Das Altpapier am 23. Februar 2018 Dear all, best, j.

Wie die Bundesregierung laut FAZ Deniz Yücel aus der Haft freidrohte. Was Julian Reichelt alles nicht falsch gemacht hat, die Titanic derweil schon. Russische Medien-Eingriffe bleiben gruselig. DLR-Intendant Stefan Raue möchte reden, die Verlage lieber an der Rente für Zeitungsausträger sparen. Dank ausreichend Jurys schickt Deutschland einen Michael Schulte zum ESC. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Psssst, ganz leise, verschrecken sie sie nicht: Die Printtitelseitenanalyse gehört schließlich zu den in Folge des Zeitungssterbens bedrohten Arten; da weiß man nicht, wie oft man sie noch in freier Wildbahn zu Gesicht bekommt. In dieser Woche aber hat sie sich noch mal ganz nach vorne gewagt, und diese Gelegenheit zur Beobachtung wollen auch wir nicht ungenutzt verstreichen lassen (sorry, Ulrike "Wer sich im Daueralarmzustand über 'Bild' ereifert, macht sich zum Teil ihres Geschäftsmodells" Simon), nehmen unser Fernglas und richten es - zumindest zunächst auf die Titelseite der FAZ. Die ist gestern unter verschärften Bedingungen einer Fliegerbombenentschärfung in der Nachbarschaft entstanden und verschreckt alle Freunde von "#FreeDeniz, aber bitte ohne kuriose Deals" mit der Schlagzeile "Berlin drohte Ankara im Fall Deniz Yücel".

Yep. Klingt nach "Wenn ihr jemals wieder Panzer aus dem Land mit den nur noch zum Parken fähigen eigenen Panzern importieren wollt, dann rückt erstmal unseren besten Korrespondenten wo gibt heraus". Und genau das wollte niemand. Auf Seite 2 (online bei Blendle) lässt Michael Martens dann aber die Luft aus der Schlagzeile:

"'Wir haben Ankara über Monate hinweg klargemacht, dass die unabdingbare Voraussetzung für die Rückkehr zu einem konstruktiven Umgang die Lösung des Falles Yücel ist', sagt ein Gesprächspartner im Auswärtigen Amt. (…) 'Unsere einzige in Aussicht gestellte Gegenleistung, wenn man sie denn als solche bezeichnen will, bestand in dem Versprechen, dass wir die Gesprächsfäden wiederaufnehmen wollen, wenn der Fall gelöst ist', heißt es dazu in Berlin. Das bedeute freilich nicht die Normalisierung der Beziehungen, sondern sei nur ein Ausgangspunkt und eine Vorbedingung für eine mögliche Normalisierung."

So krasse Drohungen sprechen sonst wohl nur Handarbeitslehrer aus, wenn sie Jürgen ankündigen, dass er sofort die Stricknadel aus Nadines Auge nehmen soll, wenn er in der kommenden Woche diese coole, neue Kreuzstich-Technik erlernen möchte, die bis dahin eventuell erfunden sein wird.

Sie können mir folgen? Fein. Weiter geht’s.

Die alten Copycats Bild und Titanic haben sich gegenseitig verdient #miomiogate

Oder, wie Julian Reichelt Texte eröffnen würde: "Dear all". So redet der Chef der Bild-Zeitung zumindest in schriftlicher Form seine crazy party people - also known as Redaktion - an, wie wir dank W&V wissen, die gestern Reichelts Rundbrief post #miomiogate (AP gestern) verbreiteten.

Zwischen der schönen Anrede und dem "Best, j." war viel Platz für "Ich übernehme die volle Verantwortung dafür, dass wir rein gar nichts falsch gemacht haben. Die anderen sind aber auch echt immer fies zu uns. Menno."

Im Wortlaut:

"Es ist leicht, gegenüber BILD hämisch zu sein. Für viele Menschen gehört das zum Weltbild und zum guten Ton. (Umgekehrt aber auch, lieber j. Für wen, wenn nicht die Bild-Zeitung, gehört Häme zu Weltbild und gutem Ton?, Anm. AP) (…)

Wir haben über Mails berichtet, die von Titanic gefälscht wurden - das stimmt. Aber zu keinem Zeitpunkt sind wir auf das hereingefallen, was Titanic erreichen wollte. (…)

Wie gesagt, die Gewichtung als Schlagzeile war im Nachhinein falsch. Das geht allein auf mich. Aber zusammenzustehen, wenn wir Anfeindungen ausgesetzt sind, geht auf uns alle."

Whatever you need to tell yourself, dear j.

Allerdings gab die Titanic als andere Seite im Satire-Streit jetzt auch nicht den großen Sympathieträger, als Moritz Hürtgen‏ himself bereits Mittwochabend stolz bei Twitter verkündete, "(w)ar eben live auf RT international, gerade wird wiederholt".

So eine Vorlage lässt sich unser Charlie, äh, j. natürlich nicht entgehen:

"@BILD mag von @titanic und Huertgen betrogen worden sein. @hrtgn aber stellt sich wissentlich in den Dienst eines Regimes, das Journalisten verfolgt",

So-called Schützenhilfe gab etwa der Schweizer Journalist Jürg Vollmer, ebenfalls bei Twitter:

"Es ist natürlich nur #Zufall, dass @titanic-Magazin dem #Putin-kritischen @bild-Journalisten Filipp @fpiatov eine Fälschung unterjubelt – und dann Titanic-Redakteur Moritz Hürtgen in den #Propaganda-Medien aus #Russland als Kronzeuge für 'Fakenews' in deutschen Medien auftritt."

Es gibt jedoch auch Leute, die das komplett anders sehen. Dazu gehört Anne Fromm mit ihrem Kommentar in der taz:

"Zugegeben, es war nicht besonders clever von Hürtgen, sich vor die RT-Kameras zu stellen. Aber nur weil er ein Interview gegeben hat, heißt das nicht, dass er mit RT zusammenarbeitet. (…)

Die Titanic-Redakteure sind Satiriker, keine Journalisten. Es ist ihre Aufgabe, mit den Mitteln der Satire zu unterhalten und im besten Fall Missstände aufzudecken. Es ist nicht ein Titanic-Redakteur im RT-Interview, der der Glaubwürdigkeit der Presse schadet. Es ist die Bild mit ihren unlauteren Methoden."

Ich persönlich finde ja die Titanic eher mittel- bis minderlustig und die Idee, einen Kandidaten bei "Schwiegertochter gesucht", äh, Stefan Raab eine chinesische Show-Kopie, ich meine natürlich: der Bild-Zeitung einen falschen Informanten unterzujubeln nur viertelinnovativ.

Andererseits hat die Bild-Zeitung ihre Idee mit dem Hund und der SPD-Abstimmung auch nur bei Buzzfeed UK kopiert, wo sie vor zweieinhalb Jahren eine Katze für die Abstimmung über den neuen Labour-Vorsitzenden registrierten.

Da haben sich zwei Kontrahenten einfach verdient. Und wenn Anfang März J. R. an der Bild-Spitze Unterstützung von der Frau mit dem unlustigsten Twitter-Account seit Erfindung von Promiflash.de bekommt, dann habe ich Ihnen hiermit nicht nur noch eine Personalie untergejubelt. Es passt auch einfach schön ins und in die Gesamt-Bild.

Kürzen, glätten, Bots einsetzen: Deutsche Medien treffen auf russische Praktiken

Im Ernst: Medien- und Meinungsbeeinflussungen mit russischen Wurzeln sind gar nicht lustig. Zwei Beispiele dafür gehören heute ebenfalls ins Altpapier.

Zum einen ist da @mediasres, wo Thielko Grieß gestern über die verzerrte Wiedergabe eines DLF-Interviews mit Grigori Rodschenkow, dem ehemaligen Chef des russischen Anti-Doping-Labors, in der russischen Zeitung sport-express.ru berichtete.

Diese war nicht nur nicht in der Lage, die Quelle richtig zu nennen und zu verlinken, sondern glättete auch die Sprache, indem sie etwa aus "korrupten" "problematische" Verbände machte, während sie andere Passagen gleich ganz unter den Tisch fallen ließ.

"Zum Beispiel wurde der Absatz gestrichen, in dem der Russe beschreibt, wie Urinproben von Athleten durch ein Loch in der Wand des russischen Labors gereicht und dann ausgetauscht wurden. Und besonders fällt auf, dass manche Sätze fehlen, mit denen Rodschenkow die Verstrickung der Staatsspitze detailliert beschreibt:

'Putin wollte alles wissen. Und seine Herangehensweise war so: 'Sag mir, was dein Problem ist, und wir werden alles tun, um es zu lösen.''

Zu lesen nur im Original."

Zum anderen berichtet Timo Niemeier bei DWDL über Sorgen der Deutschen Welle, dass ihre Berichte über die anstehende Wahl in Russland bei Youtube von Bots mit Dislikes überzogen werden.

"In allen Fällen ist die Anzahl der Abrufe nach der Dislike-Schwemme eingefroren. Es müsse geklärt werden, wie sich diese Vorfälle auf die Reichweite der Sendungen auswirken, so die DW, die offenbar befürchtet, durch die vielen Dislikes etwa aus den Empfehlungen auf der Startseite zu fliegen. Youtube erklärte bereits, dass man den Fall prüfen werde."

Nicht lustig, nur gruselig.

Indem solche Fälle nun aber öffentlich debattiert werden, sorgen sie für Bewegung bei den Netzwerken. Twitter etwa hat in den USA tausende Accounts unter Bot-Verdacht gesperrt (Meldungen bei Meedia und Spiegel Online) und zudem in seinem Blog angekündigt, das Versenden der gleichen Meldung sowie das automatische Retweeten mit mehreren Accounts einschränken zu wollen. Die Gefahr ist also immerhin erkannt. Fortsetzung folgt.

Sparen mit den Zeitungszustellern

Es ist Freitag, Sie haben sicher nichts Wichtiges mehr vor, können wir uns also noch einen kurzen Ausflug in unser Lieblingsgenre ARD, ZDF, Verlage und das liebe Geld gönnen.

Einen absolut absurden Vorschlag in dieser Sache unterbreitet Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue in der aktuellen Ausgabe epd medien, online leider bislang nicht verfügbar. Er meint, bezogen auf die Verlage und ihre Klagen:

"Und wenn der Nachweis da ist, dass wir mit bestimmten Angeboten ihre Refinanzierung erschweren oder zerstören, dann müssen wir Öffentlich-Rechtlichen einen Schritt zurücktreten. Man hat ja schon beim bisherigen Telemedienauftrag darauf geachtet, dass die Öffentlich-Rechtlichen im Lokalen, wo besondere Refinanzierungsprobleme bestehen, nicht wildern sollen.

Ich habe angeregt, so etwas nicht über Juristen, Manager und Betriebswirte zu regeln, sondern unter den Menschen, die mit den Inhalten zu tun haben. Es sollte eine Art Clearingstelle geben, wo man sich alle zwei Monate trifft und wo die Verlage die Dinge auf den Tisch legen, die sie stören, und die Öffentlich-Rechtlichen einen Rechtfertigungszwang haben und sagen müssen, warum sie das machen. Wenn das scheitert, kann man immer noch den juristischen Weg gehen."

Ha ha, miteinander reden! Wer kommt denn 2018 noch auf sowas?

Die Zeitungsverleger haben indes ganz andere Ideen, wie sie ihre finanzielle Misere etwas lindern könnten: von den am schlechtesten Bezahlten will man nehmen, den Zeitungszustellern, allerdings diesmal nicht über den Mindestlohn, sondern die Arbeitgeber-Beiträge zur Rentenversicherung. Statt 15 sollen die Verlage nur fünf Prozent übernehmen, so steht es im aktuell noch abzusegnenden Koalitionsvertrag, berichtet Christoph Sterz bei @mediasres.

"(S)chlimmstenfalls könnte es passieren, dass ein Zeitungsbote pro Monat 45 Euro weniger in der Tasche hätte; bei einem Monatsverdienst von 450 Euro. Das wäre dann der Fall, wenn der Zusteller oder die Zustellerin den bisherigen Renten-Anteil der Verleger ausgleichen müsste. Die Zeitungsverleger gehen allerdings davon aus, dass den Fehlbetrag nicht die Zusteller begleichen müssen."

Wer soll es dann machen? Die Rentenkasse und damit die Allgemeinheit. Um einen "mehrstelligen Millionenbetrag pro Jahr" soll es gehen. Die Zeitungsausträger unterstützen wir damit natürlich gerne. Die Verlagsbosse ehrlich gesagt aber lieber nicht.

Altpapierkorb (Ebelings Abgang, Steingarts Comeback, Schlesingers Umbau)

+++ Wow, war das ein bräsiges Finale. Oder, in den getwitterten Worten von Imre Grimm: "Es mag dem @NDR an Wumms, Modernität und Risikofreude mangeln - aber Jurys sind immer reichlich da. #ESC #ULFL". Die ausführliche Fassung, wie es dazu kam, dass nun ein Michael Schulte für Deutschland zum ESC nach Lissabon fährt, hat er in die HAZ geschrieben.

+++ Thomas Ebelings Abgang als ProSiebenSat.1-Chef (Altpapier gestern) wurde begleitet von Staubsauger-Geschenken und Rekordergebnis. Über beides informiert DWDL hier und hier. Ein Porträt seines Nachfolgers und ehemaligen Dyson-CEOs (höhö, Staubsauger, Sie verstehen) Max Conze hat David Hein bei Horizont.

+++ Look who’s back: Gabor Steingart bietet wieder Morning Briefings an, nun aber auf eigene Verantwortung.

+++ Eine weitere journalistische Glanzleistung aus der Boulevardabteilung von Axel Springer dröselt Stefan Niggemeier bei Übermedien auf. Es geht um eine vermeintliche (BZ-Titel) "Sex-Broschüre für Kita-Kinder", die eigentlich deren Erzieher nur informieren soll, wie man Kindern vermittelt, dass es mehr gibt es Vater - Mutter - männlich/weibliches Kind.

+++ Videomanipulation leicht gemacht oder So kommt das Hakenkreuz nachträglich an die Wohnzimmerwand: Patrick Gensing bei den Faktenfindern der "Tagesschau" über Deepfakes.

+++ "Auf der Seite wikitribune.com können Leser Artikel einfach umschreiben, das sollen sie sogar. Auf diese Weise, so der Wunsch des Gründers der Seite, soll das in Zeiten von 'alternativen Fakten' gefährdete Vertrauen in die Medien wiedergewonnen werden." Ob das funktioniert, ist Christoph Fuchs’ Thema auf der Medienseite der SZ.

+++ Altpapier-Kollege Christian Bartels schaut in seiner evangelisch.de-Kolumne, was sich bei seinen Themen der vergangenen Wochen von #FreeDeniz bis NetzDG getan hat.

+++ Tschüss Ressortchefs, Hallo Editorialboard. So will man beim Magazin Stern irgendwie zurück auf den grünen Zweig, schreibt Ulrike Simon bei Horizont.

+++ Ein bisschen "Game of Thrones", ein bisschen Brexit-Allegorie, und dabei geht es eigentlich um den Kampf der Kelten gegen die Römer: Auf seiner FAZ-Medienseite (online bei Blendle) widmet sich Michael Hanfeld der zehnteiligen Serie "Britannia", die heute bei Sky Atlantic startet.

+++ "Politischer, provozierender, peppiger – so präsentiert sich das neue 'Mittagsmagazin' (,MiMa#) im Ersten", meint Senta Krasser in der Medienkorrespondenz über die nun vom RBB statt wie bislang vom BR produzierte Sendung.

+++ Weitere Neuerungen in Patricia Schlesingers Hood (Strukturreform, Technik-Sortierung) sind ab Mai angedacht und ausführlich nachzulesen bei DWDL.

+++ "Zu den persönlichen Highlights von Volker Herres gehört die Dokumentation 'Einfach mal Anfassen' im Rahmen der 'Story im Ersten' über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz", ist jetzt vielleicht nicht der allerglücklichste Satz im Tagesspiegel-Text von Kurt Sagatz über die Informationssendungspläne der ARD für dieses Jahr.

Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!