Das Altpapier am 27. Februar 2018 Sie holen die dreckigen, antislowakischen Prostituierten
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In der Slowakei sind der 27 Jahre alte Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Freundin erschossen worden. In der Türkei fragen sich eingesperrte Journalisten, ob nicht deutsche Politiker ihre Freilassung veranlassen könnten. Brüssel-Korrespondenten sollen aus dem Fall Martin Schulz einiges lernen. Medienethiker mögen das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem. Arte verdokut Dmitri Schostakowitschs Leningrader Symphonie. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Auf Platz 17 und damit hinter Deutschland und vor Portugal, da führen die Reporter ohne Grenzen auf ihrer Rangliste der Pressefreiheit 2017 die Slowakei - allerdings fünf Plätze tiefer als noch im Jahr zuvor. Unabhängige Medien könnten auch kontroverse Meinungen wiedergeben, heißt es zudem. "Die meisten privaten Häuser gehören jedoch einflussreichen Unternehmern, die über unklare Besitzverhältnisse ihre Verbindungen zu Politik und Wirtschaft verschleiern."
Seine Zeitung, die akutality.sk, zeigt heute sein Foto und einen Nachruf, dem sogar der Google-Übersetzer nicht den Schock und die Würde zu nehmen vermag ("Dass sich das Unternehmen zum Besseren wenden wird, wenn wir über Betrüger, Diebe, Korrupte schreiben. Wir haben es wirklich geglaubt. Wirklich sehr"). Sein Verlag, Axel Springer, erklärte in einer Pressemitteilung Entsetzen und Fassungslosigkeit.´
"Auch wenn die Hintergründe noch nicht vollständig aufgeklärt sind, liegt der Verdacht nahe, dass das Verbrechen im Zusammenhang mit einer laufenden Recherche unseres Kollegen steht."
Steuerhinterziehung und krumme Geschäfte zwischen Unternehmern sowie deren Verbindungen zur Politik, das waren Kuciaks Themen. Die beiden ehemaligen Nachbarn Marián Kočner und Róbert Fico hatte er dabei besonders im Visier - Ersterer Unternehmer, Letzterer Ministerpräsident. 29 Artikel widmete Kuciak allein im vergangenen Jahr Kočners Geschäften, schreibt Alexandra Mostyn in der taz. In diesem Jahr seien noch vier weitere erschienen.
"Darin warf Kuciak dem Immobilienspekulanten vor, in mafiaähnliche Strukturen eingebunden zu sein. Auch dank undurchsichtiger Geschäfte mit dem Staat soll Kočner zu seinem Reichtum gekommen sein. (…) Er werde Dreck über ihn und seine Familie herausfinden und veröffentlichen, hatte Kočner Kuciak schon im letzten Sommer gedroht. Die Bearbeitung der Strafanzeige, die er daraufhin gestellt hatte, ziehe sich verdächtig lange hin, meinte Kuciak dazu später."
Genau da setzt Bastian Obermayer an, wenn er heute auf der Meinungsseite der SZ fordert:
"Die slowakische Politik muss nun zeigen, dass sie derartige Verbrechen nicht duldet. Sie muss mit aller Entschlossenheit den oder die Täter zur Verantwortung ziehen. In einem Land, in dem sowohl der Regierungschef als auch ein Minister sich abfällig über recherchierende Journalisten geäußert haben, ist dies leider nicht selbstverständlich."
Was Obermayer nur höflich andeutet, hat Stephan Löwenstein auf der Medienseite der FAZ (Blendle-Link) im verstörenden Wortlaut:
"Fico habe sie (die Journalisten, Anm. AP) als 'dreckige antislowakische Prostitutierte' bezeichnet. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hat sogar einmal bei einer Begegnung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin – offenbar im Scherz – im öffentlichen Plausch befunden, es gebe zu viele Journalisten, man solle vielleicht ein paar von ihnen liquidieren."
Aktuell zitiert Löwenstein den gleichen Fico aber auch mit "Wenn es sich herausstellt, dass der Tod des Investigativreporters mit seiner journalistischen Arbeit zusammenhängt, dann wäre das ein beispielloser Angriff auf die Pressefreiheit und die Demokratie in der Slowakei" und verweist auf die ausgeschriebene eine Millionen Euro Belohnung für Hinweise zur Ergreifung des oder der Mörder.
Schnelle Aufklärung fordert - natürlich - auch Christian Mihr von den Reportern ohne Grenzen. "Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten ist in einem Land der Europäischen Union ein Journalist ermordet worden", zitiert ihn die Pressemitteilung zudem.
Daphne Caruana Galizia. Ján Kuciak. Und ja, Malta und die Slowakei liegen beide in Europa und gehören zur EU. Pessimisten können ihren Martin Niemöller testweise mal mit Journalisten durchdeklinieren.
Wie viel unabhängige Justiz steckt in Deniz Yücels Freilassung?
Und es wird nicht besser. Dass beim Immer-noch-EU-Beitrittskandidaten Türkei auch nach Deniz Yücels Freilassung noch Journalisten im Gefängnis sitzen, einfach, weil sie ihren Job gemacht haben, ist Altpapier-Lesern natürlich bewusst. Dennoch lohnt es sich als Erinnerung und auch kritische Nachbereitung des Falles Yücel den Text von Muratcan Sabuncu zu lesen, der heute auf der Medienseite der FAZ (Blendle-Link) erschienen ist. Sabuncu ist der Sohn des Cumhuriyet-Chefredakteurs Murat Sabuncu, der seit Oktober 2016 in Silivri in Haft sitzt. Aus seiner Arbeit hat die Staatsanwaltschaft den türkischen Klassiker-Vorwurf "Kontakt zu Terrororganisationen" gebastelt.
Es lohnt sich das ausführliche Zitat:
"Ein Anwalt könnte fragen, ob die Bundeskanzlerin und der deutsche Außenminister nun die Rechtsnormen in der Türkei bestimmen. Ein türkischer Journalist könnte fragen, ob er, wenn er in der Türkei zum Wohl der türkischen Bevölkerung arbeitet und keine andere Staatsangehörigkeit hat, gegenüber Kollegen mit doppelter Staatsangehörigkeit benachteiligt ist. Einfache türkische Bürger könnten fragen, ob sie sich – in Ermangelung einer unabhängigen Justiz, die ihre verfassungsmäßigen Rechte schützt, angesichts der Tatsache, dass Strafgerichte die Entscheidung des Verfassungsgerichts ignorieren, und angesichts des einschlägigen Schweigens des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – mit ihren Anliegen am besten gleich an deutsche Politiker wenden.
Wir alle sollten fragen, ob die Situation der türkischen Journalisten und die Menschenrechtsverstöße in der Türkei für europäische Politiker nicht mehr interessant sind, sobald einer ihrer Staatsbürger freigelassen wurde. Sie und alle anderen Europäer werden hoffentlich nie vergessen, dass die Türkei – als Mitglied des Europarats, als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention, ja selbst als EU-Beitrittskandidat – die Menschenrechte schützen muss. Nach dem Völkerrecht ist die Türkei dazu verpflichtet."
Brüssel-Korrespondenten verantworten das Bild einer nervigen EU
Da sind also die Journalisten, die für ihren Job ihre Freiheit und sogar ihr Leben riskieren. Und da sind die, die in den vergangenen Monaten damit beschäftigt waren, einen Politiker mit "überdurchschnittlich fröhliche(r) Bereitschaft zur Unaufrichtigkeit", wie Hans-Martin Tillack sich vor zwei Wochen bei stern.de selbst zitierte (Altpapier), zu Sankt Martin und damit dem Retter der Sozialdemokratie umzuschreiben.
Wie das passieren konnte, hat Tillack bereits analysiert. Er macht zum einen gutes Marketing der SPD und zum anderen ein Hauptstadtjournalisten-Rudel, das den Kollegen aus Brüssel nicht traut und selbst nicht recherchiert, verantwortlich. Diesen Faden nimmt nun bei Übermedien EU-Korrespondent Eric Bonse auf und leitete daraus Selbstkritik für die Arbeit der Brüsseler Journalisten ab:
"Das soll nicht heißen, dass die europäische Brille unbedingt besser wäre. Wo die Journalisten in Berlin zu sehr auf Personalisierung und Zuspitzung setzen, begehen viele Kollegen in Brüssel den entgegengesetzten Fehler: Sie stellen die News aus Europa entpersonalisiert und institutionalisiert dar. Sie berichten über die EU und ihre Politiker mit dem wohlmeinenden Weichzeichner – kein Wunder, dass sich in Berlin das Bild einer langweiligen und letztlich irrelevanten Konsenskultur festsetzt."
Auf einen langweiligen Bürokratenhaufen glauben mittlerweile manche Europäer gut verzichten zu können. Diese Sache mit dem Garanten für Frieden und Freiheit in Europa wollte ich darüber jetzt aber ungerne aufs Spiel setzen.
Fake News klicken schlecht und bleiben doch ein Problem
Was fehlt noch in dem deprimierenden Medienmeldungskonglomerat des heutigen Tages? Genau: Fake News.
Der Standard aus Österreich berichtet über eine Studie des Reuters Institute der Uni Oxford, die herausgefunden haben soll, dass diese ominösen Fake-News-Websites gar nicht so dolle gelesen werden, wie immer behauptet, zumindest nicht in Italien und Frankreich.
"Selbst die erfolgreichsten Webseiten von der Liste der zweifelhaften Informationsquellen kommen nicht auf die Reichweiten der großen Nachrichtenportale heran, und zwar in beiden Ländern",
heißt es. Doch leider hat Autor pp im sogar verlinkten Originaldokument von drei zusammengefassten Erkenntnissen nur die ersten zwei gelesen bzw. sich der Annahme hingegeben, Fake-News-Freunde würden tatsächlich auf Links klicken, weil sie vor dem Teilen bei Facebook mehr als die Überschrift interessierte (wie süß!).
Die dritte lautet:
"Despite clear differences in terms of website access, the level of Facebook interaction (defined as the total number of comments, shares, and reactions) generated by a small number of false news outlets matched or exceeded that produced by the most popular news brands. In France, one false news outlet generated an average of over 11 million interactions per month—five times greater than more established news brands. However, in most cases, in both France and Italy, false news outlets do not generate as many interactions as established news brands."
Die Einschränkung zum Schluss habe ich der Vollständigkeit halber mitzitiert. Wenn zwei mazedonische Teenager allerdings insgesamt bei Facebook mehr Reaktionen hervorrufen könnten als die kompletten Redaktionen von Le Figaro oder La Repubblica wäre das selbst für das Medienjahr 2018 zu krass.
Damit wissen sie jetzt um eine Entwarnung, die sie gleich wieder vergessen können. Höchste Zeit für den
Altpapierkorb (No Billag, #Schmähkritik, neuer MDR-Chefredakteur, #BeiAnrufQuote).
+++ Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist wichtig für die Demokratie. Das ist nur zu Wenigen bewusst. Meint zumindest das Netzwerk Medienethik, das sich am Wochenende für den Erhalt des Systems ausgesprochen hat. "Wenn Rundfunksysteme gekapert werden, fangen Demokratien an zu zerfallen", erklärt dazu Medienethikerin Johanna Haberer im Gespräch mit Brigitte Baetz bei @mediasres. Dazu passend lohnt sich heute zudem ein Blick auf die Seite 3 der SZ (€), auf der Charlotte Theile auf die No-Billag-Abstimmung am Sonntag in der Schweiz (zuletzt Altpapier gestern) einstimmt.
+++ Na, haben Sie das Thema #Schmähkritikauch so vermisst wie ich? Das Oberlandesgericht Hamburg nimmt sich seiner heute an. "Für Böhmermann gilt nur eine komplette Abweisung der Klage als akzeptabel", schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel.
+++ Unser freundlicher Gastgeber namens MDR bekommt zum 1. März nicht nur einen neuen, sondern auch gleich einen trimedialen Chefredakteur: Torsten Peuker. Er "steht für eine glaubwürdige und transparente Erfüllung unseres Informationsauftrag auch in der konvergenten digitalen Welt", ähm: präzisiert MDR-Intendatin Karola Wille in der Pressemitteilung.
+++ Neben der Nummer des Kältebusses in ihrer Stadt sollen sie sich dieser Tage noch folgende in ihr Telefon speichern: 0176.69896051. Darunter nimmt Pro Quote Hinweise auf zu besetzende Führungspositionen, aber auch weibliche Empfehlungen für diese Stellen sowie Beschwerden, wenn mal wieder eine kompetente Frau bei der Jobvergabe übergangen wurde, entgegen. Eine kurze Meldung dazu hat Meedia. #BeiAnrufQuote ist definitiv noch ausbaufähig.
+++ Tja. Jetzt muss Harvey Weinsteins Produktionsfirma Insolvenz anmelden, weil ein geplanter Verkauf doch geplatzt ist. "While we recognise that this is an extremely unfortunate outcome for our employees, our creditors and any victims, the board has no choice but to pursue the only viable option to maximise the company’s remaining value: an orderly bankruptcy process,” zitieren alle aus der offiziellen Stellungnahme. In kurz und Deutsch steht es etwa per dpa bei W&V
+++ Apple speichert die iCloud-Daten seiner Nutzer in Zukunft auf chinesischen Servern. Warum das problematisch ist (Spoiler: weil China nicht gerade ein Hort der Meinungsfreiheit ist) erklärt Tomas Rudl bei Netzpolitik.org.
+++ Wie okay es ist, wenn der Moderator der Nachrichtensendung "17:30 Sat.1 Bayern" im Nebenberuf als Sidekick von Markus Söder auf Werbetour geht, fragt sich Boris Rosenkranz bei Übermedien.
+++ "Die Idee war es, in diese fremde Welt reinzugehen und aus der Innenperspektive zu erzählen und eben nicht mit Vorurteilen draufzuschauen. Wir wollten ernsthaft ausloten, wer diese Menschen sind, die als Banker arbeiten, und was sie antreibt", sagt Lisa Blumenberg, eine der Autorinnen der ZDF-Serie "Bad Banks", im DWDL-Interview.
+++ "Drei Millionen Menschen, von denen eine Million starben, waren knapp zwei Jahre lang von der Außenwelt isoliert. Unter ihnen befand sich auch Dmitri Schostakowitsch. Der weltberühmte Komponist ist bei den Kommunisten in Ungnade gefallen und muss als Feuerwehrmann arbeiten. Überraschend wird das musikalische Wunderkind ins 1700 Kilometer entfernte Kuibyschew gebracht, wo die Sowjets ihren Staatsapparat hinverlegt hatten. Stalin erteilt ihm den Auftrag, eine ,Hymne gegen den Faschismus’ zu komponieren." Das ist die Geschichte aus dem belagerten Leningrad des Jahres 1942, die die Arte-Doku "Leningrader Symphonie" heute um 21.45 Uhr nacherzählt. Die dazugehörige Rezension stammt von Manfred Riepe im Tagesspiegel. In der SZ urteilt Harald Eggebrecht: "Einen Film über diese Leistung inmitten der Leiden und Qualen der Bevölkerung zu machen, verlangt Fingerspitzengefühl, Empathie und Sorgfalt. Der Film Leningrad Symphonie gelingt das in vieler Hinsicht."
Das nächste Altpapier erscheint am morgigen Mittwoch.