Das Altpapier am 27. April 2018 Letzte Ausfahrt: Gesetzgeberische Maßnahmen
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Die üble Lage für Journalisten in der Türkei bleibt übel. Die EU-Kommission möchte gegen Fake News vorgehen und hofft, dass die Online-Unternehmen schon wissen, wie das funktionieren könnte. Der WDR lässt seine #MeToo-Affäre extern aufklären, und Tom Buhrow hat dazu ein Gefühl. Die GOA-Nominierten sind da. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Ich hatte Sie gewarnt. Nun machen wir das auch so.
In der Türkei sitzen aktuell 154 Journalisten in Haft. Wer das ist, sammelt Zeit Online, wo sich zudem die Info findet, wie die Verhandlung gegen Meşale Tolu gestern lief:
"Zum Auftakt des Prozesstages in Istanbul forderte Tolu ihren Freispruch. Doch der Richter beschloss die Anklage gegen sie und 25 weitere Personen wegen Terrorvorwürfen erst am 16. Oktober fortzusetzen. Die Ausreisesperre für die 33-Jährige und ihren ebenfalls angeklagten Ehemann Suat Corlu lies (sic!) das Gericht aufrecht. Tolu wurde lediglich von ihrer wöchentlichen Meldepflicht bei der Polizei entbunden. Tolu kann somit auch weiterhin nicht zurück nach Deutschland reisen."
Wie es ist als Journalist im türkischen Knast (Einzelzelle, Schreibverbot, Plastegabel als Stiftersatz, Sie erinnern sich), berichtete gestern bei "Maybrit Illner" Deniz Yücel. Rezensionen der Sendung stehen u.a. bei faz.net und im Hamburger Abendblatt.
EU-Strategie gegen Fake News: Habt ihr Online-Unternehmen nicht ne Idee?
Kleines Gedankenspiel: Sie stehen am Spielplatzrand und beobachten seit einer geraumen Weile, wie Jonas-Rüdiger, Justin und Freya sich immer wieder gegenseitig die Schäufelchen über die Köpfchen brettern und ihre Sandburgen zerstören. Sie haben mehrfach ermahnt, die Kids haben das genauso mehrfach ignoriert. Und nun? Bitten Sie die drei, sich doch gemeinsam einen Regelkatalog auszudenken, an den sie sich in Zukunft halten wollen. Sonst müssten sie aber wirklich die Sandwerkzeuge konfiszieren.
Klingt echt einen Hauch zu antiautoritär? Ist aber, so wie ich das verstehe, der aktuellste Schachzug der EU-Kommission gegen Online-Unternehmen, um die lästige Sache mit den Falschmeldungen bzw. Fake News in den Griff zu bekommen. Was die Kommission, by the way, nicht für den richtigen Begriff hält, "um das komplexe Phänomen zu beschreiben. Sie spricht daher von Desinformation. Dazu zählten nicht journalistische Fehler und Satire", so Patrick Gensing bei den Faktenfindern der Tagesschau.
EU-Digitalkommissarin Mariya Gabriel stellte besagte Pläne gestern vor, nach denen die Firmen selbst sich bis Juli einen Verhaltenskodex erarbeiten sollen.
"Er soll nach dem Willen der Kommission unter anderem vorsehen, dass Online-Plattformen ihre Werbekunden genauer prüfen und die Personalisierung von politischer Werbung einschränken. Bezahlte politische Inhalte sollen kenntlich gemacht werden. Zudem sollen die Unternehmen ihren Nutzern den Zugang zu vertrauenswürdigen Informationen und die Unterscheidung erleichtern. Ein 'Markierungssystem' soll sicherstellen, dass die Aktivitäten sogenannter Bots nicht mit von Menschen eingestellten Inhalten verwechselt werden",
informieren dpa/Horizon.
Wenn bis Oktober keine "messbaren Wirkungen" zu verzeichnen wären, seien "gesetzgeberische Maßnahmen" möglich. Woran ich nun drei Fragen anschließen möchte:
Warum erst jetzt – 2016 ist doch auch schon wieder zwei Jahre her?
Sollten besagte Online-Unternehmen etwa Medien sein, die sich natürlich auch an Recht und Gesetz zu halten haben, sich in Fragen der Medienethik aber an einem selbst formulierten Branchenkodex orientieren, und weiß Mark Zuckerberg schon von seinem Verlegertum?
Oder sollte die Kommission etwa unsicher sein, wie man das mit den Bots und den Personalisierungen und so regelt, und daher sollen die ollen Kapuzenpulli-Schluffis erstmal selbst was vorschlagen? Die sind jung und kennen sich doch sicher aus. Was natürlich eine mitteljung-arrogante Bemerkung meinerseits ist, aber seit der Lektüre des Washington-Post-Artikels "Members of Congress can’t possibly regulate Facebook. They don’t understand it" habe ich so meine Vorbehalte.
Weitere EU-Pläne: Irgendwas mit Medienkompetenz
Dabei ist man sich bei der EU selbst auch nicht ganz einig, ob diese freiwillige Selbstverpflichtung der richtige Weg ist. Das zeigt ein von der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRI) geleakter Brief von Sicherheitskommissar Julian King an Digitalkommissarin Mariya Gabriel, aus dem bei @mediasres Thomas Otto zitiert. Darin schreibt King unter Bezug auf den Cambridge-Analytica-Skandal:
"Selbstregulierung hat sich bei solchen Problemen als unzureichend erwiesen. Ein bindender Ansatz sollte hier gewählt werden, besonders um Plattformen zu zwingen: die Identität derer offenzulegen, die Anzeigen schalten – besonders während eines Wahlkampfes, Werbung klar zu kennzeichnen und den Einsatz von personenbezogenen Daten für politische Zwecke weiter zu begrenzen."
Tja. Aber vielleicht folgt das ja alles ab Oktober. Auf die paar Monate kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Derweil will die Kommission selbst nicht untätig bleiben. Faktenprüfer und Qualitätsmedien sollen gestärkt und eine Woche der Medienkompetenz ausgerufen werden. Was sich vor allem Ersteres betreffend einfach hinschreiben lässt, aber wie schmal der Grad zwischen Faktenprüfern und Wahrheitsministerium ist, wurde auch an dieser Stelle schon ausführlichst debattiert.
Immerhin eine vage Vorstellung hat man, wie die Medienförderung aussehen könnte.
"Möglich wären zum Beispiel Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer oder andere Steuervorteile für Medien",
zitiert wiederum Gensing bei den Faktenfindern aus den Vorschlägen einer "'High Level Group' mit 39 Experten – darunter Wissenschaftler, Journalisten und Vertreter von Konzernen wie Google, Twitter oder Facebook", die der Kommission zuarbeiteten.
Was jetzt noch fehlt? Ein Eindruck, wie ernst Zuckerbergs Mark europäische Institutionen nimmt. Gibt er sich nun bei einer Anhörung im EU-Parlament die Ehre oder nicht? Das wird gerade diskutiert, und wer dabei die Terms and Conditions diktieren zu können meint, ergibt es sich aus dem Politico-Artikel zum Thema:
"The Parliament official, who requested not to be named because talks were ongoing, said the Facebook CEO wants to come but 'apparently he has conditions' regarding the format of the hearing. Parliament officials were trying to accommodate Facebook’s requests this afternoon, the official said, and hope to officially announce the visit soon."
Aber lassen wir diese Online-Typis sich ruhig mal selbst regulieren. Das wird super.
Eine externe Aufklärerin für die #MeToo-Affäre beim WDR
Apropos Selbstreinigungskräfte: Dass die manchmal gar nicht so gut funktionieren, wie gedacht, hat nach längerem Sinnieren nun auch WDR-Intendant Tom Buhrow geschnallt und sich mit der SPD-Politikerin und einstigen Gewerkschafterin Monika Wulf-Mathies eine externe Aufklärerin zu den Vorwürfen der sexuellen Belästigungen beim Sender (Altpapier) ins Haus geholt. Sie
"wird auf Bitte von WDR-Intendant Tom Buhrow prüfen, wie der WDR mit Hinweisen auf sexuelle Belästigung umgegangen ist. Für ihre unabhängige Prüfung erhält Monika Wulf-Mathies uneingeschränkten Zugang zu allen Informationen, Vorgängen sowie Gesprächspartnern. Die Ergebnisse werden nach Abschluss der Untersuchung veröffentlicht",
wie der Sender selbst vermeldet – nicht, ohne später ein Mimimi anzustimmen, dass "nicht nur in der öffentlichen Berichterstattung, sondern auch in den sozialen Medien – Behauptungen aufgestellt, vage und konkrete Verdächtigungen ausgesprochen sowie Äußerungen der WDR-Spitze zum Teil aus dem Zusammenhang gerissen" worden seien. Denn wenn über Jahre Mitarbeiterinnen Sexismus erdulden müssen, ist das natürlich schlimm, aber noch kein Grund, mit Intendanten-Zitaten so umzugehen!
Bei der PK zur Vorstellung von Wulf-Mathies brachte Buhrow dann noch ein paar schön zerknirschte Zitate zu Gehör, etwa
"'Es sind Fehler passiert, ganz sicher. Es tut mir Leid um jeden einzelnen Fall.' Allerdings glaube er nicht, dass grundsätzliche Defizite vorliegen, indem das Thema sexuelle Belästigung beim WDR ausgeblendet oder nicht ernst genommen worden wäre." (Quelle: Meedia)
Weitere hat Boris Rosenkranz fleißig vertwittert; mein persönlicher Favorit ist
"Tom Buhrow: 'Ich habe nicht das Gefühl, dass sich irgendjemand im WDR scheuen würde, Dinge zu Gehör zu bringen – auch unangenehme Dinge.' #WDRPK"
Denn wenn jemand beurteilen kann, was sich Mitarbeiter in einem Unternehmen zu sagen trauen, dann doch der Oberboss. Mal ganz abgesehen davon, dass das Gegenteil mittlerweile bewiesen scheint.
Mit ersten Ergebnissen von Wulf-Mathies Arbeit soll frühestens nach den Sommerferien zu rechnen sein. Ein guter Zeitplan, zumindest für Buhrow und WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn, wie auf der Medienseite der SZ Hans Hoff bemerkt.
"Der (Schönenborn, Anm. AP) betont zwar, dass er in seiner Zeit als Chefredakteur alles getan habe, um die Vorwürfe zu prüfen, doch die Stimmen, die ihm in dieser Hinsicht zumindest Unentschiedenheit vorwerfen, wollen einfach nicht verstummen. Das ist misslich für Buhrow, der im Juni seinen Adlatus Schönenborn gerne nochmal als Fernsehdirektor durch die Abstimmung im Rundfunkrat bringen möchte. Da käme es ihm sicher nicht ungelegen, wenn mit der Verpflichtung von Wulf-Mathies nun erst einmal Ruhe herrschte und Schönenborn sich halbwegs unbelastet dem Aufsichtsgremium stellen könnte."
Altpapierkorb (Grimme Online Award, Patricia Schlesinger, IRT, KEF)
+++ Die Nominierten für den Grimme Online Award wurden gestern verkündet. Altpapier-Kollege Christian Bartels berichtet aus diesem Anlass in seiner evangelisch.de-Kolumne über die Arbeit der Nominierungskommission, der er angehörte.
+++ Um 200 Millionen soll sein Patentanwalt das Institut für Rundfunktechnik (IRT) betrogen haben. Nun zahlt er 60 Millionen Euro Schadenersatz, meldet Klaus Ott auf der Medienseite der SZ.
+++ Für Spiegel Daily porträtiert Ulrike Simon RBB-Intendantin Patricia Schlesinger.
+++ Um die Staatsferne der KEF macht sich Dagmar Gräfin Kerssenbrock, Vorsitzende des NDR-Verwaltungsrats, in der aktuellen Ausgabe epd medien Sorgen (derzeit nicht online).
+++ Alles, was Sie in den vergangenen Tagen bei den Medientagen Mitteldeutschland verpasst haben, lässt sich im Live-Blog unseres freundlichen Gastgebers 360G nachlesen.
+++ Die neue Skyserie "Der Pass" über einen deutsch-österreichischen Grenzgänger-Serienmörder ist Axel Weidemanns Thema auf der Medienseite der FAZ (€).
+++ Und dann wäre noch der gestrige Popcorn-Moment zweier deutscher Medienportale, zur Kenntnis.
Frisches Altpapier gibt es wieder am Montag (ja, trotz Brückentag). Schönes Wochenende!