Das Altpapier am 14. Dezember 2021 Die Durchsetzung des Durchsetzungsgesetzes
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14. Dezember 2021, 10:28 Uhr
Helfen das alte deutsche NetzDG oder ein neues EU-"Grundgesetz für das Internet" gegen Radikalisierung auf Telegram? Sowieso herrscht im Internet gerade eine "extrem kritische Bedrohungslage". Außerdem: Was-mit-Digital-Zuständigkeiten in der neuen Bundesregierung und ein presserechtlicher Prozess, der seit dreieinhalb Jahren läuft. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
- Wohin die Was-mit-Digital-Zuständigkeiten wechselten
- Lässt sich der "Giftzwerg" Telegram regulieren?
- Das BMI-BSI warnt (kräftig) vor "Log4j"
- Juristischer Druck auf recherchierende Journalisten
- Altpapierkorb (DW-Antisemitismus-Diskussion, aufsehenerregende RBB-Reportage, NYT-Kritik, "Hagertoni", Pro-ÖRR-Appell, SATC)
Wohin die Was-mit-Digital-Zuständigkeiten wechselten
Die neue Bundesregierung amtiert endlich und erhält (erwartungsgemäß) die Aufmerksamkeit, die sie erwartet. Der neue Haupt-Regierungssprecher Steffen Hebestreit gab sein Debüt und bekommt Porträts verehrt, die außer seiner Journalismus-Vorgeschichte (Altpapier) auch seine Rolle als Pionier der Krawattenlosigkeit betonen (Süddeutsche, taz).
Der neue Bundesgesundheitsminister sorgt nicht allein weiterhin auf Twitter für kräftiges Hallo durch individuelle Impfempfehlungen, sondern folgt auch eher noch mehr Talkshow-Einladungen als vor seiner Amtszeit. Karl Lauterbach gastierte außer in der Maybrit-Illner-Show vom vorigen Donnerstag (und der vom vorvorigen Donnerstag, als er, zugegeben, noch kein Minister war) auch in der Anne-Will-Show vom Sonntag. "Die Liebe zwischen Talk und Gast ist offenbar sehr, sehr tief. Immer wieder gingen die Kameras auf Lauterbach und sein Gesicht", dichtete Joachim Huber im Tagesspiegel, rät ersterem, dem Talk, aber dennoch, lieber unverbrauchtere Ministerinnen einzuladen:
"Nancy Faeser (Inneres), Anne Spiegel (Familie), Bettina Stark-Watzinger (Bildung und Forschung) oder Klara Geywitz (Wohnen) sollten sich dem großem Publikum alsbald vorstellen, das Format der Talkshow eignet sich dafür."
In welchen Ministerien nun was für Zuständigkeiten liegen, ist oft ebenfalls neu. Lesenswert bleibt Markus Beckedahls Schilderung (netzpolitik.org) der "aktuellen Reise nach Jerusalem" der zahlreichen Was-mit-digital-Unterressorts:
" ...Der Bereich 'Games' wird vom BMDV zum Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) übertragen. Dort machte es immer schon mehr Sinn, aber historisch wollte die CSU mit dem Thema Games punkten, weil es viele Selfie-Gelegenheiten für CSU-Politiker:innen bot ... Einige wichtige Abteilungen bleiben im BMWK. Das grün-geführte Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMWNV) erhält wiederum die Abteilungen zum digitalen Verbraucherschutz aus dem jetzt gelben Bundesjustizministerium ..."
Wozu heute Corinna Budras im FAZ-Wirtschafts-Leitartikel "Digitaler Steinbruch" (€) schreibt:
"Das mag man als Zersplitterung einer Zukunftsaufgabe beklagen, kann es aber auch als Zeichen einer gemeinsamen Kraftanstrengung werten: Digitalisierung geht in dieser Regierung jeden an. Noch wichtiger ist allerdings, auch die Bundesländer flottzumachen, möglichst mit einheitlichen Standards."
Wohin genau die Reise geht, ob in eine entschlossenere als von der müden Groko angepackte Zukunft oder zum Selben in grün mit anders verteilten Spitzenposten muss sich noch herausstellen.
Lässt sich der "Giftzwerg" Telegram regulieren?
Traditionell hat das Bundesinnenministerium allerhand Was-mit-digital-Zuständigkeiten. Nun meldete sich die neue Amtsinhaberin, die zu den unbekanntesten Neuen in Berlin zählt, in einer davon zu Wort. Nancy Faeser kündigte "schärferes Durchgreifen gegen Hetze und Gewaltaufrufe beim Messengerdienst Telegram an", und zwar in einem Interview mit der Funke-Presse, das in diversen Agentur-Auszügen zirkuliert und besser als in den (nervtötend gestalteten!) Funke-Onlineauftritten, etwa morgenpost.de vom österreichischen Standard auf den Punkt gebracht wird. Faeser strebt sozusagen an, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegen das Netzwerk Telegram durchzusetzen:
"Derzeit würden Messengerdienste vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz nicht erfasst, soweit sie zur Individualkommunikation bestimmt seien. Mit Telegram könne man inzwischen aber Nachrichten in öffentlichen Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern schreiben. Öffentliche Kanäle können laut Faeser von einer unbegrenzten Anzahl an Personen abonniert werden. Diese offenen Kanäle würden bereits heute den gleichen Regeln des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes unterliegen wie etwa Facebook oder Twitter."
Wobei es sich um eine von der digitalpolitisch hilflosen Vorgängerregierung übernommene Rechtsposition handelt. Interessant dazu ist das Interview, das Deutschlandfunks "@mediasres" mit Matthias Kettemann, einem an der ebenfalls österreichischen Universität Innsbruck tätigen Experten für Internetrecht, führte. "Telegram mag ein Zwerg sein, ist aber ein Giftzwerg geworden", sagt er zur Anmoderation, derzufolge die Telegram-Nutzung im Vergleich mit den Marken des Datenkraken "Meta"/Facebook zwar nicht sehr groß, aber in Deutschland extrem sei. Ergänzen ließe sich, dass dort vermutlich ein Erfolg oder zumindest ein Ergebnis der Deplatforming-Strategien liegt: Zwar begegnen Youtube-Nutzern und -Nutzerinnen keine Attila-Hildmann-Videos mehr, anhand derer sie sich radikalisieren können, allerdings begegnen Hildmann-Fans im deutschsprachigen Telegram-Angebot auch keine andere Meinungen, die sie womöglich etwas entradikalisieren könnten.
Jedenfalls umreißt Kettemann die schwierige Rechtslage zwischen vorhersehbar vergeblichen Bemühungen, Telegram in Dubai postalisch Amtsschreiben zuzustellen (Altpapier aus dem Juli) und der EU, die selber jetzt große Pläne für netzpolitische Gesetze hegt. "Die EU erschafft damit ein Grundgesetz für das Internet", zitiert die FAZ (€) heute die grüne Abgeordnete Alexandra Geese zur bevorstehenden EU-Parlaments-Abstimmung über den Digital Markets Act. Der neue Bundesjustizminister, der sich gestern in den ARD-"Tagesthemen" ebenfalls zum Thema Telegram äußerte, scheint eher auf solche EU-Gesetze zu setzen als darauf, das ältere NetzDG, auf das seine neue Kollegin Faeser setzt, in Dubai durchsetzen zu wollen.
Ein Vorschlag Kettemanns lautet, zur Regulierung von Telegram lieber "die großen Gatekeeper", nämlich die App-Stores der bei mobilen Betriebssystemen monopolistischen Datenkraken Google/Android und Apple/IOS zu nutzen, die für die Sperrung von Hildmann-Kanälen zumindest in den mobilen Telegram-Applikationen, also Apps, sorgten. Wozu wiederum das (heute mit Digitalpolitik prallvolle) FAZ-Wirtschaftsressort unter der Überschrift "Machtlos gegen Telegram" schreibt:
"Die Kanäle des veganen Kochs Attila Hildmann, der zu einer Führungsfigur der 'Querdenker'-Bewegung geworden ist und gegen den wegen Volksverhetzung ermittelt wird, sind zum Beispiel seit einigen Monaten in der Telegram-App blockiert. Es wird vermutet, dass die Betreiber der beiden großen App-Stores Google und Apple das durchgesetzt haben. Eine Bestätigung gibt es dafür nicht, lediglich einen Hinweis: Über die Desktop-Version sind die Hildmann-Kanäle weiterhin abrufbar. Für Anfragen ist Telegram im Prinzip nicht zu erreichen. Auf der Internetseite gibt es kein Impressum. Journalisten sollen sich an einen Chatbot auf Telegram wenden. Dieser versichert, die Anfrage sei an das Presseteam weitergeleitet worden. Weitere Rückmeldungen gibt es nicht."
Zu einem ansatzweise vollständigen Bild gehört, dass allerdings auch Regierungen europäischer Staaten mit völlig anderen Gesellschaftssystemen ebenfalls gegen Telegram vorgehen, wie etwa das Neue Deutschland kürzlich berichtete.
Das BMI-BSI warnt (kräftig) vor "Log4j"
Von "extrem kritischer Bedrohungslage" sprechen Bundesbehörden selten. Im Allgemeinen werden Teile von Antworten, die die Bevölkerung verunsichern würden, halt weggelassen. Aber hier, beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, ist aktuell davon die Rede.
Das neue und offenbar große Software-Problem namens "Log4j" landete auf der Titelseite der Süddeutschen. "Im Netz herrscht Chaos", fasst Jannis Brühl im zeitweilig ganz oben auf der Startseite stehenden Kommentar zusammen, und:
"Millionen Türen stehen also Vandalen, Geheimdiensten und Kriminellen offen. Von Letzteren ist zu erwarten, dass sie digitale Hintertüren in viele Systeme einbauen, um sie dann irgendwann für Erpressungen mit Ransomware zu nutzen. "
"Nichts und vieles" lauten die kurzen, aber nicht nicht verunsichernden Antworten des Spiegel auf die Frage "Was können User tun, und was müssen sie befürchten?" (in dieser Reihenfolge). Und während die FAZ ein Problem der sog. "Cloud", der "wir" "unsere größten Geheimnisse anvertrauen", erkennt, wird das "Log4j"-Problem vielleicht am besten in den FAQs von futurezone.at erklärt:
"Zum ersten Mal bemerkt wurde dies rund um den 1. Dezember, als Server manipuliert wurden, die für das Online-Spiel 'Minecraft' verwendet werden"
Das BSI ist übrigens eine dem Bundesinnenministerium nachgeordnete Behörde.
Juristischer Druck auf recherchierende Journalisten
Jede Menge los in der Echtzeit also. Und dennoch lohnen immer auch Blicke auf größere Zeitabschnitte und längerfristige Entwicklungen.
Um den Artikel "'Sieg Heil' mit Smiley" über einen extrem rechts stehenden AfD-Mitarbeiter, der im Mai 2018 in der Kontext-Wochenzeitung erschien, ging es etwa schon mal in diesem Altpapier aus dem Februar '19. Aktuell kann man den Text der Journalistin Anna Hunger online lesen. Dauerhaft gesichert ist das nicht, da die im August 2018 vor dem Landgericht Mannheim eröffnete Kette von Gerichtsverfahren um den Artikel noch nicht beendet ist. "Nach mehrmaliger Verschiebung, wohl auch bedingt durch Corona, ist auch der für den 5. November dieses Jahres angesetzte Termin im Hauptsacheverfahren verschoben worden", schreibt Herbert Hoven in seinem aktuell online verfügbaren epd medien-Beitrag und hat damit ein gutes Beispiel für ein schlechtes, doch um sich greifendes Phänomen: juristischen Druck auf recherchierende Journalisten. "Seit nunmehr dreieinhalb Jahren schleppen die Redaktion und vor allem Anna Hunger dieses Verfahren mit sich herum."
Weitere Beispiele sind die spektakulären sowie die unspektakulären, aber vielleicht noch wirkungsvolleren klagen-der-hohenzollern.de, von denen hier im Altpapier schon häufiger die Rede war, sowie die Schere im Kopf auch bei Auftragnehmern des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
Hoven zitiert eine "Selbstverpflichtungserklärung" von RBB, MDR und NDR zur Haftungsverteilung bei Dokumentationen im investigativen Bereich" aus dem August 2017, die die Position unabhängiger Fernseh-Produzentinnen und -Produzenten bei investigativen Recherchen stärken sollte. Daran bemerkenswert ist auch, dass außer den drei Anstalten keine weitere sie unterzeichnete. Der TV-Produzent Thomas Weidenbach erzählt daher von einem
"gescheiterten Projekt mit dem ZDF über die Identitäre Bewegung: Das ZDF habe verlangt, dass die Längengrad Filmproduktion den Sender von jeglicher Haftung freistellt. Allein das Risiko zu tragen, Dokumente aus der Website der rechten Bewegung zu übernehmen und zu senden, war Weidenbach zu groß, vor allem weil man weiß, wie klagefreudig gerade die rechte Szene in Deutschland ist".
Altpapierkorb (DW-Antisemitismus-Diskussion, aufsehenerregende RBB-Reportage, NYT-Kritik, "Hagertoni", Pro-ÖRR-Appell, SATC)
+++ Neue Wendung in der Diskussion um womöglich antisemitische Mitarbeiter und Partner der Deutschen Welle. Stefan Buchen wirft auf der FAZ-Medienseite der deutschen Vice-Niederlassung, die auch Vorwürfe gegen die DW erhob (Altpapier), vor, selber "im Glashaus" zu sitzen: "Die arabischsprachigen Artikel von 'Vice' zum Thema Israel klingen ganz ähnlich wie die Berichte der Partner der Deutschen Welle, die die Berliner 'Vice'-Redakteure unter Beschuss nehmen. Teilweise sind die Formulierungen wortgleich." Buchen "ist Fernsehautor beim NDR" und "spricht fließend Arabisch, Persisch und Hebräisch" heißt es unterm Artikel. Eine Auseinandersetzung zwischen Felix Dachsel vom deutschen vice.com und ihm ging kürzlich durch die sog. soz. Medien.
+++ Fünf Jahre nach dem islamistischen Massenmord auf einem Berliner Weihnachtsmarkt, den die zahlreichen Bundes- und Landesbehörden weitgehend nicht aufklärten, sorgt eine neue RBB-Dokumentation auch publizistisch für Aufsehen. Jetzt ist "offenbar der Name des mutmaßlichen Drahtziehers bekannt" (Berliner Zeitung). Zugleich zeigt sich die non-/lineare Mehrfach-Auswertungs-Strategie der ARD: Z.B. die Süddeutsche empfiehlt die Sendung, die gestern spät im ARD-Programm lief und heute um 20.15 Uhr im RBB-Fernsehen gezeigt wird, auch anhand der "dreiteiligen Langfassung in der ARD-Mediathek".
+++ Michael Ridder von epd medien aus Frankfurt in Hessen scheint noch nicht hundertprozentig überzeugt vom künftigen Hessischer Rundfunk-Intendanten, dem "Hagertoni" aus der ARD-Mediathek zu sein.
+++ Alle finden die New York Times toll? Na ja. Die Neue Zürcher Zeitung bespricht neue kritische US-amerikanische Bücher über das Blatt, und "in Italien fällt auf, wie vorurteilsbeladen die 'New York Times' über einen Mord berichtet", berichtet die FAZ aus Italien.
+++ "Die Angebote von ARD und ZDF müssen besser aufeinander abgestimmt werden, um sich zu ergänzen", heißt eine absolut zutreffende Forderung im neuen Pro-Öffentlich-Rechtliche-Appell namens unsere-medien.de. Es wäre unfair, lange drauf zu achten, wie prominent vor den Namen vieler Unterzeichnerinnen und Unterzeichner die Titel "Prof. Dr." prangen (auch wenn der klangvollste Titel, "Prof. Dr. h.c. Ph.D.", alphabetisch zufällig gleich ganz oben steht). Anlass ist die im November von den deutschen Staatskanzleien eröffnete Online-Diskussion über "Auftrag und Strukturoptimierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" (Altpapier).
+++ "Man weiß schließlich, was man zu erwarten hat, vielleicht ist man ein wenig enttäuscht, aber verkraftet es am Ende doch. Das macht ja auch einen echten Fan aus. Egal wie schlecht eine Fortsetzung ist, man bleibt Fan für alle Zeit und ist für jeden Stoff dankbar, der sich neu konsumieren lässt. Hauptsache, es gibt Nachschub": Da geht's nicht um den Hamburger Sportverein, sondern in der taz ums neue "Sex and the City".
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.
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