Teasergrafik Altpapier vom 23. November 2021: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 23. November 2021 Diese Jugend von heute

23. November 2021, 10:28 Uhr

Wie grün denkt man sich junge Menschen? Und apropos: Wann dürfen sie wieder saufen gehen? Ein Altpapier über zu wenig grüne und blaue Jugend von Jenni Zylka.

Grünes Gewissen

Das Lesen von Studien ist ein schönes Steckenpferd. Man kann den wissenschaftlichen Fleiß anderer Menschen bewundern, den eigenen "Besserwisserbedarf" füttern, und hernach mit Partywissen glänzen. Vor allem Jugendstudien sind fun: Diese hier wurde im Oktober unter rund 1000 14- bis 29-jährigen Deutschen durchgeführt. Das ergibt in Studienkreisen eine "quotenrepräsentative" Aussage, und erklärt so einiges.

Nach dieser Studie ist die so genannte Generation Z "nicht so grün wie gedacht", so überschreibt jedenfalls die Tagesschau einen Bericht dazu auf ihrer Homepage. Wobei dann natürlich erst einmal genau geklärt sein müsste, wie grün man sie sich denn denkt: Glaubt etwa jemand, dass 100% der Kinder von den größten Konsumentinnen und Konsumenten aller Zeiten, uns, jetzt mal eben innerhalb von ein paar Jährchen Bewusstseinsbildung, plötzlich ihr ganzes, verwöhntes Leben auf Nachhaltigkeit umstellen? So heißt es im Tagesschau-Text:

"Demnach treibt der Klimawandel die 14- bis 29-Jährigen stärker um als etwa die Zukunft des Rentensystems (48 Prozent), die Folgen einer Inflation (46 Prozent) oder einer Spaltung der Gesellschaft (44 Prozent. Dennoch sei die Bereitschaft gering, auf das eigene Auto oder Flugreisen zu verzichten, stellten die Autoren der Studie, der Kemptener Jugendforscher Simon Schnetzer und der Berliner Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, fest. Rund 60 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sind demnach nach wie vor regelmäßig privat mit einem Auto unterwegs. Mehr als 80 Prozent können sich ein Leben ohne Auto nicht vorstellen. Nur 19 Prozent der Befragten zeigten sich bereit, dauerhaft auf ein eigenes Auto verzichten zu wollen. Rund ein Viertel (27 Prozent) will nicht mehr fliegen."

Und hier zum Vergleich die Aussage von der Homepage der Studienmacher:

"Eine genaue Analyse des ökologischen Verhaltens zeigt, dass die Jugend in Deutschland nicht so "grün" ist, wie sie manchmal unter dem Eindruck von aktiven Umweltbewegungen wahrgenommen wird. Rund 60% der 14- bis 29-Jährigen sind regelmäßig privat mit einem Auto unterwegs. Der Anteil der Befragten, die bereit sind, dauerhaft auf ein eigenes Auto (19%) oder auf Flugreisen (27%) zu verzichten, ist noch gering. Hoch ist dagegen der Anteil derer, die hin und wieder neue Verhaltensweisen erproben und möglicherweise auf lange Sicht bereit sind, ihr Verhalten zu verändern."

Dauerhafter Verzicht

Der Original-Ausschnitt klingt etwas anders: Dass auch bei der Frage nach dem Verzicht auf Flugreisen tatsächlich das kleine Adjektiv "dauerhaft" eingefügt war, hat der erste Text unterschlagen. Und dass sich "mehr als 80 % ein Leben ohne Auto nicht vorstellen können", ist eine andere Aussage als "19 % wollen dauerhaft auf das Auto verzichten".

Denn selbst Die-Hard-Öko-Terroristinnen wie ich würden bei "dauerhaft" zusammenzucken: Dauerhaftes Verzichten verträgt sich nicht mit dem Gedanken, vielleicht doch noch mal mit etwas Glück und viel recycelbarer Innovation eine so nachhaltige Art des Fliegens oder des Individualverkehrs präsentiert zu bekommen, dass die Ökobilanz nicht beeinträchtigt wird. Mit anderen Worten können sich vermutlich sehr viele Menschen ein Leben ohne Auto vorstellen – dann nämlich, wenn es andere Möglichkeiten gibt, in Stadt und Land und der Welt herumzugondeln. Und bei einer Frage nach "weitgehendem" oder "möglichem" Verzicht auf besonders umweltbelastendes Reisen und Transport hätte man ein anderes Stimmungsbild gewonnen: Der Mensch, auch der "Springinsfeld", ist in manchen Dingen einfach ungern kategorisch, jedenfalls solange er noch niemals in New York war oder im Zweifelsfall noch nicht mal die Abi-Reise geplant hat.

Schlaflose Kugelschreiberin

Aber das mit der Jugend und dem Verzicht ist ja ohnehin so eine Sache. Megaviral geht momentan immer noch dieser Werbespot des Discounters Penny. Über 7,5 Millionen Menschen (?!) haben ihn schon bei YouTube angeschaut, knapp 5000 kommentiert. Im Spot sitzt eine Frau aus der Kugelschreibergeneration nachts mit Tasse und Kugelschreiber am Wohnzimmertisch, als ihr schlafloser Teenagersohn sich dazu setzt und sie fragt, was sie sich zu Weihnachten wünscht.

Während jene Klavierakkorde wiederholt werden, die tatsächlich die vier am meisten benutzten Klavierakkorde in sämtlichen Werbespots UND sämtlichen Popsongs sind (a-Moll, F-Dur, C-Dur, G-Dur mit anderen Worten: It’s my life von Bon Jovi), während also eine Totschlag-Emotionalisierungskampagne auf der durch Musik erreichbaren Suggestivebene richtig aufdreht, wünscht sie sich:

Dass er das macht, was Jugendliche anscheinend machen, ausgehen und zu viel trinken, feiern, sich verlieben, das Herz gebrochen bekommen und in die Welt ziehen. Während Corona konnten viele Erfahrungen nicht gemacht werden, schreibt Penny am Ende, man wolle darum "ein Stück der Jugend" zurückgeben und deutet Geschenke an. Es geht dem zur Rewe-Group gehörenden Discounter um ein Gewinnspiel mit Gutscheinen für Events und Sachpreise.

Düstere Zeiten

Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich schwer bezweifle, wie glücklich die Kugelschreiberfrau tatsächlich wäre, wenn ihr Söhnchen wieder saufend um die Häuser zieht und jede schiefe Bahn betritt; und mal abgesehen von den von mir in den Ecken der dunklen Riesenbude anstatt Penny-Billigfleisch gewitterten nachhaltigen Ökonahrungsmitteln, scheint der Spot tatsächlich ein absoluter Bringer auf der Werbungsmanipulationsskala zu sein: Jede Menge Menschen haben "Gänsehaut", sind "gerührt", danken dem Discounter für die "klare Aussage" und mussten weinen.

Ganz in diesem Sinne kommentiert die Berliner Zeitung mit den elementaren Keywords "Herz", "düster" und "Zeit":

"Das hier ist ein Werbespot von Penny, aber er trifft mitten ins Herz dieser düsteren Zeit."

Und stellt weiter fest:

"Es ist ein Angebot, wie ich es in dieser ganzen Zeit von niemandem bekommen habe. Ich bin dankbar dafür. Und wenn man sich die Kommentare unter dem Video anguckt: Ich bin nicht die Einzige."

Man beachte, wie eigenartig doch das Wort "Angebot" in diesem Zusammenhang klingt. Und tatsächlich hatte niemand vorher "angeboten", sich darüber zu ärgern, dass man momentan zuhause herumhängen muss? Erstaunlich.

Die Zeit kritisiert an der ganzen Chose lustigerweise etwas anderes:

"Was ist daran erschütternd? Dass endlich jemand anderes als die Eltern sich an die Jungen wendet und einräumt, dass es uneingeschränkt falsch ist, die Jugend zu verpassen? Dass wir alle, die ganze Gesellschaft, statt endloser Monate voller Finsternis und Quarantäne lieber Erlebnisse wollen? Verpasstes Leben als etwas zu denken, das man nachholen könnte, ist nett gemeint. Dass Pennys Jugendaufholgutscheine aber genau jetzt verlost werden, wo sie vermutlich so bald keiner einlösen kann, zeigt, was Vergeblichkeit ist. Wieder nur Mama umarmen ersetzt nicht die Liebe."

Genau, was soll man mit Jugendaufholgutscheinen, wenn man sich doch nicht zum Saufen treffen darf?! (Allerdings hätte ich unbedingt auch gern ein paar Jugendaufholgutscheine, wenn wir schonmal dabei sind. Ob es die auch für Alte gibt?)

Symbolstarke Bilder

Die FAZ geht noch weiter in ihrer Kritik, und liefert eine umfassende Analyse:

"Eine weitere Methode, die seit Jahren online wie offline erfolgreich ist: der übermäßige Einsatz von Gefühlen. Werbefachleute glauben an emotionale Kommunikationsstrategien, da für Konsumenten Werte und Haltungen hinter einer Marke zunehmend wichtig werden. Und die emotionale Bindung an Unternehmen führt zu Kaufentscheidungen. (…)

Entscheidend für gelungene emotionale Werbung sind die verwendeten Bilder. Sie müssen eine Geschichte erzählen, dabei symbolstark sein und ein besonderes Augenmerk auf Mimik, Gestik oder auch Körperhaltung legen. Es bieten sich emotionale Themen wie Ungleichheit, Inspiration und Schicksale an — und es muss schnell deutlich werden, um was es in der ausgespielten Werbung geht. Denn es gilt, in nur wenigen Sekunden die Aufmerksamkeit des Betrachters für sich zu gewinnen. Hilfreich sind auch gefühlsstarke Musik sowie Protagonisten mit Identifikationspotenzial, um den Empathie-Faktor zu erhöhen. All diese Faktoren erfüllt die Weihnachtskampagne der Supermarktkette."

Sag ich doch: a-Moll, F-Dur, C-Dur, G-Dur (ein kleines e-Moll schleicht sich auch noch ab und an ein), Tränen. Darüber hinaus weist die Autorin auf einen weiteren Punkt hin:

"Auch Impfgegner finden an dem Clip Gefallen, da Penny in ihren Augen gegen angeblich manipulierende Corona-Mächte in die Schlacht zieht. Denn: Der Werbekurzfilm lässt vollkommen offen, wer Schuld daran trägt, wenn Jugendliche in der Pandemie auf den ersten Kuss, den ersten Liebeskummer und die ersten Clubbesuche verzichten müssen. Ist es das Corona-Virus? Die Ungeimpften? Oder eine versagende deutsche Regierung? Hierzu schweigt der aufwendig produzierte Film. Wasser auf die Mühlen der Impfgegner nimmt er damit in Kauf — den Klicks zuliebe."

Was mich persönlich am meisten stört, ist die Idee der FOMO, Fear Of Missing Out, die hinter der Kampagne steckt: Niemand verpasst gerade irgendetwas, denn verpassen kann man nur, was stattfindet. Momentan, beziehungsweise etwas diffus gefühlt in den letzten anderthalb Jahren fand aber nichts statt – bis auf die von ungefähr 50 Sentinales:innen bewohnte Insel North Sentinel, deren Bevölkerung den Kontakt mit dem Rest der Welt ablehnt (und frechen Missionaren dementsprechend beikommt), sitzen momentan alle Menschen auf dem Planeten sozusagen im selben Boot. (Nur dass sie aus Abstandgründen nicht wirklich im selben Boot sitzen dürften.)

Die Partys, auf denen der Kugelschreibermuttersohn saufen geht, finden ebenfalls nicht statt. Er kann und wird sie demnach alle gemeinsam mit seinen Freundinnen und Freunden und viel Penny-Bier nachholen können. Eine Sause, an die die Kugelschreibermutter noch lange denken wird. Aber ich will dann keine Klagen hören.


Altpapierkorb (... mit Traumschiff, Talkshows, Dunja Hayali und Frauen im afghanischen Fernsehen)

+++ Zum 40. Jubiläum erinnert die taz auf einer launigen ganzen Seite an die Serie "Das Traumschiff". (Ohne allerdings das Vorbild "Love Boat" auch nur zu erwähnen, eigentlich ein Fauxpas für Schiffsserienaffcionadas!)

+++ Der Tagesspiegel hat zusammengetragen, welche Talkshows inzwischen wieder Klatschvieh, ich meine natürlich das verehrte Publikum ins Studio lassen, und zitiert Frank Plasberg mit einem Satz aus einem sehr interessanten Übermedien-Interview vom Juni: "Eine gute Talkshow ist immer auch eine Arena." Und was macht das aus den geladenen Gästen?

+++ Der Spiegel berichtet, dass die Moderatorin Dunja Hayali auf eine Twittermeldung, sie sei beim Einkaufen angespuckt und als "Impf-Nazi" bezeichnet worden, auch sehr viele beleidigende, hasserfüllte und kritische Kommentare bekam. Der ganze Thread ist in Teilen so gruselig, dass ich ihn nur begrenzt empfehlen kann, andererseits nützt das Ignorieren ja auch nix.

+++ Und in Afghanistan haben die regierenden Taliban verboten, Filme oder Serien im Fernsehen zu zeigen, in denen Frauen mitspielen, oder die gegen die Scharia verstoßen, berichtet die taz. Um die Tugend zu schützen…

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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