Das Altpapier am 29. November 2021 Die Pandemie und der deutsche Blick
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29. November 2021, 10:18 Uhr
Eine Pandemie ist eine weltweite Epidemie. Vernachlässigt die deutsche Mediendebatte bisweilen das Weltweite daran und konzentriert sich zu sehr auf den direkten Alltag des eigenen Publikums? Außerdem: Warum die "Tagesschau" seit Samstag als Haupstadtflughafen des Fernsehens gelten darf. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Ist die Corona-Berichterstattung zu deutsch?
Als im April 2020, zu Beginn der Pandemie, einige Medien- und Kommunikationswissenschaftler die Coronaberichterstattung kritisierten, hielt Werner D’Inka in der FAZ dagegen. Er zitierte den früheren Intendanten des Hessischen Rundfunks, Helmut Reitze, der "Beschwerdeführern über angebliche blinde Flecken in der Berichterstattung" geantwortet habe: "Nicht alles, was Sie nicht gesehen haben, haben wir nicht nicht gesendet." Das ist nicht nur grammatisch ein schöner Satz, er stimmt zudem sehr oft, wenn jemand pauschal "die Medien" kritisiert, sie würden nicht vielfältig genug berichten (siehe zum Thema den Altpapier-Jahresrückblick auf die Coronaberichterstattung 2020).
Berichten "die Medien" aber womöglich zu monoton aus dem deutschsprachigen Raum und angrenzenden Ländern über die Pandemie? "Nicht alles, was Sie nicht gesehen haben, haben wir nicht nicht gesendet", könnte man beim ZDF auf diese Frage erwidern, wo erst letzte Woche das ganze "Auslandsjournal" internationalen Perspektiven auf Corona gewidmet war. Dasselbe könnte man auch bei der ARD sagen, wo der "Weltspiegel" am gestrigen Sonntag kurzfristig eine Südafrika-Reportage namens "Jagd auf Kakteen-Schmuggler" gegen den aktuellen Südafrika-Beitrag über "Omikron – die neue Corona-Variante und die Folgen" ausgetauscht hat.
"Nicht alles, was Sie nicht gelesen haben, haben wir nicht nicht geschrieben", könnten auch Korrespondentinnen und Korrespondenten sagen, die in diesen Tagen aus Kapstadt über die Corona-Lage berichten, etwa Claudia Bröll (für die Frankfurter Allgemeine Zeitung), Christian Putsch (für die Neue Zürcher Zeitung oder Die Welt), Bernd Dörries (für die Süddeutsche Zeitung) oder Johannes Dieterich (u.a. für die Frankfurter Rundschau).
Und doch würde ich behaupten, dass in den vergangenen 21 Monaten die Pandemie medial nicht ausreichend als das behandelt wurde, was sie nach der Definition des Robert Koch-Instituts ist – eine "weltweite Epidemie".
Corona in, zum Beispiel, Afrika ist vor allem dann ein prominentes Thema der Berichterstattung, wenn eine direkte Auswirkung auf die deutsche Leserschaft abgeleitet wird – so wie jetzt, da eine neue Virusvariante identifiziert wurde. Die Rheinpfalz am Sonntag nahm nach der Entdeckung von Omikron zum Beispiel "das Virus aus Afrika" in die Titelzeile, wie eine rheinland-pfälzische SPD-Abgeordnete kritisierte; zu sehen war dazu ein Foto einer afrikanischen Frau und eines Kindes. Die da unten brocken uns nun eine neue Mutation ein – so konnte man das lesen. Ob es so gemeint war oder nicht (und die Social-Media-Redaktion der Zeitung versicherte am Sonntag, sie habe keine rassistischen Vorurteile bedienen wollen und bezeichnete die Fotoauswahl als "unpassend"): Der ganze Kontinent wurde dadurch für die Virusvariante in Haftung genommen; und zwei schwarze Menschen personalisierten sie, abwegigerweise.
Das ist nun nur ein einzelnes Berichterstattungsbeispiel. Aber es zeigt, welche Verantwortung Redaktionen haben.
Nicht nur ist es, Stand heute, überhaupt nicht klar, ob es sich bei Omikron um eine Virusmutation handelt, die "aus Afrika" kommt oder ob sie nur – was in jedem Fall verdienstvoll ist – in Südafrika erstmals nachgewiesen wurde. Vor allem können solche Zuschreibungen Vorurteile verstärken. Der Mediendienst Integration schrieb im Mai (pdf) unter Bezug auf Studienergebnisse, 15,2 Prozent der Befragten hätten asiatische (oder, wie es eigentlich treffend heißen muss, asiatisch gelesene) Menschen in einer früheren Phase der Pandemie "für die rasante Ausbreitung der Corona-Pandemie in Deutschland verantwortlich" gemacht, "oft mit Bezug darauf, dass die Pandemie ihren Ausgangspunkt in China hatte".
Noch aus einem weiteren Grund ist es problematisch, dass die Pandemieberichterstattung stark auf die eigene nationale und regionale Lebenswelt fokussiert ist: Es entsteht womöglich ein falscher Eindruck davon, was zur Bekämpfung der Pandemie notwendig ist.
3G, 2G, 2G plus? Shutdown für wenige Wochen? Impfpflicht? Ein General als Leiter eines neuen Corona-Krisenstabs? Wird derzeit alles diskutiert. Aber es gäbe noch eine weitere Möglichkeit: Das reicht alles auf lange Sicht nicht. Andreas Cichowicz sagte am Sonntag im "Weltspiegel" in seiner Moderation: "Die Pandemie ist nicht vorbei, wenn wir sie in Deutschland, in Europa in den Griff bekommen haben. Sie muss auch in Afrika, in den Schwellenländern bekämpft werden." Diese Selbstverständlichkeit leitet das Nachdenken über die Pandemie nur geringfügig.
Das ist ein Problem, für "uns", aber vor allem für Gesellschaften wie die kenianische. Dort plant die Regierung ab Mitte/Ende Dezember eine 1G-Regelung für den Nahverkehr, Behördengänge oder Restaurants. Und das, obwohl nur wenige Menschen in Kenia vollständig geimpft sind, laut Welt nur 9 Prozent. Auch wer sich impfen lassen wolle, habe es zuletzt nicht geschafft, an eine Dosis zu kommen, schreibt das südafrikanische Magazin The Continent (pdf) – es fehlt Impfstoff. Das Magazin macht die Organisation durch die kenianische Regierung ebenso für den Mangel verantwortlich wie westliche Länder, die viel mehr Impfstoff bestellt hätten als sie brauchten. Jetzt hänge die Versorgung von Impfstoffspenden ab.
Nicht dass deutsche Redaktionen nicht über die ungerechte Verteilung von Impfstoff auf der Welt berichten würden. Vor allem auf Auslandsberichterstattung spezialisierte Journalistinnen und Journalisten tun das durchaus. Aber in einer globalen Krise können globale Perspektiven nicht randständig sein. So zehn, zwanzig Talks zum Thema würden allmählich auch mal nicht schaden.
Der BER des Fernsehens
Was nicht zu kurz kam in der Berichterstattung: eine Panne bei der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" vom Samstag. Sie begann nicht… und begann dann irgendwie immer noch nicht… und begann dann doch, allerdings eben mit 44 Sekunden Verspätung. "Kurz darauf war das soziale Netzwerk Twitter bereits voll mit Bildern von blauen Fernsehbildschirmen und Uhren, die etwa 20.00.20 Sekunden anzeigten", wie zum Beispiel der Kölner Stadt-Anzeiger auf seinen Seiten zu vermelden wusste. Und er hatte auch selbst eine Art Meinung: "Offenbar ist nichts mehr wie in Stein gemeißelt. Auch nicht bei der Tagesschau." spiegel.de, faz.net, Welt.de, n-tv.de, rnd.de, t-online.de und tagesspiegel.de, um nur mal einige zu nennen, berichteten ebenfalls.
Hier noch einmal der Anlass: Die "Tagesschau", quasi der Flughafen BER des Fernsehens, begann am Samstag mit 44 Sekunden Verspätung.
Altpapierkorb (Beteiligung an der ÖRR-Auftragsdebatte, neuer Film von Lehrenkrauss, Impfwerbung in Medien, Presseschikanen an den EU-Außengrenzen)
+++ Wolfgang Michal erklärt im Freitag Rundfunkpolitik und macht in diesem Rahmen darauf aufmerksam, dass "seit dem 19. November … alle Bürger an der Neudefinition des Rundfunks im digitalen Zeitalter teilhaben (können): Seit diesem Tag steht der Entwurf zur Änderung des Rundfunkauftrags auf der Webseite der Rundfunkkommission. Und jeder darf mitdiskutieren." Eine seiner Prognosen: "Würde die angepeilte Strukturreform tatsächlich 2025 durch eine Finanzreform ergänzt, welche die Rundfunkgebühr an die Inflationsrate koppelt, ergäbe sich – trotz allen Süßholzraspelns über Zukunftsfähigkeit und Modernisierung – eine Vollbremsung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk." Im Oktober hatten sich die Länder bei den Beratungen in der Rundfunkkommission "einmütig auf einen Entwurf über eine Novellierung des Auftrages für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk", schrieb damals die FAZ. Nora Frerichmann fasste im Altpapier zusammen: Es sollen "weniger Programme bei den Anstalten beauftragt werden, damit sie in Absprache mit ihren Gremien entscheiden können ob und wann lineare Angebote weitergeführt, in Onlineformate umgewandelt oder ganz eingestellt werden." (Für die Transparenz: Ich habe für dieselbe Ausgabe des Freitags einen Beitrag beigesteuert.)
+++ Die Regisseurin des zum Teil nicht dokumentarischen Dokumentarfilms "Lovemobil" (siehe etwa dieses oder jenes Altpapier), Elke Margarete Lehrenkrauss, hat einen neuen Film gemacht, schreibt der Tagesspiegel: für die "Ab 18!"-Reihe, die bei 3sat laufen wird. "Anlass zur Kritik wegen unerlaubter Inszenierungen liefert ihr nächster veröffentlichter Film nach 'Lovemobil' nicht", so Thomas Gehringer.
+++ "Wie dreist dürfen Medien eigentlich werben?", fragte Marlene Knobloch am Samstag in der SZ (Abo). Man könnte es so beantworten: Solange erkennbar "Anzeige" drüber steht – go ahead. Aber diese Art von Werbung ist nicht gemeint. Gemeint ist Werbung fürs Impfen. In der ProSieben-Show "Zervakis & Opdenhövel. Live" bekam Linda Zervakis vor laufenden Kameras ihre Booster-Impfung. Und der "ORF veranstaltet gerade eine landesweite Impflotterie: Wer impft, gewinnt. Wer sich impfen lässt, kann zum Beispiel ein Fertigteil-Einbaufamilienhaus gewinnen."
Und darüber gab es nun eine kleine, gewinnbringende Diskussion: Darf man das? (Ja.) Soll man das? (Je nachdem.) Bringt das was? (Hm.) In der Coronakrise, die "auch eine Krise der Institutionen" sei, könne Engagement fürs Impfen – frei die SZ zusammengefasst – die Ablehnung vielleicht noch verstärken. "Wenn Medien die Aufgabe der Politik übernehmen", kommentierte kürzlich schon Brigitte Baetz bei @mediasres im Deutschlandfunk, "dann wirkt es wie eine Form von Propaganda. Sie macht Medien vollkommen unnötig angreifbar und verstärkt das Märchen von den Systemmedien."
Harald Staun wies die Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zurück: "So fraglich es tatsächlich ist, ob solche Aktionen nennenswerte Effekte haben, so fatal ist das Argument: Es nimmt die querdenkerische Rhetorik, nach der das Impfen eine Direktive der Regierung ist, einfach hin." Wenn Medien "aus eigenen Stücken für die Impfung werben, vielleicht einfach, weil sie diese für eine vernünftige und gesellschaftlich gebotene Sache halten" – warum nicht?
+++ Reich an beschriebenen, nun ja, Einzelfällen ist der taz-Text von Christian Jakob und Peter Weissenburger über Journalisten, die bei ihren Recherchen an den EU-Außengrenzen "Schikane, Willkür und Versuche, Pressearbeit zu kriminalisieren" erleben (siehe auch Altpapier vom vergangenen Montag).
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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