Das Altpapier am 12. Februar 2018 Plastikgabel mit roter Sauce
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Dem Weißraum des "Kleinen Prinzen" verdanken wir Einblicke in Deniz Yücels Gefängnisalltag. Die Holzhammer-Sprache Gabor Steingarts war nicht der Grund für seine Entlassung, Miriam Meckel an der Wirtschaftswochen-Spitze aber eventuell schon. Gefährdete Medienvielfalt in Hessen. Karneval aus Ethnologensicht. Warum GNTM einen #Aufschrei braucht. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
16 Euro. So günstig ist ein Statement für die Pressefreiheit selten zu haben. Dafür bekommen Sie das neueste Buch von Deniz Yücel aus der Edition Nautilus, "Wir sind ja nicht zum Spaß hier" heißt es, weil: (Quelle Verlagsmitteilung):
"'Dieser Ort’' schreibt Deniz Yücel im Februar 2017 aus dem Polizeigewahrsam in Istanbul, 'hat keine Erinnerung. Alle, die ich hier kennengelernt habe – kurdische Aktivisten, Makler, Katasterbeamte, festgenommene Richter und Polizisten, Gangster – alle haben mir gesagt: 'Du musst das aufschreiben, Deniz Abi.’'Ich habe gesagt: 'Logisch, mach ich. Ist schließlich mein Job. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.'"
Enthalten sind in der Sammlung Texte von Yücel aus den vergangenen 13 Jahren, darunter auch zwei, die er im türkischen Gefängnis verfasst hat - unter Umständen, die nach 1789, 1848 oder 1933, aber nicht nach 2017 und 18 klingen (zumindest, wenn man die Plastegabel durch einen Blechlöffel ersetzt). In Spingers Tageszeitung Die Welt vom Samstag berichtet Yücel selbst vom Schreiben unter Schreibverbot:
"Nach ein paar Tagen begann ich zu experimentieren. Da Bücher erlaubt waren, nahm ich Oğuz Atays 720-Seiten-Roman 'Die Haltlosen’' als Papierersatz. Dazu versuchte ich es mit einer abgebrochenen Plastikgabel als Feder und der roten Soße der Essenskonserven als Tinte.
Doch weit kam ich damit nicht. Die Gabelspitze erlaubte kein filigranes Schreiben, auf eine Buchseite passten dadurch nur wenige Worte. Und die Soße war zwar dick genug, um die Druckbuchstaben zu überdecken, aber auch extrem fettig. Die Folge: viel zu lange Trocknungszeit. In diesem Tempo hätte ich eine halbe Ewigkeit gebraucht."
Dass im Februar 2017 dann doch ein von Yücel selbst verfasstes Haftprotokoll erscheinen konnte, ermöglichten ein bei einem Arztbesuch geklauter Kugelschreiber, das Weißraum-freudige Layout von Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" sowie ein Korb schmutziger Wäsche als Transportmöglichkeit.
Da trifft Victor Hugo auf die Olsen-Bande, möchte man sagen.
Noch mehr über Yücel und türkische Realitäten hat Özlem Topçu in der noch aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit beschrieben, wobei er auch den gegen Yücel erhobenen Terror-Vorwurf schön ad absurdum führt:
"Manchmal stelle ich mir vor, wie der Chef einer Terrororganisation versucht, Deniz dazu zu kriegen, Propaganda für ihn zu machen. Und wie er am Ende einen Nervenzusammenbruch bekommt und den renitenten Deniz, der einfach nicht aufhört, ihm einen Vortrag übers, sagen wir, Bügeln zu halten, nur loswerden will. Deniz kann jeden k.o. quatschen."
Möge er bald wieder in Freiheit dazu Gelegenheit haben. #FreeDeniz. Heute ist er seit 364 Tagen in Haft.
Was alles nicht die Gründe für Gabor Steingarts Entlassung beim Handelsblatt waren…
Es folgt: keine Überleitung. Die Freiheit, die sich Verleger Dieter von Holtzbrinck zum Ende der vergangenen Woche nahm, als er Handelsblatt-Chef Gabor Steingart vor die Tür setzte (s. Altpapier am Freitag), ist einfach nicht mit der oben beschriebenen zu vergleichen.
Die öffentlich vorgetragenen und viel zitierten Gründe für diesen Schritt lauten "Differenzen in wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Fragen" sowie "eine – nicht generell, aber im Einzelfall – unterschiedliche Beurteilung journalistischer Standards". Dass Steingart mit seinen 700.000 Newsletter-Abonnenten an anderer Stelle in Zukunft weitermachen darf, wissen Sie vermutlich auch schon.
Damit zum Aktuellen. Nachdem der eingesprungene Sven Afhüppe das Thema Steingart im Morning-Briefing am Freitag noch ungelenk umschiffte, findet sich heute auf Seite 3 der Zeitung unter "In eigener Sache" (und so ähnlich auch im ebenfalls von Afhüppe stammenden heutigen Morning Briefing) erst eine kleine Lobeshymne auf das eigene Produkt und seinen bisherigen Macher, dann aber dieser Hinweis:
"Die Redaktionen der Handelsblatt Media Group respektieren die Entscheidung von Verleger Dieter von Holtzbrinck.
Gleichwohl habe ich zusammen mit 'Wirtschaftswoche’'Herausgeberin Miriam Meckel und der gesamten Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group in einem Brief an Dieter von Holtzbrinck meine Sorgen über die möglichen Folgen dieses Schritts zum Ausdruck gebracht. Vor allem deshalb, weil der Eindruck entstanden ist, dass die plötzliche Trennung maßgeblich durch eine zu kritische Meinungsäußerung von Gabor Steingart im Morning Briefing forciert worden sei. Mittlerweile hat der Verleger erklärt, dass der wesentliche Grund für die Entscheidung gesellschaftsrechtliche Differenzen waren."
Dass Steingarts sprachbildlich verirrter Newsletter vom vergangenen Mittwoch nicht wirklich seine Entlassung rechtfertigte, hatten sich zwei Herren von der Frankfurter Allgemeinen auch schon gedacht.
"Dass allein Steingarts Text Dieter von Holtzbrinck zum Einschreiten veranlasste, ist freilich schwer vorstellbar. Steingart schreibt stets mit dem Vorschlaghammer, er übertreibt maßlos, überzieht gezielt und ohne Gnade, macht keine Gefangenen und kein Hehl daraus, dass er sich für wichtig hält",
formulierte es am Samstag auf der FAZ-Medienseite Michael Hanfeld.
Gleicher Inhalt, höher gedrehter Feuilleton-Regler einen Tag später bei Claudius Seidl in der FAS (Blendle-Link):
"Alle Sprachpuristen und Feinde schiefer Bilder werden diese Lesart und deren Folgen womöglich begrüßen; es ist ja nicht nur in diesen Tagen dauernd vom 'Vorfeld' die Rede, obwohl nirgends eine Schlacht geschlagen wird; von Dingen, welche einer 'auf eigene Faust' tut, obwohl er kein Boxer ist; von der 'politischen Bühne', obwohl die Autoren dieser Bilder verlangen, dass nicht gespielt, sondern Ernst gemacht wird auf jener Bühne. Dass Steingart aber wegen einer nicht ganz gelungenen Literarisierung seine Posten verliert: klingt übertrieben."
… und was doch.
Was dürfen wir uns stattdessen unter den "gesellschaftsrechtlichen Differenzen" vorstellen, die Afhüppe uns als Begründung präsentiert?
Etwas nebulös bleiben die Vier vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel (Blendle-Link) (Markus Brauck, Isabell Hülsen, Veit Medick und Martin U. Müller, wenn Sie es genau wissen wollen):
"Ziemlich lange habe der Altverleger seinen umtriebigen Ziehsohn verteidigt, heißt es. Eigentlich habe er auch die 'Morning Briefings' gemocht. Doch um Holtzbrinck herum war die Zahl der Freunde Steingarts nicht eben groß. Mancher Manager des Hauses hätte sich weniger öffentliche Selbstdarstellung Steingarts gewünscht und dafür mehr ökonomischen Erfolg.
Zwei Dinge jedenfalls sind über Dieter von Holtzbrinck bekannt: dass er sich in redaktionelle Inhalte nicht einmischt. Und dass er der SPD nicht nahesteht."
Okay… Geht das etwas konkreter? Vielleicht bei Christian Meier in Springers Welt?
"Steingart habe bis zum Anschlag in den Ausbau der Mediengruppe investiert, habe sich aber seinerseits undankbar gegenüber seinem väterlichen Verleger gezeigt, so eine weitere Interpretation.
Erfolge habe er für sich verbucht und entsprechend inszeniert, die Verantwortung für geschäftliche Misserfolge dagegen von sich geschoben. Eine dritte Deutung der Trennung geht eher in die Richtung, dass dem Verleger das Veränderungstempo der digitalen Transformation der Verlagsgruppe zu hoch, mithin zu risikoreich war."
Noch konkreter? Peter Turi bei turi2, vielleicht?
"Das Erschrecken über die Geschäftszahlen für 2017 sei groß gewesen in der DvH-Holding in Stuttgart. Das Feuerwerk an Konferenzen, Preisen und Events habe das Erodieren des Stammgeschäfts im Vertriebs- und Anzeigenmarkt nicht mehr übertönen können. Steingarts geringes Interesse an der wirtschaftlichen Seite des Verlagsgeschäfts habe die Stuttgarter genervt."
Noch konkreter bzw. noch ein Herr ohne eigene Interpretation des Handelsblatt-Abgangs? Jawohl, siehe Kai-Hinrich Renner im Hamburger Abendblatt:
"In letzter Zeit wurden jedoch Zweifel an Steingarts Managementfähigkeiten laut: Der von ihm erworbene defizitäre Mediendienst Meedia habe nie die erhofften Synergien mit dem bereits in der Gruppe erscheinenden Marketingmagazin 'Absatzwirtschaft' heben können.
Zu lange habe er an der erfolglosen Chefredakteurin der 'Wirtschaftswoche', Miriam Meckel, festgehalten, nachdem er deren erfolgreichen Vorgänger Roland Tichy aus kaum nachvollziehbaren Gründen gefeuert hatte. Und schließlich erweise sich die 'Global Edition', vor Kurzem noch eine eigenständige GmbH, nun Bestandteil der Gruppe, als Fass ohne Boden."
Danke, es reicht. Geistig noch halb in einer türkischen Gefängniszelle verharrend möchte man zu diesem Thema dann doch nicht viel mehr wissen.
Der Verkauf der Frankfurter Rundschau an Ippen und die Folgen
Eine weitere, am Freitag hier bereits erwähnte Entwicklung bedarf ebenfalls eines Nachtrags, nämlich der Verkauf der Mediengruppe Frankfurt, also der Frankfurter Rundschau sowie der Frankfurter Neuen Presse durch die Fazit-Stiftung an den Verleger Dirk Ippen.
Die Sorge, dass auch hinter diesem Schritt eine als Synergieeffekt-Nutzung getarnte Entlassungswelle wartet, haben Karoline Meta Beisel und Susanne Höll für die SZ am Wochenende bei Verdi abgefragt.
"Die Nachricht habe 'in den Belegschaften der betroffenen Betriebe große Besorgnis um den Erhalt der Arbeitsplätze und die Selbständigkeit der beiden Tageszeitungen ausgelöst', heißt es dort. Insgesamt seien mindestens 800 Beschäftigte betroffen, mehr als die Hälfte von ihnen in der Druckerei. Die Betriebsräte fürchten, dass FR und FNP nun blühen könnte, was andere Regionalblätter hinter sich haben: die Zusammenlegung der Redaktionen."
Dass letzte noch ganz andere Folgen als weitere arbeitslose Journalisten und Drucker hätte, beschreibt Christoph Schmidt-Lunau in der taz.
"Zur Verlagsgruppe ZHH, die Ippen und Co. in den letzten Jahren aufgebaut haben, gehören nämlich schon jetzt eine Reihe von hessischen Regionalzeitungen. Nach der Übernahme von FNP und FR würde es in weiten Teilen des Landes nur noch Zeitungen aus dem gleichen Verlagshaus geben, auch dort, wo noch mehrere Titel erscheinen. (…)
Vor allem für die FNP, eine Zeitung mit starkem regionalem Schwerpunkt, dürfte sich vieles ändern. Der Umbau des Blattes durch den neuen Chefredakteur Joachim Braun hat offenbar nicht nur viel Geld, sondern Tausende Abonnenten gekostet. Es heißt, das Profil passe zu den 'Nachbarzeitungen' Offenbach-Post und Hanauer Anzeiger, die bereits zu Ippens ZHH gehören oder mit ihr kooperieren."
Wer sich um Pressefreiheit und Medienvielfalt sorgen muss, braucht, schlagen wir einen Bogen, mit dem Blick also gar nicht in die Ferne zu schweifen.
Altpapierkorb (Schunkelfernsehen, Digitalpolitik like it’s 1980, GNTM meets #metoo)
+++ Seien wir ehrlich. Wenn Sie gerade diesen Text lesen, leben Sie eher nicht in einer der Hochburgen, von denen dieser Tage so viel die Rede ist. Aber vielleicht interessieren Sie sich ja zumindest für den ethnologischen Blick auf Karneval/Fasching/betreutes Schunkeln und die dazugehörigen Fernsehübertragungen. Joachim Huber hat im Tagesspiegel dazu etwas vorbereitet.
+++ Bei Netzpolitik.org analysieren sie munter weiter den vergangene Woche ausgehandelten Koalitionsvertrag. "Bei so viel konservativer Dominanz und einer SPD, die seit 1994 nicht mehr gegen ein Überwachungsgesetz gestimmt hat, sind die Weichen eindeutig auf den Abbau von Grund- und Freiheitsrechten gestellt", meinen Markus Reuter und Ingo Dachwitz. Julia Krüger urteilt: "Die Vereinbarungen erinnern im ersten Teil an die Digitalisierungspolitik und die sie begleitende Gestaltungsdebatte der 1980er-Jahre."
+++ An die in der vergangenen Woche verstorbene Schauspielerin Marie Gruber erinnern (u.a.) Spiegel Online und DWDL.
+++ "Es geht letztlich bei solchen Sendungen darum, dass Macht ausgeübt wird. Macht über Frauen, über die niemand Macht ausüben sollte. Wo man Macht über andere ausübt, wird Macht immer auch missbraucht. Siehe Harvey Weinstein und Konsorten. Zu spüren auch beim Bachelor und bei GNTM. Wie kann so etwas in Zeiten von #metoo nicht zu einem Aufschrei führen? Stattdessen schauen sich intelligente Frauen so etwas an und giggeln." Das hinterlässt Hans Hoff rat- wie fassungslos, wie er in seiner DWDL-Kolumne thematisiert.
+++ Einen Überblick über die Missbrauchsvorwürfe gegen Dieter Wedel und die sich anschließende Debatte gibt Altpapier-Kollege René Martens in der Medienkorrespondenz.
+++ Ein Fachgespräch unter Rucksackträgern hat Stefan Niggemeier für Übermedien mit Juso-Chef Kevin Kühnert geführt - allerdings nicht über ihre bevorzugten Tragehilfen, sondern über die Medienerfahrungen des bis vor kurzem medienunerfahrenen Kühnerts. Eine davon: "Es gibt auch Leute, die einem hinterher tapern, von denen man das nicht erwarten würde, zum Beispiel von der FAZ, die bei mir im Büro, am Berliner Stadtrand, unangekündigt aufkreuzt und meine Kollegin befragt. Sie hatte wohl die These, dass ich scheinbeschäftigt wäre, und wollte anscheinend sehr investigativ herausfinden, ob ich in diesem Büro präsent bin."
+++ Von der Verhandlung Sandra Bullock versus Freizeitwoche (Altpapier vom Freitag) berichtet ebenfalls bei Übermedien Mats Schönauer.
+++ Unter der Überschrift "Zwangsgebühren" informiert in der FAS-Wirtschaft (S. 31, Blendle-Link) im in öffentlich-rechtlichen Rundfunkbelangen gewohnt neutralen Sound Johannes Ritter über die No-Billag-Initiative in der Schweiz (Kostprobe gefällig? "Vielmehr machten sie, weil sie sich auf ihren Gebühren ausruhen könnten, privaten Anbietern auf unangemessene Weise Konkurrenz." I told you so.)
+++ "In 'The Bold Type' ist das Streben der Hauptfiguren nicht nur darauf ausgerichtet, endlich romantisch geheiratet zu werden. Hier gibt es komplexere Fragen, auch wenn man die leicht übersehen könnte wegen all der High Heels, Cocktails und schönen Menschen", rezensiert Angelika Slavik auf der Medienseite der SZ den neuesten Serienzugang bei Amazon.
Frisches Altpapier gibt es morgen wieder.