Das Altpapier am 23. Dezember 2021 Wenn Falschnachrichten eine parlamentarische Duftnote haben
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23. Dezember 2021, 10:06 Uhr
Die rechtsradikalen Protestierer, die im Corona-Kontext marschieren, wirken auf Telegram einflussreicher als im Real Life. Aber diese Bedeutungsarmut ist kein Grund zur Beruhigung. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
Übel und unübersichtlich
Wie umgehen mit Telegram, sowohl aus einer Ermittler- als auch einer politischen Perspektive? Seit Mitte des Monats haben wir diese Fragen in diesem und diesem Altpapier angerissen. In der erstgenannten Kolumne hieß es unter anderem sinngemäß, Strafverfolger könnten schon jetzt viel tun gegen strafrechtlich relevante Wortmeldungen beim Messengerdienst, sie müssten diese halt "nur" finden.
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz scheint es eine gewisse Findungsbereitschaft zu geben. Jedenfalls schreiben nun sechs Autoren und eine Autorin in der neuen Ausgabe der Zeit (€):
"(Die Behörde) hat eine 'Sonderorganisation' eingerichtet, die den Überblick über rund 600 Kanäle auf dem Nachrichten-Netzwerk Telegram zu behalten versucht, das sich zum bevorzugten Kommunikationsmittel der Impfgegner und Corona-Leugner entwickelt hat."
Thema des Textes unter der sehr hamburgischen Überschrift "Übel und gefährlich" sind die auf Telegram verbreiteten rechtsradikalen Gewaltaufrufe gegen Staat und Politiker. Das Autorenseptett betont:
"In den vergangenen Wochen, berichten Nachrichtendienstler, habe sich das Aufkommen in diesen Channels weiter spürbar erhöht (…) Die Sicherheitsbehörden sind auch deshalb so beunruhigt, weil sie schon mehrfach in ihren Einschätzungen danebenlagen. Die Szene der radikalen Corona-Gegner ist mittlerweile so unübersichtlich, dass sie sich kaum zuverlässig überwachen lässt."
Was man auch nicht vergessen sollte:
"Die radikalen Corona-Demonstrationen in Sachsen sind keine Massenphänomene. Am vergangenen Wochenende etwa hatten die 'Freien Sachsen' per Telegram zur Teilnahme an 'Spaziergängen' in 19 Städten aufgefordert. Am Ende waren an kaum einem Ort mehr als hundert Menschen auf den Straßen. Allein in Plauen im Vogtland hatten die 'Freien Sachsen' zuvor von mehr als tausend erwarteten Teilnehmern geschrieben. Tatsächlich traf in Wirklichkeit dann nur eine Handvoll 'Querdenker' auf ein massives Polizeiaufgebot."
Wobei - darauf weist das Autorenteam ebenfalls hin - dies aber wiederum kein Grund für Entwarnung sei, weil aus dieser faktischen Bedeutungsarmut, die dem eigenen Selbstbild widerspricht, ja eine Frustration erwachsen könnte, die sich in terroristischen Aktionen äußert.
Richtschnur im öffentlichen Meinungskampf
Zu den bekannteren Telegram-Publizisten hierzulande gehört der Musikus Xavier Naidoo. Dessen Name rauscht nun gerade wegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch die Timelines. Jost Müller-Neuhof schreibt im Tagesspiegel:
"Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist es wohl zulässig, den umstrittenen Sänger Xavier Naidoo öffentlich als 'Antisemit' zu bezeichnen. Das Gericht hob mit einer am Mittwoch verkündeten Entscheidung zwei Urteile aus Bayern auf, die dies einer Referentin der Amadeu Antonio Stiftung noch untersagt hatten."
Die Entscheidung könnte natürlich auch für Journalistinnen und Journalisten als Richtschnur dienen. In der Begründung des Verfassungsgerichts heißt es:
"Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert. Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert."
Einschätzungen des Urteils finden sich etwa bei Endstation rechts und in der FAZ. Ebd. nennt Thomas Thiel ein Argument des Gerichts "kryptisch". Dieses bezieht sich auf die Erläuterung der Referentin, es sei "strukturell nachweisbar", dass Naidoo Antisemit sei. Das sei, so die Richter, "keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an". Und das sieht Thiel anders.
Dieser FAZ-Kommentar wiederum hat auch schon Einschätzungen nach sich gezogen, etwa von "Kontraste"-Autor Silvio Duwe ("Dieses Wegreden ist der Nährboden für Antisemitismus"). Was man auch noch sagen kann: Dass einem erst eine "wegweisende Verfassungsbeschwerde" (Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung) die Sicherheit verschafft, Leute als das bezeichnen zu können, was sie sind, ist auch ein bisschen verstörend. Die Sache wird nun übrigens zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen.
Wie sich der SWR hinters Licht führen ließ
Die These, dass Naidoo die rechtsrandige Kabarettistin Lisa Fitz zu seinen Bündnisgenossen zählt, ist nicht völlig abwegig. Zum aktuellen Fall Fitz (Altpapier) steuert Matthias Meisner für die taz eine weitere Recherchefacette bei. Es geht um ihren Auftritt in der aktuellen, vom verantwortlichen SWR erst mit einiger Verspätung aus den Mediatheken gelöschten Satire-Sendung "Spätschicht", in der Fitz eine von der rechtsextremen französischen EU-Parlamentarierin Virginie Joron verbreitete Falschinformation zu Todesfolgen von Covid-19-Impfungen als Tatsache präsentierte:
"Ihre Fake News hatte Fitz aus dem Entschließungsantrag B9-0475/2021, am 23. September eingebracht von (…) Joron vom Rassemblement National, mit offiziellem Logo des Parlaments und gekennzeichnet als 'Plenarsitzungsdokument'."
Ein Begriff, der auf den allerersten Blick vielleicht was hermacht. Indes:
"Die Abläufe im Europäischen Parlament machen es – in diesem Fall: den Rechten – ziemlich leicht. Anträge nach Artikel 143 der Geschäftsordnung kann jeder Abgeordnete stellen, maximal pro Monat einmal. In der Regel versanden sie in der Parlamentsbürokratie, in den vergangenen Jahren wurde von insgesamt mehr als 200 kein einziger gebilligt. So geschah es auch mit Jorons Initiative."
Trotz der parlamentarischen Wirkungslosigkeit geisterte der "Entschließungsantrag" im Netz weiter herum – "als angeblicher Beweis für die Gefährlichkeit der Impfungen" (Meisner).
Der taz-Autor stellt auch noch mal die Fehler des für die Sendung verantwortlichen SWR heraus. Diesem war nicht aufgefallen, dass Fitz zu dem "Entschließungsantrag" ihm gegenüber unvollständige Angaben gemacht hatte. Und dass es mehrere Faktenchecks gab, hatte der Sender auch nicht bemerkt.
Altpapierkorb (Vorschau auf Altpapier-Jahresrückblicke, Me-Too-Berichterstattung, Recherchen zu Antisemitismus, Elisabeth Noelle-Neumann, Marc Wiese, kafkaesker Staat gegen Selbständige)
+++ Ab morgen beginnt im Altpapier die Zeit der monothematischen Jahresrückblicke. Los geht es mit einem Text von Ralf Heimann unter dem Titel "Die Akte Springer".
+++ Für die taz hat Nele Sophie Karsten mit Ann-Katrin Müller (Spiegel) und Pascale Müller (frei) über Recherchen in Sachen MeToo gesprochen. Pascale Müller sagt unter anderem: "Menschen, mit denen ich für meine Recherche zum Machtmissbrauch durch einen Redakteur beim Tagesspiegel gesprochen habe, Praktikantinnen, Volontärinnen, waren nicht nur sehr abhängig vom niedrigen Einkommen, sondern auch von einer Weiterempfehlung durch ihren Chef. Das waren Menschen, die sich nicht besonders gut wehren konnten in diesem System. Aber immerhin haben sie die Telefonnummer einer Journalistin. Wenn ich eine Reinigungskraft bin, gibt es vielleicht auch ein starkes Machtgefälle zwischen mir und meinem Vorgesetzten, aber mir fehlt das Tool, die Nummer zur Öffentlichkeit."
+++ Bei Übermedien ordnet Silke Mertins einen Streit ein, der sich rund um die Recherchen zu antisemitischen Haltungen bei Partnern und Mitarbeitern deutscher Medien im Nahen und Mittleren Osten entwickelt hat. In der Kritik stehen in unterschiedlicher Intensität die Deutsche Welle, die sich mit substanziellen Vorwürfen von Vice konfrontiert sah, und auch Vice selbst. Mertins meint: "Tatsächlich arbeiten nahezu alle Organisationen und Institutionen, die im Nahen und Mittleren Osten aktiv sind, mit Projekten, Partner oder Menschen zusammen, die den jüdischen Staat nicht anerkennen (…) und von Terroristen als Märtyrer sprechen. Davon sind (auch) (…) Medien wie die Deutsche Welle (betroffen). Und ich möchte außerdem mal das Medium sehen, das in einem islamischen Land noch nicht mit einem Übersetzer, Stringer, Kameramann oder Fahrer zusammengearbeitet hat, der den Staat Israel von der Landkarte fegen wollte." Die FAZ (€) interviewt zu dem Thema heute DW-Intendant Peter Limbourg.
+++ Der nach hinten losgegangene Versuch der Zeit, dem Dokumentarfilmer Marc Wiese einen Skandal anzuhängen (siehe dazu unter anderem dieses Altpapier), hat für die Wochenzeitung nun weitere unangenehme Folgen: Der Presserat hat wegen dieser Berichterstattung einen "Hinweis" ausgesprochen. Marc Wiese, der Beschwerdeführer in eigener Sache, hat dies bei Facebook mitgeteilt.
+++ Den Briefwechsel, den Elisabeth Noelle-Neumann, die "mit Abstand einflussreichste deutsche Kommunikationsforscherin", mit dem ab den 1950er-Jahren als Autor innovativer Hörspiele in Erscheinung getretenen Fred von Hoerschelmann (Altpapier) führte, empfiehlt der Kommunikationsforscher Lutz Hachmeister in der Endausgabe der Medienkorrespondenz wärmstens. Seine Rezension zur mehr als 1100 Seiten umfassenden Briefwechsel-Edition war am Montag bereits im Altpapier erwähnt, nun steht er online.
+++ Einen Rant gegen "die staatliche Haltung gegenüber Soloselbständigen" (also auch gegenüber vielen Leserinnen und Lesern dieser Kolumne) hat Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne formuliert: "(Es) werden genau jetzt, kurz vor Weihnachten, mitten in der vierten Welle gigantische Summen von Selbstständigenhilfen zurückgefordert (…) Der Staat kommuniziert in dieser Angelegenheit ungefähr so verständlich, verlässlich und verbindlich wie in den meisten Dingen der Coronapandemie, also überbürokratisch menschenfeindlich mit Geschmacksrichtung Kafka."
Das nächste reguläre Altpapier erscheint am 4. Januar. Die Altpapier-Jahresrückblicke erscheinen bis zum 31. Dezember. Wir wünschen erholsame Tage.
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