Das Altpapier am 5. März 2018 Der Voyeur in uns allen

Die SPD geht in die Große Koalition, und wer hat es durchgestochen? Johnny Nash. Ist der politische Journalismus noch schneller geworden, als er eh schon war? Oder gehört das Tempo mittlerweile zur politischen Substanz? Der möglicherweise neue Umgang der 'Ndrangheta mit Journalisten. Und: das Neue an "Gladbeck". Ein Altpapier von Klaus Raab.

+++ Alles über die Schweizer No-Billag-Abstimmung, die am Sonntag mit einem Nein zur Abschaffung der Rundfunkgebühren endete, finden Sie in einem Spezial-Altpapier.

Journalistinnen und Journalisten drankriegen, das können sie bei der SPD. Das Willy-Brandt-Haus war gut gefüllt am Sonntagmorgen, Medienleute warteten auf das Ergebnis des Mitgliederentscheids über die Beteiligung der Partei an einer schwarz-roten Koalition – aber statt dass mal jemand ans Mikrofon trat, wurde das Ergebnis erstmal über allerlei "Kreise" oder von einem Parteivorstand via Musikempfehlung bei Twitter halb verkündet ("It's gonna be a bright, bright Sun-Shiny day"). Newsvermittlung aus dem YouTube-Archiv, lustig. Das Ganze mit dem Resultat, dass eine besondere journalistische Form zum Einsatz kam: die nicht weitermeldbare Eilmeldung.

Aber wir wollen hier kein Mitleid mit uns Journalistinnen und Journalisten. Muss man halt was Ordentliches lernen. Nein, der größere Blick ist interessanter, gemäß dem alten Motto der Newsjournalismus-Skeptiker: Was in einem Jahr nicht mehr wichtig ist, kann so wichtig nicht sein.


Stephan Lamby, der sich zuletzt etwa des Spitzenpersonals der Bundestagswahl, der schwarzen Kassen Helmut Kohls und der Nervösität der Republik angenommen hat, wirft diesen größeren Blick auf die Regierungsbildung im ARD-Film "Im Labyrinth der Macht", der heute läuft. Es handle sich, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibt, um den "Versuch einer Historisierung im kürzest möglichen Abstand zu den Ereignissen selbst".

Der Umgang der 'Ndrangheta mit Journalisten

Bevor wir weiter unten auf den Film zurückkommen, geht es hier aber erst einmal statt mit der deutschen Sozialdemokratie weiter mit der slowakischen.

Schauen wir also in die Slowakei. Dort wurden vergangene Woche der Investigativjournalist Ján Kuciák und seine Verlobte Martina Kušnírová ermordet (Altpapier). Kuciák hatte für das zu Ringier Axel Springer Media gehörende aktuality.sk zuletzt an einer Enthüllungsgeschichte über die Verbindungen der kalabrischen ‘Ndrangheta zu slowakischen Regierungskreisen bis in den inner circle um Premierminister Róbert Fico. Alex Rühle hat für die Samstags-SZ den slowakischen Schriftsteller und Kollegen von Kuciak, Michal Hvorecký, interviewt. Er sagt:

"Fico ist mitverantwortlich für Angriffe gegen die freie Presse, weil er seit Jahren behauptet, die kritischen und unabhängigen slowakischen Journalisten seien vom Ausland bezahlte Feinde des Staates. Er nannte uns ‚dreckige, antislowakische Prostituierte‘, Idioten, Hyänen, ‚schleimige Schlangen‘. Er hasst die freie Presse. Mich hat er auf dem vorletzten Parteitag ‚Unruhestifter und Krawallmacher‘ genannt. Das ist das Diskursniveau der slowakischen Sozialdemokratie."

Die Unruhe, die sich schon vergangene Woche unter europäischen Journalistinnen und Journalisten angesichts der Morde ausbreitete (Altpapier) – schon deshalb, weil Kuciák nach der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia schon der zweite ermordete Journalist ist, der etwa an den Recherchen zu den Panama Papers beteiligt war –, erklärt sich Hvorecký damit, dass "im Osten der EU (…) in den vergangenen 26 Jahren kein Journalist ermordet" worden sei. "Das Ganze hört sich an wie aus einem Buch von Roberto Saviano."


Neues Verhaltens der ‚Ndrangheta gegenüber Journalisten?

Tatsächlich: Mafia-Experte Saviano hat auch selbst einen Text für Die Welt (€) geschrieben, in dem er seine Deutung der Morde wiedergibt: Falls sich herausstellen sollte, dass die 'Ndrangheta für die Ermordung Ján Kuciáks verantwortlich sei, würde dies „ein neues Verhaltensmuster der kalabrischen Kriminellen“ zeigen, so Saviano. Bisher hätten diese es immer vermieden, Journalisten anzugreifen. Vielmehr hätten sie in den vergangenen Jahren "auf Gewaltandrohung oder Rufmord" gesetzt, "also die Zerstörung der Glaubwürdigkeit". Dass sie hier anders agierte, würde darauf hindeuten, „dass die Organisation schnell reagieren musste, um die Veröffentlichung von Informationen zu verhindern“. Die große Aufmerksamkeit, die ihr nun gewidmet werde, schade ihr zwar, das sei aber eingepreist:

"In diesem Fall war es notwendig, einen Teil des Geschäfts und einen Teil der Organisation zu opfern, um größere und komplexere Interessen zu schützen. Aber nicht nur das. Mit dem Mord wird eine terroristische Nachricht an alle Journalisten gesendet: ‚Wir können euch alle kriegen, ihr seid alle in unserem Visier‘, das ist die Botschaft der Exekution von Ján Kuciák."

Dass eine EU-Delegation am Mittwoch in die Slowakei reisen wolle, um Informationen über die Tat und ihre Hintergründe zu sammeln, und dass der slowakische Präsident Andrej Kiska – ein Rivale von Premier Fico – eine Regierungsumbildung oder Neuwahlen fordert, sind die jüngsten Nachrichten.


"Wir sind alle getrieben"

Der Blick in den Medienressorts richtete sich am Wochenende darüber hinaus in besonderer Weise aufs Fernsehen. Damit zurück zum Film von Stephan Lamby. Zumindest darin geht es auch um die Rolle "der Medien" bei der Regierungsbildung. Katarina Barley von der SPD etwa kommt in diesem ARD-Film zu Wort mit dem Satz: „Wir sind al­le ge­trie­ben. Das ist Teil der Me­di­en­ge­sell­schaft.“

Das ist ein schöner Satz, nur, wie äußert sich Getriebenheit konkret? Barley lege "Wert auf die Differenz von Geschehen und medialer Verarbeitung, indem sie auf den Einfluss des zweiten auf das erste hinweist", schreibt Mark Siemons in einer Rezension des Films in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Stephan Lamby selbst wird zum Stand des politischen Journalismus zitiert:

"Alle Versuche, zu entschleunigen und zu versachlichen, haben es schwer, weil der ökonomische Druck enorm stark ist. Streit verkauft sich besser als Nachricht."

Mark Siemons stellt allerdings nach Sichtung des Films in der FAS fest:

"In der Sache (…) sagen alle Gesprächspartner und auch der Sprecher aus dem Off mehr oder weniger das Gleiche, was in der Tagesberichterstattung auch schon immer alle sagten: Die Jamaika-Verhandlungen waren voller Selbstdarsteller, um Merkel wurde es immer einsamer, Schulz hätte sich seine Versprechen besser vorher überlegen sollen."

Mit Langsamkeit kommt also auch nichts anderes? Heißt das, dass die Berichterstattung die Realpolitik also doch gut abbildet und das Wesentliche im Blick hat? Heißt das, dass Geschwindigkeit, Personalisierung und mediale Inszenierung zur politischen Substanz gehören? Johan Schloemann hat zu diesem zweiten Gedanken vor knapp zwei Wochen in einem SZ-Leitartikel über die Personalisierung der Politik geschrieben:

"Das Ideal, wonach Personen mit ihren Ämtern einerseits und Sachfragen andererseits zu trennen seien, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch gar nicht erstrebenswert. (…) Charakter, Auftritt, politische Vorhaben und zum Teil schlichte Verwaltungsaufgaben greifen ineinander. Die Sachfragen sind nie alles, sonst lebten wir in einer Experto- und Technokratie."

In der Rezension der FAS klingt das so:

"Gehört es vielleicht zum Wesen des Akteurs, dass er aus seiner Rolle gar nicht heraustreten und das Geschehen nicht anders beschreiben kann denn als Interaktion unter Akteuren? Dann hätte es seinen Sinn, dass der Film inhaltlichprogrammatische Fragen ganz ausklammert, ebenso wie die gesellschaftlichen Polarisierungen, vor deren Hintergrund sich die Regierungsbildungsversuche abspielen – und dass auch der strukturelle Umbruch, der sich in den Mehrheitsbeschaffungsmühen ausdrückt, zwar angesprochen, aber nicht zum Thema gemacht wird."


Verfilmte Wikipedia

Mehr Aufmerksamkeit bekommt aber noch ein anderer ARD-Film, der Zweiteiler "Gladbeck" über – genau – die Geiselnahme von Gladbeck 1988, der am Mittwoch und Donnerstag läuft. Der Film, der angesichts der Sensationslust, die rund um die Verbrechen damals zu beobachten war, zwangsläufig auch ein Film über Journalismus ist, ist nah dran an den realen Geschehnissen: "ein dramatisch verdichtender Spielfilm", wird Regisseur Kilian Riedhof im Spiegel zitiert. Martin Wolf schreibt dort, es gehe um

"den Voyeur in uns allen. Und darum, dass sich damals ankündigte, wohin sich die Gesellschaft einmal entwickeln würde – in eine weltweite Aufmerksamkeitsökonomie im Dauersendebetrieb. Gladbeck war erst der Anfang."

So kann man es sehen, so wurde Gladbeck natürlich auch schon gesehen, und die Frage, die Harald Staun im FAS-Medienseitenaufmacher aufwirft, ist daher durchaus stellenswert: Braucht man einen solchen Film ohne neue Thesen, wenn es doch schon mehrere Bearbeitungen des Stoffs gab und man das Originalmaterial von einst eh umfänglich bei YouTube sehen kann?

Schön jedenfalls im Sinn einer Diskussion, dass die Meinungen zumindest ein bisschen auseinander gehen. Der Spiegel sieht in "Gladbeck" einen "der Fernsehhöhepunkte des Jahres". Die FAS dagegen sieht "die beste Kopie der Geschichte, die man jenen, die zu jung sind, um sich an die drei Tage im August 1988 zu erinnern, wünschen kann; eine Wikipedia-Version des Dramas“.


Die im Rahmen der üblichen Geschichtsfilm-Großprogrammierung laufende zusätzliche Dokumentation von Radio Bremen jedenfalls hat bei diesem Stoff ein Alleinstellungsmerkmal: Es gibt so viel Originalmaterial, dass sie ohne fiktionale Szenen aus dem vorher laufenden Spielfilm auskommt.


Altpapierkorb (Geisteszustand von Satire und Comedy, taz-Rentner, "Bad Banks", "Solo für Weiss", Blockchain, Waldemar Hartmann@Instagram)

+++ Was ist los mit der Satire? Peter Unfried bespricht das in der taz mit Alfred Dorfer.
taz: "Jan Böhmermann ist das gute Gewissen der digitalen Generation geworden. Politische Haltungen werden von Fernsehsatirikern wie Leitartikel ins Publikum geschmettert. Selbst die ZDF-‚heute-show‘ gibt sich belehrend-moralisch."
Dorfer:
"Ich dachte, das wäre ein österreichisches Phänomen, dass man im Umfeld einer verwüsteten Medienlandschaft Künstlern eine größere Zuverlässigkeit zuspricht, was politische Aussagen betrifft, weil die keine Subventionen empfangen und anscheinend unabhängig wirken. In Deutschland wundert mich das etwas, weil man hier ja keine so schwer verwüstete Medienlandschaft hat. Das ist für mich ein Misstrauensantrag gegen die Medienwirtschaft."
taz: "Also gegen klassische Nachrichtenmedien?"
Dorfer:
"Ja. Oder zweite Interpretation: Die Art und Weise der Darbietung, an der Grenze zur Seriosität, leicht augenzwinkernd, kann man eher vertragen als die klassische Sprache der Nachrichtenüberbringung. Die Frage ist, ob es wirklich so ist, dass die Medien ihren Auftrag nicht erfüllen. Oder ob die Medien, die ihn erfüllen, nicht die Millionen erreichen, die die ‚heute-show’ hat. Da tendiere ich eher zu Zweiterem."

+++ Es bietet sich an, hier weiterzumachen mit der Frage: Sind deutsche Comedians homophob? In einem neuen Buch wird das auf Basis von belastenden Witzen u.a. Dieter Nuhr und Jürgen von der Lippe vorgeworfen, die sich im Spiegel (hier eine Online-Version) gegen den Vorwurf wehren. Alexander Kühn schreibt, Nuhrs zitierter Witz verstoße eher "gegen die Forderung des Satirikers Leo Fischer: Natürlich müsse es Schwulenwitze geben, sie sollten halt nur gut sein."

+++ Waldemar Hartmann fährt wieder zur Fußball-WM – "bei einem Start-up auf Facebook und Instagram", wie dpa berichtet, wie etwa die SZ schreibt.

+++ Ebenfalls in der SZ: ein Text über die Blockchain-Technologie als zukunftsweisende für den Journalismus: "Die Blockchain kann man als eine Art digitale Kartei beschreiben, die durch kryptografische Verfahren und tausendfache öffentliche Kopien gegen Manipulation gesichert ist. Bei Bitcoin steht in dieser Kartei etwa, wer wie viele Einheiten besitzt. Kauft jemand etwas, wird die Transaktion auf einer neuen Karteikarte notiert, die wiederum jeweils ans Ende der Kette geheftet wird. Man kann in eine solche Kartei aber auch jede andere Information schreiben, also zum Beispiel auch journalistische Werke."

+++ Ulrike Simon hat für Spiegel Daily mit einigen der ersten gesprochen, die bei der einst "jüngsten deutschen Zeitungsredaktion" – bei der taz – gerade in Rente gehen, gingen oder in den kommenden Jahren gehen werden: Auslandsredakteur Georg Baltissen etwa, der als CvD eine Zeitlang die "verboten"-Titelseitenglosse verantwortete und dafür immer wieder Autorinnen und Autoren suchte. Es findet sich der schöne Absatz: "Oft springt Deniz Yücel ein, als der noch nicht an einen Wechsel zur ‚Welt‘ denkt. Baltissen mag Yücel. Seine politischen Ansichten hält er für schwachsinnig. Aber er fetzt sich gern mit dem jüngeren Kollegen, und Yücel erweist sich als ein wunderbarer "verboten"-Autor." Eine andere tazlerin, Jutta Lietsch, deren Ruhestand im März begann, kommt auch zu Wort. Die taz hat sie am Wochenende mit einem kleinen Text verabschiedet.

+++ Die Serie "Bad Banks" (Altpapier) gehe mit einer zweiten Staffel weiter, meldet DWDL.

+++ Nochmal "Gladbeck": In der Welt am Sonntag gibt es ein Interview mit den zwei Hauptdarstellern Sascha Geršak und Alexander Scheer.

+++ Noch ein Fernsehfilm: "Solo für Weiss" mit Anna Maria Mühe (ZDF, 20.15 Uhr) wird in der Montags-FAZ und im Tagesspiegel besprochen. Die FAZ sieht den bislang schwächsten Teil einer schwachen Reihe. Der Tagesspiegel, weniger kritisch, aber im Ausgang ähnlich, schreibt: "Gemessen am formidablen zweiteiligen Auftakt ist Teil drei ein vergleichsweise normaler TV-Krimi". Die Welt findet vor allem Mühe gut.

+++ Dass Steffen Grimberg und Bastian Obarowski von heute an beim MDR das Portal Medien360G verstärken, auf dem auch das Altpapier erscheint, steht bei Meedia.

Neues Altpapier gibt es morgen.