Das Altpapier am 26. März 2018 Adé, Facebook
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... als Verbreitungsweg (kleine Geste). Als Leitartikel-Thema ist Facebook gerade groß wie nie. Solch ein großes Wir ("wir alle", "zwei Milliarden Menschen", siebeneinhalb) gibt's selten. Außerdem: Wo die Öffentlich-Rechtlichen nicht sparen – und wo sehr wohl. Standing Ovations für Tommy Buhrow, Deniz Yücel live im Netz, die Bienen des Journalismus. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Wie am Freitag angekündigt, ist die Löschung des Altpapier-Accounts auf Facebook nun auf dem Dienstweg (Beweis-Screenshots). In zwei Wochen dürfte sie öffentlich sichtbar werden. Rasch noch mal die Hinweise: Interessenten können unsere Kolumne direkt via E-Mail-Newsletter, RSS-Feed oder eben Twitter ausgeliefert bekommen. Und dass unser Gastgeber beim MDR, das Medien360G-Portal, auf Facebook bleiben wird, ist auch kein Geheimnis.
Ist das also inkonsequent und "etwas zu stark aufgetragenes Pathos", wie eine Leserin kommentierte? Ist es, wie der Spiegel-Veteran und Chef der Correctivschen Reporterfabrik, Cordt Schnibben, mit Blick nicht allein, aber wohl auch aufs Altpapier schrieb, sozusagen dumm und verzagt? O-Ton Schnibben (der Pathos jedenfalls beherrscht, Selbstkritik aber auch drauf hat) auf Facebook:
"Aber wenn ich mich entscheide, diese Gesellschaft mitzugestalten, schade ich mir und nicht Facebook, Twitter etc., wenn ich soziale Medien meide. Wofür ich allerdings eintreten sollte, und da waren wir alle zu faul und zu dumm: Dass wir Facebook etc. zwingen, so transparent zu werden, wie es nötig ist. Zu naiv? Ich glaube daran, dass demokratische Gesellschaften stark genug sind, die Bedingungen zu erzwingen, die es ihnen ermöglichen, demokratisch zu sein. Soziale Medien sind die wichtigste Plattform, um den Einfluss von Populisten einzudämmen, weil sie die wichtigste Plattform für Populisten sind. Und gerade Journalisten sind verzagte Dummköpfe, wenn sie sich um die Chance bringen, die Leser zu erreichen, die sie mit den klassischen Medien nicht mehr reichen ..."
Na ja. Wir fordern ja niemanden auf, uns beim Facebook-Verlassen zu folgen, und kritisieren auch keinen, der es anders sieht. Es ist eben ein kleines Zeichen. Der gern beschworene Netzwerkeffekt besagt, dass "sich der Nutzen ... einer Dienstleistung für den einzelnen Teilnehmer mit jedem Kunden vergrößert, der ... die Dienstleistung ebenfalls nutzt", dass also die Quasi-Monopolisten der Digital-Ära mit jedem weiteren Nutzer immer noch wertvoller werden. Wenn ein paar aussteigen, vielleicht lässt sich dieser Wertzuwachs stoppen. Vielleicht wird die Vielfalt sozialer Medien, zu denen das freie Internet selbst auch zählt, wieder etwas größer. Damit wäre allen geholfen, oder?
Facebook-Leitartikel in Hülle und Fülle
Jede Menge Facebook-Stoff in sämtlichen Medien, angefangen mit der Spiegel-Titel-Geschichte "Die Falle Facebook". Der eigentliche, sich über 15 Seiten erstreckende Artikel trägt dann die Überschrift "Außer Kontrolle". Wo Ihnen die gerade sonst begegnet sein könnte? Auf dem aktuellen Focus-Titel ... In den 15 Seiten noch gar nicht enthalten ist Marcel Rosenbachs separater Leitartikel, der mit den Worten "Es ist nicht lange her, da galten soziale Netzwerke als Wunderwaffe, um freiheitliche Werte zu verbreiten" beginnt – die manche Spiegel-Leser hoffentlich an einen zweisilbigen Adorno-Klassiker erinnern, die legendäre Einstiegs-Antwort ins Interview von 1969.
Die "Spiegel Online"-Kolumnisten fassen das Schnibben'sche große Wir noch weiter. "Dass wir alle, also die zwei Milliarden Menschen, die Facebook benutzen, nicht gesehen haben, was da wirklich passiert, ist eine Geschichte von Selbsttäuschung, Ignoranz und einer Technologie", schreibt Georg Diez. Christian Stöcker würde sogar sagen:
"Wir sind das größte Experiment der Menschheitsgeschichte, allerdings eines ohne Kontrollgruppe: Können siebeneinhalb Milliarden Menschen, die die Exponentialfunktionen nicht wirklich begreifen, mit einer sich exponentiell verändernden Welt umgehen oder nicht?"
Die heutige FAZ ist voller Facebook-Leitartikel; auf der ersten Seite freut sich Patrick Bernau, "dass der Ruf der großen Internetkonzerne sowieso ruiniert ist". Im Wirtschafts-Ressort stellt Hendrik Wieduwilt fest, dass nun da ist, "was der Datenschutzdebatte fehlte: eine mächtige Erzählung, im Politikberaterdeutsch 'ein Narrativ'" (was Wieduwilt nicht uneingeschränkt freut; schließlich ist die Wirtschaft kein ganz großer Datenschutz-Fan). Und mittendrin auf dem Feuilleton prangt ein großer Gastbeitrag von Ranga Yogeshwar ("Wenn wir jetzt nicht konsequent handeln, dann könnten wir Zeugen einer Entwicklung werden, die in der selbstverschuldeten Unmündigkeit unserer Gesellschaft endet"), der bei Blendle nur 45 Cent kostet und z.B. diesen guten Gedanken enthält:
"Was wir inzwischen erleben, ist eine Umkehr der Fließrichtung: Aus Massenmedien sind die Medien der Massen geworden. Unsere klassische Welt wurde auf den Kopf gestellt: Zuerst der Tweet und dann folgt daraus die Nachricht und die Fernsehsendung."
In der aktuellen SZ wird das Thema nicht gar so gründlich kommentiert. "Hartgesottene nehmen den Hashtag DeleteFacebook, löscht Facebook, wörtlich – nicht ohne ihr Vorhaben genau dort ein allerletztes Mal kundzutun", schreibt Michael Moorstedt im Feuilleton und merkt an: "Und warum bei Facebook haltmachen? Der Handel mit Nutzerdaten ist das Geschäftsmodell im Netz. Mehr als zwei Drittel aller Smartphone-Apps geben private Nutzerdaten an Dritte weiter."
Das würde Hanno Terbuyken auch sagen. Der Redaktionsleiter bei evangelisch.de [wo ich eine Medienkolumne schreibe] rät, "die Berechtigungen der eigenen Handy-Apps einmal genau überprüfen - und zwar aller Apps, nicht nur Facebook", und setzt Hoffnung in die "privacy by default"-Vorschrift der kommenden EU-Datenschutzgrundverordnung.
Während es dem PR Report, einer Zeitschrift des Salzburger Verlegers Johann Oberauer, der etwa auch das medium magazin herausgibt, gelang, gleich zwei der bislang diskret bis anonym agierenden deutschen Facebook-Sprecher zu interviewen und abbilden zu dürfen, Tina Kulow und Klaus Gorny (Zusammenfassung der allerspektakulärsten Aussagen hier), ziehen sich auch manche Akteure mit Einfluss oder zumindest Werbebudget von Facebook erst mal zurück.
Dazu gehören solche Sympathieträger wie die Commerzbank ("Brand-Safetyness und Datensicherheit sind uns sehr wichtig", zitiert handelsblatt.com einen Manager) und Elon Musk, der schon dadurch bekannt ist, dass deutschen Universalmedien jede Elon-Musk-Regung eine Meldung wert ist. Der vielschichtige Verlauf der "#DeleteFacebook"-Diskussion lässt sich natürlich (auch uneingeloggt) auf Twitter verfolgen.
"Selbst WhatsApp-Mitgründer Brian Acton, der seine Messaging-App für rund 22 Milliarden Dollar an Facebook verkauft hat, will jetzt mit Facebook nichts mehr zu tun haben. Wenn er das ernst meinen würde, sollte er allerdings seine 22 Milliarden Dollar spenden! Die meisten User sind noch eher zurückhaltend. Aus verständlichen Gründen: Ist man erst einmal vernetzt, ist man auch abhängig. Das ist ehemaligen Mitarbeitern zufolge von Facebook sogar gewollt",
schreibt Jörg Schieb im WDR-Blog Digitalistan, wo er dann auch seinen eigenen Auftritt in den ARD-"Tagesthemen" einbindet – aber nicht als Youtube-, sondern als Vimeo-Video. Was auch ein Symbol ist, schließlich ist Google keinen Deut harmloser als Facebook.
Fortsetzungen werden folgen. Keine Frage, dass Verlage, die Reichweite benötigen, um überhaupt Online-Einnahmen zu erzielen, bei Erwägungen, sich von Facebook vielleicht zu verabschieden, eher verzagen müssen als rundfunkbeitragsfinanzierte Angebote. Damit hinein in die ...
Wo die Öffentlich-Rechtlichen sehr wohl sparen (und wo nicht)
... neue Verlage-Öffentlich-Rechtlichen-Debatte, die Michael Hanfeld am Samstag auf seiner FAZ-Medienseite einleitete, indem er die NDR-Verwaltungsratsvorsitzende Dagmar Gräfin Kerssenbrock mit den aktuellen Chefs von ARD und ZDF zu den "Dreisten Drei" ernannte. Es geht wieder um die Frage, ob bei den Öffentlich-Rechtlichen bereits zuviel gespart wird (die ARD/ ZDF-Position) oder noch viel zu wenig (die Gegenposition).
Richtig ist: beides. Wo zum Beispiel nicht gespart wird, hat der gewöhnlich gut informierte Thomas Lückerath von dwdl.de läuten gehört. Das Erste Programm der ARD wolle
"die quotenschwachen Wiederholungen seiner Telenovelas 'Rote Rosen' und 'Sturm der Liebe' am Vormittag durch ein neues Magazin ersetzen. Titel der Sendung, die im Mai starten soll: 'Live nach neun'. Ein Moderatorenduo führt durch eine Sendung mit Gästen, Beiträgen und Live-Schalten in die Republik".
Damit wolle die ARD auf dem, ähm, wichtigen Sendeplatz am Morgen einem ihrer wichtigsten Konkurrenten Marktanteile abluchsen: dem genauso rundfunksbeitragsfinanzierten ZDF. Das sendet mit "Volle Kanne" ja schon seit dem 20. Jahrhundert morgens eine Alles-mögliche-Magazinsendung.
"Kein Wunder also, dass aus Mainz nach DWDL-Infos bereits Protest gegen die vom WDR verantwortete neue Sendung am Vormittag formuliert wurde. Das Signal sei fatal, heißt es beim ZDF. Zuletzt mühten sich ARD und ZDF schließlich, manche Doppelstrukturen abzubauen."
Anderswo wird sehr wohl gespart, wie Daniel Bouhs zu berichten weiß: in Wissenschaftsredaktionen der ARD, des ZDF und des Deutschlandfunks. Das sei ein "schleichender Prozess", zitiert er in der taz Franco Zotta, den Geschäftsführer der Wissenschaftspressekonferenz (und Ex-tazler). Der
"beobachtet 'praktisch überall Erosionsprozesse' – und das, obwohl kaum Programmflächen verloren gingen. So hätten sich die für die Sender günstigen Kollegengespräche, in denen sich letztlich JournalistInnen gegenseitig interviewten, in den Wissenschaftssendungen 'explosionsartig' ausgebreitet".
Gewiss ist Wissensvermittlung fast genau so ein öffentlich-rechtlicher Auftrag wie die umfassende Grundversorgung mit Fernsehkrimis. Aber Wissen vermittelt es ja auch, wenn Frank Plasberg oder Eckart von Hirschhausen Bernhard Hoëcker Quizfragen stellen und dann mitgeteilt wird, welche Antwort die richtige war. Wer braucht dazu andere Sendungen?
Wo übrigens wieder weniger gespart wird: am Führungspersonal. Einer der bestbezahlten Intendanten wurde erwartungsgemäß wiedergewählt. Herzlichen Glückwunsch schon mal an Tom Buhrow, einen unserer bestbezahlten Intendanten. Mehr dazu unten im Altpapierkorb. Bloß verdient aus der Ergänzung unter dem medienkorrespondenz.de-Artikel schon mal Erwähnung, was nach dem Wahlvorgang am Freitag geschah:
"Nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses fragte der WDR-Rundfunkratsvorsitzende Andreas Meyer-Lauber Tom Buhrow offiziell, ob er die Wahl annehme. Buhrow antwortete: 'Ich danke von Herzen für Ihr Vertrauen und ich nehme die Wahl sehr gerne an.' Daraufhin erhoben sich die Rundfunkratsmitglieder zu Standing Ovations für den wiedergewählten WDR-Intendanten."
Solche Rundfunkräte sind bekanntlich die strengen Aufsichtsgremien, die als einzige befugt sind, Rundfunkanstalten zu, äh, kontrollieren.
Deniz Yücel live und als Online-Aufzeichnung
Wer jedenfalls Ovationen verdient: Deniz Yücel. Jetzt ist er wieder da. Vom Besuch bei seiner alten Zeitung, der taz, berichtete Jann-Luca Zinser im Hausblog ein bisschen in der guten alten, auch auf Kontroverse zielenden Yücel-Schule ("Vor Deniz‘ Platz ein Sträußchen biodeutscher Petersilie mit weißer Rose in der Mitte. Seine Haare sehen aus, als wären sie seit der Entlassung wieder schwärzer geworden, graue Melange, Insignie der Erholung ...").
Vom ersten öffentlichen Auftritt im Festsaal Kreuzberg berichten die Berliner Zeitungen taz, Berliner Zeitung und Tagesspiegel. Dort schließt Kurt Sagatz schön Service-orientiert:
"Ein Mitschnitt der Veranstaltung ist hier zu finden: https://www.facebook.com/cosmoard/"
Hmpf. Geht's doch nicht ohne Facebook?, könnte man fast schon wieder verzagen. Doch halt: Cosmo ist das aus Diskussionen über doch nicht verhinderte Einsparungen bekannte Ex-Funkhaus Europa des WDR. Und die Öffentlich-Rechtlichen streamen vieles auch Sinnvolles. Bequemer lässt dieselbe Veranstaltung sich bis März 2019 auch hier beim WDR ansehen.
Altpapierkorb (Buhrow-Wahl, "Schönenborn-Identity", Fischer-Zeit-Streit, Roboter-Lokaljournalismus, Telefonate-Metadaten)
+++ Zurück zu Tom Buhrow. Der schon verlinkte MK-Artikel ist lesenswert, weil Dieter Anschlag da mit dem "noch unsichtbareren Intendanten" noch härter abrechnet ("gilt ... vielen nicht einmal als kritikwürdig, weil sich kaum noch jemand für ihn und seinen Sender interessiert"!) als es der harte Hans Hoff im am Donnerstag hier erwähnten Text tat. Den Fachbegriff "Schönenborn-Identity" sollten sich Medienbeobachter auch merken. Bloß wenn Anschlag den Rundfunkrat "bequem" nennt, übertreibt er vielleicht. Immerhin ist er dann ja zum Applaudieren aufgestanden ... +++ Eine ebenfalls kritische Buhrow-Zwischenbilanz unter besonderer Berücksichtigung der Einsparbemühungen ("Der Spareffekt ist nicht so doll ...") zog die Funke-Presse.
+++ Ebenfalls im Hamburger Abendblatt heizte Kai-Hinrich Renner eine neue Runde Spiegel-Chefredakteurs-Spekulationen an. Darauf und aufs just leicht modifizierte Layout des Spiegel geht der erwähnte harte Hans Hoff auf der SZ-Medienseite ("Der Spiegel wirkt softer als vielleicht je zuvor") ein.
+++ Spiegel-Meldung, die die SZ gern weiter dreht: Richter Fischer, der bekannte Kolumnist, und die Zeit haben sich final getrennt. Anlass ist der hier im Altpapier ausführlich behandelte Fischer-Text zur Dieter-Wedel-Frage.
+++ "Lokalredaktionen sind die Bienen des Journalismus: Während ihr Massensterben beklagt wird, scheint niemand in der Lage, die Misere zu beheben", leitet Arved Clute-Simon seinen taz-Artikel über Roboter-betriebenen Lokaljournalismus, der einem Professor zufolge auch keine "größere Bedrohung von Stellen, als es das Aussterben der Branche ist", darstelle.
+++ Ein schwerbehinderter deutscher Whistleblower saß in der Schweiz lange unter quälenden Bedingungen im Gefängnis? Das ist das "Ergebnis gemeinsamer Recherchen von Correctiv, der Zeit, dem ZDF-Magazin Frontal21 und der Schweizer Digital-Redaktion Republik", die hier bei correctiv.org zu lesen sind.
+++ Helfen Fake-News-Experimente gegen sog. Fake-News? Eher nicht, hat rheinneckarblog.de noch mal gezeigt (SZ, deutschlandfunk.de).
+++ "Ho-, ho-, hoffnungslos banal" lautet die Überschrift zu Oliver Jungens FAZ-Besprechung der Dokumentation "Deutschland ’68. (K)ein Jahr wie jedes andere!" heute nacht um 23.30 Uhr in der ARD.
+++ Und falls noch wer über Facebook diskutieren wollen sollte: Dass Facebook Metadaten zu Telefonaten sammelt, um "laut eigenen Angaben ... Vorschläge für neue Facebook-Freunde machen zu können" (wofür "die Berechtigungen ... in mobilen Apps eingeholt" würden), hat der Standard arstechnica.com entnommen.
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.