Das Altpapier am 8. Dezember 2021 Neufang
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08. Dezember 2021, 09:36 Uhr
Im neuen Regierungssprecher-Team ist der Journalismus gut vertreten. In seiner Heimat Kalifornien wird der drittgrößte Medienkonzern der Welt von einer anderswo verfolgten Minderheit milliardenschwer verklagt. Und in Köln sollen schreibende Redakteure künftig mehr Smartphone-Fotos machen. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
Steffen Seiberts Nachfolger legen los
Gerade verabschiedete sich Steffen Seibert, der als langjähriger Regierungssprecher gewiss zu Angela Merkels (Wiederwahl-) Erfolgen beitrug, von der Hauptstadtpresse (und heute morgen auch von seinen Twitter-Followern). Schon betreten die Nachfolger die Bühne. Darunter einer, der fast noch schillerndere Journalismus-Posten innehatte als den eines "heute journal"-Anchorman.
Wolfgang Büchner war: Chefredakteur der wichtigsten deutschen Nachrichtenagentur dpa, Geschäftsführer der Boulevardzeitungen des schweizerischen Medienkonzerns Ringier sowie bis 2019 "Chief Content Officer" der Madsack-Mediengruppe. Was konkret bedeutet: Er hatte für die Zeitungsgruppe, deren größter Gesellschafter die SPD ist, das inzwischen ziemlich bekannte und häufig zitierte Dings namens "Redaktionsnetzwerk Deutschland"/RND aufgebaut. First (rein zeitlich in der bisherigen Aufzählung) but not at all least war Büchner rund sechzehn Monate lang Chefredakteur von Spiegel sowie Spiegel Online, das damals noch eigenständig war. Wo Büchner sonst noch wirkte (kurz für die Bild-Zeitung, länger für die letzte jemals neugegründete bundesweite deutsche Tageszeitung, die Financial Times Deutschland ...), steht in der Wikipedia. Und wenn Sie das Team dieser, nicht mehr rundum journalistischen Agentur hinabscrollen, finden Sie ihn auch noch als "Senior Advisor". Nun aber, wie sein alter Spiegel meldet:
"Auf Vorschlag von FDP-Chef Lindner soll der frühere SPIEGEL-Chefredakteur Wolfgang Büchner einer der beiden stellvertretenden Regierungssprecher werden."
Bzw. wie Büchner selber twitterte:
"Das Angebot von FDP-Chef @c_lindner, mich als Stv. Regierungssprecher vorzuschlagen, ehrt mich. Sollte mich das Bundeskabinett mit diesem Amt betrauen, trete ich es sehr gerne an. Den politischen Neufang in unserem Land würde ich mit Freude kommunikativ begleiten."
"Neufang", die vielleicht versehentliche, aber doch irgendwie beinahe kongeniale Umschreibung dessen, was Sprecher von Instititutionen oder Unternehmen auch leisten müssen, steht tatsächlich im Original-Tweet. Büchner korrigierte es erst später per Antwort an sich. Solche Tweets werden ja, lehrt die Steffen-Seibert-Rezeption, auch gleich fürs Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben... "Und es sieht so aus, als ob dem Sprecherteam auch künftig ein Journalist angehören wird", melden weitervermeldende Medien wie dwdl.de. Einer? Mitnichten (wie Timo Niemeier weiter unten auch schreibt): Büchner wird ja nur Stv.. Der designierte erste Regierungssprecher, Steffen Hebestreit, kam anno 2006 nicht etwa als "Fan der Offenbacher Kickers", sondern als "Hauptstadtkorrespondent" nach Berlin. "Über den Verkauf der Frankfurter Rundschau wechselte Hebestreit 2010 in die Dumont-Hauptstadtredaktion, in der er vier Jahre lang auch für die Berliner Zeitung arbeitete und bevorzugt über innenpolitische Themen sowie Sicherheitspolitik schrieb", heißt es im schon ein paar Tage alten Porträt des eigentlichen Seibert-Nachfolgers, das für die Berliner Harry Nutt verfasste – der ja auch als Autor der Frankfurter Rundschau bekannt wurde. (Ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen erinnern sich: In der lang vergangenen Zeit, in der die FR überregional ausstrahlte, konnte sie als SPD-nahste Zeitung gelten).
Journalismus ist in der neuen Regierungssprecher-Mannschaft also ganz gut vertreten, allerdings bisher kein öffentlich-rechtlicher. Wenn das dazu beiträgt, dass der Eindruck von Regierungsnähe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der die Ära Merkel auch prägte, zurückgeht, ist das keine schlechte Entwicklung.
Facebooks Rolle zwischen Myanmar, Syrien und Belarus
Noch eine Dernière steht kommende Woche bevor:
"In der nächsten Woche erscheint, nach 30 Jahren, die letzte gedruckte Ausgabe des 'Jahrbuchs Fernsehen'",
twitterte das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik gerade. Die im Jahrbuch stets enthaltene neue Liste der "größten Medien- und Wissenskonzerne" (um die es übrigens auch in einem der Jahresrückblicke gehen wird, die zwischen den Jahren wieder an dieser Stelle veröffentlicht werden) lässt sich bereits auf der Instituts-Webseite ansehen.
Auf Platz 3 steht der Facebook-Konzern, der sein Tun neuerdings mit dem schönen Namen "Meta" bemäntelt. 2020 machte er umgerechnet 75 Milliarden Euro. Was dabei hilft, eine weit verbreitete Schlagzeile einzuordnen. Das sind, rasch rück-umgerechnet, 84,5 Milliarden Dollar. Und "150 Milliarden Dollar: So viel Schadenersatz fordern Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar von Facebook", meldet etwa der Standard.
"Die am Montag eingereichte Klage gegen die Betreiber der Social-Media-Plattform argumentiert, deren Algorithmen förderten Desinformation und extremistisches Gedankengut. Dies habe zur Vertreibung Hunderttausender Rohingya aus Myanmar geführt, dem früheren Birma",
ergänzt die taz. Facebooks in Myanmar besonders große Bedeutung schildert die nach Deutschland geflüchtete Ambia Perveen bei "@mediasres": "In meiner Heimat hat jeder ein Facebook-Konto", sagt sie da, und: "Wir haben kein anderes Netzwerk".
Vor allem enthält der Vorwurf das theoretisch bekannte, freilich komplexe Problem, dass Facebook zwar größere Lösch- bzw. "Cleaner"-Teams unterhält, diese ihre Arbeit – die wenn sie getan wird, ja umstritten bleibt – vor allem in den Sprachen verrichten, in denen dem Meta-Konzern hohe Renditen winken. In den Sprachen armer Länder ohne große Werbemärkte engagiert sich der Konzern weniger.
Groß sind die Erfolgs-Chancen der Klage freilich nicht. "Nach US-Recht sind Facebook und dessen Mutterkonzern Meta weitgehend vor der Haftung für von ihren Nutzern geposteten Inhalten geschützt. Die Rohingya-Klage, die diese Verteidigung vorwegnimmt, argumentiert, dass gegebenenfalls die Gesetze von Myanmar – die keinen solchen Haftungsausschluss kennen – in diesem Fall Vorrang haben sollten", steht im Standard. Ziemlich ausgeschlossen, dass dieser Ansatz in den USA, die traditionell ja bereit sind, ihre Demokratie-Vorstellungen oder wenigstens Regimewechsel durch Militäreinsätze anderswo durchzusetzen (und die ihre Daten-Konzerne international auch deshalb unterstützen, damit alle Daten der Welt in den USA gespeichert werden). Doch "selbst wenn die Klage scheitert, dürfte sie dazu beitragen, dass Tech-Konzerne stärker reguliert werden", zitiert die taz mit Han Htoo Khant Paing einen weiteren Exil-Myanmarer.
Was ungefähr heißen könnte, dass "wer die Verbreitung von Nachrichten über einen Algorithmus steuert", ebenso in Haftung genommen wird, wie Presseverlage haften müssen, hofft die FAZ per Kommentar.
Dass man auch "der Selbstregulierung von Facebook nicht trauen kann", dass Facebooks Algorithmen allerdings in allen Sprachen der Welt funktionieren, sagt die Sicherheitsanalystin Monika Richter, die anhand "arabisch- und kurdischsprachiger Inhalte" für das in Prag ansässige Unternehmen Semantic Visions "Facebook’s Role in Sustaining Lukashenko’s Migration Offensive" untersuchte, heute im Interview auf der FAZ-Medienseite (75 Cent bei Blendle):
"Entweder lügt Facebook/Meta und erlaubt wissentlich die Verbreitung solcher Inhalte, oder sie sind extrem nachlässig in der Überwachung von illegalem und schädlichem Inhalt und in der Durchsetzung der von ihnen ausgerufenen Sicherheitsstandards."
Fotografen (und Musiker) haben es besonders schwer
Aus Fernost nach Köln: Wurzeln des Kölner Stadtanzeigers und des DuMont-Verlags reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. 1622 begann es mit Gebetbüchern, 1664 folgte eine erste, noch lateinischsprachige Zeitung, lässt sich in der Dumont-Selbstdarstellung nachlesen.
Diese lange Geschichte hat schon glücklichere Phasen gesehen als die Gegenwart, in der der KSTA zwar weiter im angestammten Verlag erscheint, aber eigentlich nur deshalb, weil niemand das in Köln wichtige Blatt zu dem Preis kaufen wollte, den Dumont erzielen wollte. Nun wird, wie überall im Zeitungs-Geschäft, weiter gespart. Medienwandels-Meldungen wie diese (der Gewerkschaft verdi und der in ihr organisierten Journalistengewerkschaft dju) gab es bislang allerdings, wenn überhaupt, dann selten:
"In einer überraschend anberaumten Videokonferenz sind die Redakteur:innen von Kölner Stadt-Anzeiger und Express darüber informiert worden, dass alle festangestellten Fotograf:innen zum 30.06.2022 gekündigt werden. Das Kölner Unternehmen DuMont Schauberg, das neuerdings unter dem Namen 'Kölner Stadt-Anzeiger Medien' firmiert, hat entschieden, ab dem 1. Juli kommenden Jahres das Bildmaterial bei freien Fotograf:innen oder Fotoagenturen einzukaufen. Zudem ist die Erwartungshaltung der Geschäftsführung um CEO Thomas Schultz-Homberg, dass die Redakteur:innen immer mehr Bildmaterial selbst mit ihren Mobiltelefonen erstellen – und die Arbeit der professionellen Fotografen ersetzen."
Zugleich geben die Redakteure, die künftiger auch mehr selber fotografieren sollen, sich innerhalb der beim KSTA über die Jahre sichtlich bescheiden gewordenen Rahmen Mühe, etwa indem sie bloggend Journalismus erklären, etwa den "Unterschied zwischen Neutralität und Sachlichkeit". "Wenn ein Artikel doch hauptsächlich Meinung enthält, wie etwa bei einem Kommentar oder einer Filmkritik, muss dies gekennzeichnet werden", schließt Martin Böhmer diesen Beitrag im ganz neuen KSTA-Blog.
In solch einem ausdrücklich gekennzeichneten Kultur-/Medien-Kommentar umkreist der Stadtanzeiger sozusagen das Ethos und tut etwas, was überregionale Zeitungen durchaus öfter tun könnten – populäre Netzwerke kritisch angehen:
"Diejenigen, welche die Inhalte schaffen, derentwegen Menschen Spotify abonnieren, werden von dem vorherrschenden Verwertungsmodell nahezu mittellos zurückgelassen",
schreibt Christian Bos unter der Überschrift "Wie ethisch ist eigentlich Spotify?", und:
"Die Millionen, die [Spotify-Gründer Daniel] Ek zuvor Musikern geraubt hat, steckt er jetzt in die Rüstungsindustrie",
nämlich in ein Münchner Start-up, das mit sog. Künstlicher Intelligenz die Muster hinter "unstrukturierten militärischen Daten" auswertet.
Der Medienwandel hat viele Erscheinungsformen, die vor allem damit zusammenhängen, wohin Geldströme fließen (und wohin deshalb nicht mehr), lässt sich festhalten. Wobei natürlich immer mit hineinspielt, was mediennutzende (und womöglich dafür sogar mit Geld zahlende) Menschen akzeptieren, und was vielleicht doch nicht. Dass guter Journalismus auch da gemacht wird, wo man ihn fast kaum noch erwartet, gehört überdies zur Gemengelage.
Altpapierkorb (Standard siegt gegen Österreich. "Sonderweg-Sender" BR?" "Pensionskasse mit Kabelanschluss". "Wackeldackel des journalistischen Populismus")
+++ Der Standard hat vorm Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Österreich gewonnen. "Konkret ging es um die Preisgabe der Identität von drei Userinnen oder Usern, deren Postings aus den Jahren 2011 bis 2013 Herbert Kickl (FPÖ) und Uwe Scheuch (BZÖ/FPK) sowie die Kärntner Freiheitlichen zu Klagen veranlasst hatten", berichtet das Blatt in eigener Sache. Die Postings aus den frühen 2010er Jahren waren und sind von der Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt, obwohl es sich um "– sehr kritische –" Postings handelt. Die Daten ihrer Urheber muss der Standard nicht herausgeben, lautet das Urteil. Was für aktuelle deutsche Diskussionen dann auch eine Rolle spielen könnte. +++
+++ Großes Interview mit der noch kein Jahr amtierenden Bayerischer Rundfunk-Intendantin Katja Wildermuth in der ebenfalls Münchener Süddeutschen (€). "Bleibt der BR in der ARD ein Blocker-Klops" und "Sonderweg-Sender"?, fragt Claudia Tieschky. "Alle Rundfunkanstalten haben verstanden, dass wir nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten müssen. Deswegen gibt es auch das Streamingnetzwerk mit dem ZDF. Unabhängig davon bringt natürlich jede Landesrundfunkanstalt bestimmte Stärken ein ...", antwortet Wildermuth so diplomatisch, als werde sie jetzt schon ARD-Vorsitzende. "Zeit im Fernsehen ist ein begehrtes Gut, bei Volksmusikern, Sportveranstaltern, politisch Aktiven, Sozialarbeitern – jeder hat das Bedürfnis, dass seine Arbeit gesehen wird, und jeder hat kluge Inhalte beizutragen", lautet eine noch schönere Sentenz. +++
+++ Seltsam wenig überregionales Echo fand die nun geglückte Intendanten-Wahl beim Hessischen Rundfunk, außer in der hessischen FAZ. Der gestern hier erwähnte Micha-Hanfeld-Text steht jetzt auch frei online und ist schon wegen der HR-Synonyme "Pensionskasse mit Kabelanschluss (alias Festangestelltenparadies mit sendereigener Tankstelle)" lesenswert. +++
+++ Der Verein "Klima vor acht" hat nicht nur die ARD "vor sich her" getrieben, sondern auch im RTL-Programm "starke Quoten" erreicht (was die ARD, wie sie ist, ja erst recht treiben dürfte). Daher rechnet dwdl.de ihn zu den "Bildschirmheldinnen und -helden, die zu einem guten Fernsehjahr beigetragen haben". +++
+++ Für schnelles Handeln ist der Deutsche Presserat nicht bekannt. Nun aber verkündete er bereits am gestrigen 7. Dezember, wegen des am 4. veröffentlichten Bild-Artikels "Die Lockdown-Macher" (Altpapier) eine "Sammelbeschwerde" zu prüfen. +++ "Die 'Bild'-Redaktion stellt sich momentan jedenfalls als Wackeldackel des journalistischen Populismus dar" (Tagesspiegel im selben Zusamenhang). +++
+++ "Als das Feuilleton an der Macht war", heißt Claudius Seidls FAZ-Gratulation zum 80. des "Politikers, Publizisten und Universalisten" Michael Naumann. Unter anderem bekleidete Naumann als erster kurz den Posten des (Bundes-)Staatsministers für Kultur und Medien, den nun ... na ja: Claudia Roth übernimmt. +++
+++ Und uebermedien.de kann auch Vermischtes und befragt dpa-Fotochefin Silke Brüggemeier in einem reichhaltig aus dpa-Beständen illustrierten Interview zu Symbolbildern an sich und insbesondere Ampel-Symbolfotos. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
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