Das Altpapier am 19. März 2018 Kampfbegriff "Meinungsfreiheit"
Hauptinhalt
Uwe Tellkamp hat zwar nicht recht, aber recht – je nachdem, wer gerade den Faktencheck macht. In Dänemark wird die Rundfunkgebühr abgeschafft und durch Steuern ersetzt. Deniz Yücel und Dilek Mayatürk haben ihr erstes Interview nach seiner Freilassung gegeben. Und Nachrufe auf Jochen Senf und Michael Rutschky. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Hefte raus, Klassenarbeit! Alle machen bitte einen Faktencheck – und hinterher stimmen wir dann ab, welche Ergebnisse richtig sind.
Thema: Hat der Schriftsteller Uwe Tellkamp recht mit der folgenden viel zitierten Behauptung: "Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent. Das ist eine offizielle Untersuchung. 95 Prozent der Migranten"?
Ja, es ging also in den Zeitungen und Magazinen des Wochenendes noch immer um Tellkamps Streitgespräch mit Durs Grünbein vor mehr als einer Woche in Dresden – auch weil die Buchmesse in Leipzig einen Anlass bot, sich weitergehend mit den Details rund um die Hashtags #Literatur #NeueRechte und #Meinungsfreiheit zu beschäftigen.
Fakten sind nicht nackt
Unter der Überschrift "Tolle Tellkamp-Tage" nannte taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals in der Samstagsausgabe Tellkamps 95-Prozent-These eine Falschbehauptung: "Das ist Demagogie und kein Kavaliersdelikt." Die Spiegel-Dokumentarin Almut Cieschinger hatte, nachdem sie die Fakten gecheckt hatte, schon am Donnerstag bei Spiegel Online geschrieben, die Behauptung des Schriftstellers sei "komplett falsch". Der aktuelle Print-Spiegel sekundiert: "Diese Zahl ist nicht zu halten."
Rainer Hank hat im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter der Überschrift "Uwe Tellkamp und die Migranten. Ein Faktencheck" (Seite 26) aber eine Möglichkeit gefunden, wie Tellkamp doch recht haben könnte: Wenn man "Einwanderung in die Sozialsysteme" nicht als Einwanderung in die "soziale Hängematte" verstehe, sondern als Einwanderung in den deutschen Sozialstaat mit Urlaubsanspruch, Kündigungs und Versicherungsschutz vor Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit, dann, ja dann… könne man sagen, so Hank, dass Tellkamp "völlig recht" habe.
Also zumindest wenn man das sagen will und großzügig darüber hinwegsieht, dass das mit den 95 Prozent und das mit der offiziellen Untersuchung in Tellkamps Sätzen auch dann nicht stimmt.
Tellkamp hat den verfügbaren Faktenchecks zufolge also zwar nicht recht, aber recht. Ein Fakt will man unter diesen Umständen eigentlich lieber nicht sein. Wer nicht nur die Texte liest, die einem selber in den Kram passen, wird sich wohl des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Fakten im Schatten der großen Erzählungen und politischen Debatten ein tristes Dasein führen. Rainer Hank sagt es so: "Jeder Faktencheck beruht auf Hermeneutik, nackt gibt es ihn nicht. Deshalb wird jetzt so viel gestritten."
Vielleicht wäre als zweites Element des Checks so etwas wie eine Netzwerkanalyse hilfreich.
Kampfbegriff "Meinungsfreiheit"
Wenn wir aber schon beim Streiten sind: Haben wir eigentlich noch "Meinungsfreiheit" beziehungsweise, andersherum, schon eine "Gesinnungsdiktatur"? Die Frage sei zwar "so absurd, dass es eigentlich keiner weiteren Diskussion bedürfte", schreibt die FAZ. Aber darüber wird gerade ernsthaft debattiert, im Sinn von: Leute, die das zu glauben behaupten, und Leute, die das nicht glauben, werden gleichermaßen zitiert. Ist natürlich auch gut so, wir haben ja schließlich Meinungsfreiheit.
Da sind wir beim zweiten Aspekt der Großwetterlagenfeuilletontexte des Wochenendes. Der Spiegel schreibt: "Der Konflikt zwischen Tellkamp und Grünbein war nur das Donnergrollen in der Vorwoche der Messe. Es folgte der Aufgalopp, in dem die Lager sich in Stellung brachten." Und Gustav Seibt befindet in der Süddeutschen Zeitung:
"'Meinungsfreiheit' ist ein Kampfbegriff geworden, vor allem auf der Rechten."
Man könnte auch sagen: ein Pappkamerad wie "Political Correctness". Der Kampf um "Meinungsfreiheit" und gegen eine "Gesinnungsdiktatur" ist die Fortsetzung der PC-Debatte mit anderen Mitteln.
Wer von "politischer Korrektheit" spricht, meint immer die vermeintliche Besserwisserei mit Unfehlbarkeitsanspruch der anderen. Denn das Gegenstück zu "korrekt" ist "falsch" – im Grunde wird dem politischen Gegner also vorgeworfen, er wähne sich im Besitz einer alternativlosen Moral. Der Punkt ist nur, dass sich niemand selbst "politisch korrekt" nennt. Es ist ein Kampfbegriff, der dazu dient, die Gegenposition als simpel, hypermoralisch und überheblich zu kennzeichnen. Wer gegen die "PC" ist, reitet in den Kampf gegen die "Gesinnungsdiktatur" – und versetzt sich so wie nebenbei in die Position, im Dienst der guten Sache namens "Meinungsfreiheit" über zum Beispiel Ausländer herziehen zu können.
Anno 2018 behauptet man einfach gleich ohne Umschweife, dass man die "Meinungsfreiheit" gegen eine "Gesinnungsdiktatur" verteidigen müsse. Noch einfacher. Wer früher nur "politisch korrekt" war, ist jetzt diktatorisch unterwegs – ein gutes Beispiel für verbale Aufrüstung.
Dass das Geschrei den Inhalt bisweilen überlagert, ist in diversen Texte vom Wochenende ein größerer Aspekt. Der Spiegel etwa hat zum Thema nicht nur, aber auch den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen befragt:
"'Jemand sagt etwas, aber dann beginnt kein Gespräch, kein suchendes, um Nuancen bemühtes Verstehen. Dann beginnt die Sofort-Etikettierung der anderen Position, die Empörung über die Empörung der jeweils anderen Seite. 'Seht her! Ihr wollt nur erziehen! Nur stigmatisieren! Nur moralisieren!'' Eigentlich handle es sich nicht um den Austausch von Argumenten, sondern um die von Ressentiments gesteuerte Simulation einer Debatte."
Der Unterschied zwischen Gebühr und Steuer
Und wir bleiben im weiteren Sinn beim Thema: Es geht um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dem wird bekanntlich in dem einen oder anderen europäischen Land ebenfalls dies und das vorgeworfen. Zum Beispiel, "nicht neutral zu sein". Das hat etwa die rechtspopulistische Dänische Volkspartei, die "regelmäßig für parlamentarische Mehrheiten gebraucht" wird (taz), immer wieder dem öffentlich-rechtlichen Danmarks Radio (DR) vorgehalten. Die SZ schreibt:
"Morten Messerschmidt, der für Partei im EU-Parlament sitzt, nannte den DR eine 'demokratische Bedrohung'. Der Sender diene dem linken Flügel".
Nun ist es so, dass in Dänemark die Rundfunkgebühr abgeschafft und durch Steuern ersetzt werden soll. Statt "340 Rundfunkgebühr im Monat" (kurze SZ-Meldung vom Samstag total inkorrekt) bzw. "im Jahr" (SZ-Text vom Montag korrekt) sollen die Kosten über Steuern gedeckt werden. Der Tagesspiegel:
"Das Budget des dänischen Rundfunks (DR) soll zudem um ein Fünftel gekürzt werden. Durch die Neuregelung sparten letztlich alle Dänen Geld, erklärte Finanzminister Kristian Jensen am Freitag. Für die Rundfunkfinanzierung soll allerdings keine neue Steuer eingeführt, sondern der persönliche Steuerfreibetrag gesenkt werden."
Gibt es dann noch sowas wie die Serie "Borgen"?, fragt im Namen des internationalen Zuschauers die Süddeutsche.
Diese Entwicklung ist aber hart gerade auch für alle, die bislang bereits Steuer zur Rundfunkgebühr gesagt haben, weil das angeblich das Gleiche ist. Denn jetzt scheint sich gerade doch die Erkenntnis durchzusetzen, dass es da vielleicht einen kleinen Unterschied geben könnte. "Wer fast vollständig über eine zweckgebundene Steuer – denn das ist die Zwangsgebühr – finanziert wird, ist abhängig vom Staat", schrieb etwa FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im August im Rahmen der nicht von übertrieben peniblen Faktenchecks geprägten deutschen medienpolitischen Debatte.
Die SZ nun:
"Kritiker befürchten (…), dass der DR durch die Steuerfinanzierung an Unabhängigkeit verlieren könnte. Wenn künftig über die Finanzen des DR verhandelt werde, bestehe das Risiko politischer Rache, schreibt etwa die Tageszeitung Berlingske. Zudem könnte die Leitung des DR ihre Unabhängigkeit kaum garantieren, wenn jeder schon die wirtschaftliche Axt sehen könne, die beim nächsten Steuergesetz zu fallen drohe."
Eine Steuer "würde dem Staat wieder mehr Einfluss auf den Journalismus geben, warnte DJV-Vorsitzender Frank Überall kürzlich", heißt es bei Welt Online.
In der taz heißt es allerdings: Über die Abschaffung der Rundfunkgebühr werde in Dänemark weniger kontrovers gestritten als über die Höhe der geplanten Einsparungen – 20 Prozent des bisherigen Budgets, statt, wie zunächst geplant, nur 12,5 Prozent. Die Gebühr selbst sei auch von der Linksopposition schon länger als "unsolidarisch", weil unabhängig vom Einkommen, infrage gestellt worden. "Selbst die Sozialdemokraten waren als größte Oppositionspartei nicht gegen die Umstellung", so die SZ.
Deniz Yücels erstes Interview
Haben wir heute schon über tatsächliche Bedrohungen der Meinungs- und Pressefreiheit gesprochen? Nein, oder? Wir hätten da noch was. Deniz Yücel und Dilek Mayatürk Yücel, seine Frau, haben ihr erstes Interview seit Yücels Freilassung aus türkischer Untersuchungshaft gegeben – erwartungsgemäß der Welt und der taz, also seinem Arbeitgeber und seinem ehemaligen Arbeitgeber. Daniel-Dylan Böhmer und Doris Akrap, die auch zum Freundeskreis #FreeDeniz gehör(t)en, haben sie interviewt. Zitieren wir aus dem sehr langen, lesenswerten Text doch einfach die Passage, die zum Rest dieser Kolumne irgendwie am besten passt:
Böhmer: "Muss man das Risiko, inhaftiert zu werden, grundsätzlich in Kauf nehmen, wenn man seinen Job als Journalist ordentlich macht unter einem Regime, dem die Meinungs- und Pressefreiheit egal ist?"
Yücel: "Ich glaube: ja. Du kannst einzelne Fragen abwägen. Aber du kannst nicht deine komplette Arbeit danach gestalten. Gerade in Ländern, in denen Journalismus am meisten vonnöten ist, ist die Risikoabwägung besonders schwierig. Die Frage 'Ist der slowakische Kollege Ján Kuciak ein Risiko eingegangen, indem er über Korruption berichtet hat?' bedeutet in Wahrheit: 'War er selber schuld an seinem Tod?' Aber nicht Ján Kuciak ist schuld an seiner Ermordung, sondern die Mörder und deren Auftraggeber. Man erfüllt als Journalist eine gesellschaftliche Aufgabe."
Und Sie, liebe/r taz-Leser*in beziehungsweise lieber Welt-Leser, fragen sich jetzt bitte, warum Sie auf den Link zur taz beziehungsweise den zur Welt geklickt haben und nicht auf den anderen Link. Vielleicht können Sie so auch schon herausfinden, was Ihrer Ansicht nach beim nächsten Faktencheck herauskommt.
Altpapierkorb (Nachrufe auf Jochen Senf und Michael Rutschky, Hazel Brugger im Interview)
+++ "(E)r gab die eigenwillig das Recht auslotende Figur zwischen Beamtenstatus und kreativer Verschrobenheit fast so schillernd wie Schimanski und Co. (…) Wobei der 1942 in Frankfurt geborene Sohn eines Politikers nach seinem Studium der Germanistik und der Romanistik auch Hörspieldramaturg, Krimiautor, Theater- und Kinoschauspieler wurde." In der SZ steht ein Nachruf auf den Schauspieler Jochen Senf, einem großen Publikum bekannt vor allem als saarländischer "Tatort"-Kommissar Palu. Ebenfalls Nachrufe gibt es beim Tagesspiegel, bei DWDL oder bei Zeit Online.
+++ Hazel Brugger spricht im Spiegel-interview (€) über die "heute show" und ihren "passiven Feminismus".
+++ Der Publizist Michael Rutschky ist gestorben. Thomas Schmid ruft bei Welt Online einem "großen Chronist deutscher Befindlichkeiten" nach. Dirk Knipphals in der taz einem "Kulturoptimisten" nach. Willi Winkler in der SZ einem "ethnografischen Denker".
+++ Dass Scientology jetzt einen eigenen Fernsehsender habe, darüber schreibt die Süddeutsche vom Montag: "Das Faszinierende ist, dass es funktionieren könnte. Wer einen Tag lang den soeben gestarteten Fernsehsender von Scientology guckt, der könnte wirklich versucht sein zu glauben, dass eine Mitgliedschaft bei der Sekte sämtliche Probleme des Lebens löst." Wir müssen reden, Jürgen Schmieder!
Frisches Altpapier gibt es am Dienstag.