in seinem Notizblog ein.
+++ Während Sven Adam, der Anwalt der jüngst im thüringischen Eichsfeld von Neonazis attackierten Journalisten (siehe ausführlich das Altpapier vom Ende der vorvergangenen Woche und kurz das Altpapier von gestern), der Ansicht ist, "dass bei dieser Art von Angriff die Tötung eines Menschen billigend in Kauf genommen worden ist und entsprechend auch nach einem Tötungsdelikt ermittelt werden müsste" – er bezieht sich auf Messerstiche und einen Schlag auf den Kopf durch einen schweren Schraubenschlüssel – sieht der Pressesprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft Mühlhausen die Sache anders. Er widerspricht "dem Verdacht auf eine versuchte Tötung". Das berichtet Henry Bernhard für @mediasres.
+++ Sollte beim ZDF in den kommenden zehn Jahren nicht überraschenderweise die Vernunft ausbrechen, wird "bis 10.05.2028, 10:00" dieser "Terra X"-Clip zur Frage "Gibt es menschliche Rassen?" online stehen. Weiteres dazu in diesem und diesem Twitter-Thread.
+++ Die Vossianische Antonomasie mindestens dieser Woche haben wir einem Textschmied aus der Kommunikationsabteilung des Ersten zu verdanken: Der Protagonist der Serie "Falk", die heute startet, sei der "John McEnroe der Anwaltswelt", heißt es im Presseheft. Und was schreiben die Kollegen so? "Die Auftaktfolge handelt (…) von einem Ministerpräsidenten (Arved Birnbaum), der gerne Reizwäsche trägt (…) Ein Anonymus hat ihm Beweisfotos zugeschickt, ohne Forderungen zu erheben. Falk soll der Sache diskret auf den Grund gehen und nimmt erst einmal einen kräftigen Schluck aus dem Aquarium des Ministerpräsidenten. Warum, das muss man nicht zwingend verstehen" (Thomas Gehringer, Tagesspiegel/Stuttgarter Zeitung). "Das Konzept der neuen ARD-Serie erinnert an 'Dr. House' oder 'Sherlock' – ist aber so bieder erzählt wie 'Ein Schloss am Wörthersee'" (David Denk, SZ). "Nach dem multipräsenten Schmunzelkrimi nun die Schmunzelanwaltsserie. Vom Sender wird 'Falk' angepriesen wie die Neuerfindung des Genres, was selbstverständlich grober Unfug ist" (Heike Hupertz, FAZ, noch nicht frei online). Warum gleich vier auf dem Altpapier-Radar befindliche Qualitätszeitungen dieser nach allgemeinem Dafürhalten eher lauen Serie überhaupt so viel Platz einräumen, ist eine andere Frage: Fun fact: Einer der beiden "Falk"-Redakteure ist Gebhard Henke.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.