Teasergrafik Altpapier vom 12. November 2021: Porträt Autor Annika Schneider
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Das Altpapier am 12. November 2021 Wenn Menschen zur "Welle" werden – ganz ohne Corona

12. November 2021, 11:08 Uhr

Während manche aus Belarus eine "Flüchtlingswelle" heranrollen sehen, stecken tatsächlich Tausende Menschen an der Grenze fest. Und auch die Berichterstattung darüber kommt aus alten Mustern nicht heraus. Ein aktuelles Beispiel zeigt, wie es besser geht. Ein Altpapier von Annika Schneider.

"Tausende" bleiben anonym

Wie man über die aktuelle Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen auf keinen Fall berichten sollte, zeigte diese Woche die "Bild". Gleich zweimal versuchte die Redaktion in den vergangenen Tagen, mit Titelseiten Panik zu verbreiten. "Tausende drängen Richtung Deutschland!", hieß es am Dienstag. Noch dramatischer wurde es gestern: "Schützt die EU-Grenze!", lautete die Titelschlagzeile. Darunter: "Tausende wollen zu uns." Das klingt fast so, als würde das Blatt dazu auffordern, selbst nach Polen zu reisen, und Menschen zurück auf die belarussische Seite zu schubsen.

Nun hat vermutlich niemand erwartet, dass ausgerechnet die "Bild" als Referenz für gelungene Migrationsberichterstattung dient. Möglicherweise steht es aber nicht nur im Boulevard schlecht um die Darstellung von Fluchtthemen. Das zeigte zuletzt im Juli diese Studie der Uni Mainz, die deutschen Leitmedien bescheinigte, Geflüchtete oft als Bedrohung und Sicherheitsrisiko darzustellen und sie nur selten als individuell Handelnde zu zeigen. Die Berichterstattung ist demnach inzwischen negativer als noch 2015, aber auch widersprüchlich, weil Geflüchtete gleichzeitig als schutzbedürftig und gefährlich präsentiert werden. Die Autoren kommen zu dem Schluss, es sei

"wünschenswert, dass im Journalismus das  Verständnis  für die  nicht  intendierten negativen Folgen einer zugespitzten Berichterstattung  wächst.  Dabei ist  es selbstverständlich, dass über Geflüchtete, die gerade aus dem Meer gerettet wurden, anders berichtet wird, als über Geflüchtete, die gerade einen Terroranschlag verübt haben. Allerdings gehören die allermeisten Geflüchteten weder zu der einen, noch zu der anderen Gruppe. Die starke Fokussierung der Medien auf extreme Ereignisse führt aber dazu, dass diese Menschen weitgehend unsichtbar bleiben."

Notwendig sei mittel- bis langfristig ein "grundsätzliches Umdenken im Journalismus". Obwohl diese Appelle immer wieder zu hören sind, scheinen sie in den Redaktionen noch nicht wirklich angekommen zu sein. Der Ethnologe Simon Goebel, der sich seit langem mit der Berichterstattung über Migration beschäftigt, schrieb vor kurzem in der Zeitschrift für Migrationsforschung:

"[Wir erleben] tagtäglich einen medialen und politischen Diskurs, der dem wissenschaftlichen Diskurs um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte hinterherhinkt."

Seine Kritik konkretisierte er in einem Interview bei @mediasres im Deutschlandfunk (für das ich auch arbeite, hier das Audio). Medien sollten Geflüchtete nicht als homogene Masse vereinheitlichen, sondern mehr individuelle Perspektiven abbilden, forderte er – also das genaue Gegenteil von dem, was die "Bild" mit ihren anonymen "Tausenden" macht.

Außerdem verurteilte er Begriffe wie "Flüchtlingswelle", die schutzsuchende Menschen mit Naturgewalten verglichen. Mein Eindruck ist, dass die Sensibilität für diesen und ähnliche Begriffe (Flut, Strom…) inzwischen gestiegen ist und sie längst nicht mehr so häufig zu lesen sind. Eine schnelle Recherche zeigt allerdings, dass die "Flüchtlingswelle" im den vergangenen Wochen immer noch in Berichten auftauchte, unter anderem in der Welt, im Stern, in der FAZ und in der SZ (hier im Seitentitel, aber nicht mehr im Beitrag selbst).

Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie gute Berichterstattung über Migration aussehen kann. Wer mit Forscherinnen und Forschern aus dem Bereich spricht (wie ich es für diesen Dlf-Beitrag getan habe), hört immer wieder von der Frustration, dass sich an problematischen Darstellungen trotzdem wenig ändert.

Relevant ist das, weil die Medien die Grundlagen für einen angemessenen gesellschaftlichen und politischen Diskurs liefern – viele Menschen begegnen in ihrem Alltag keinen oder kaum Geflüchteten, dementsprechend beziehen sie ihr Wissen zum Thema Flucht aus Fernsehen, Radio und Co.. Wenn die Berichterstattung wiederum zwei Fronten aufbaut ("wir Deutschen" vs. "die Migranten"), dann trägt das langfristig zur gesellschaftlichen Spaltung bei.

Die Wahrheit hinter dem "Sturm"

Nun werden Journalistinnen und Journalisten womöglich einwenden: Wie soll das denn gehen, die Migrantinnen und Migranten, etwa an der belarussisch-polnischen Grenze, nicht zu homogenisieren? Man kann ja schließlich nicht jede der Familien, die dort in der Kälte ausharren, einzeln abbilden. Deswegen an dieser Stelle ein Positivbeispiel, das zeigt, dass eine differenzierte Darstellung möglich ist – sogar mit den zeitlichen Begrenzungen eines tagesaktuellen Nachrichtenmagazins.

Olaf Bock, Studioleiter der ARD in Warschau, berichtete gestern im "Morgenecho" auf WDR5 in einem Kollegengespräch aus Polen von der Situation an der Grenze zu Belarus (leider ist das Audio online nicht verfügbar). Konkreter Anlass war die Nachricht, dass an zwei Stellen Migrantengruppen den Grenzzaun überwunden hatten.

Das rund fünfminütige Gespräch entlarvte den angeblich drohenden "Sturm" auf die Grenze als ein von Scharfmachern verwendetes Framing, das mit der Realität wenig zu tun hat: 15.000 Soldaten und Grenzschützer seien vor Ort. Bei den beiden Durchbrüchen seien im Vergleich dazu lächerliche rund 280 Menschen auf die polnische Seite gelangt – und die seien größtenteils wieder zurückgebracht worden. Außerdem schilderte Olaf Bock, wie polnische Initiativen versuchen, die verzweifelten Menschen an der Grenze zu versorgen. Und er berichtete von den Erlebnissen einer kurdischen Familie aus dem Irak, die angab, vor Verfolgung geflohen zu sein, und denen eine "Reiseagentur" eine leichte Einreise versprochen hatte, die nun aber schon seit drei Tagen im Wald festsaß.

Der Beitrag schafft es somit, die Schwarz-Weiß-Darstellung der beiden Seiten aufzubrechen. Aus "den Flüchtlingen" werden konkrete Menschen und auch auf Seite "der Polen" entsteht ein realitätsnäheres Bild als das einer geschlossen flüchtlingsfeindlichen Nation.

Das Gespräch vermittelte somit einen ganz anderen Eindruck als andere mediale Abbildungen, in denen die Migranten zum Beispiel nach der Grenzüberquerung "gefasst" wurden – eine Wortwahl, die an den Umgang mit Kriminellen erinnert.

Akkurat ist anstrengend

Das Beispiel zeigt, wie wichtig es bei dem Thema Flucht und Migration ist, dass jede Vokabel sitzt. Migranten, Geflüchtete, illegale Einwandererinnen – die Begriffe unterscheiden sich nicht nur in ihrer Bedeutung, sondern auch in den Gedankenwelten, die sie beim Lesen und Hören aufrufen.

Und nein, es geht hier nicht darum, sich journalistisch für die Aufnahme von Flüchtlingen zu engagieren und dabei zum Aktivist oder zur Aktivistin zu werden. Es geht darum, die Wirklichkeit so akkurat zu beschreiben, dass darauf dann ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs aufbauen kann – der politisch unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt, aber niemals dazu verführt, die humanitären Folgen der eigenen Entscheidungen auszublenden oder gar Menschen ihre Würde und Rechte abzusprechen.

Was helfen könnte: mehr Expertinnen und Experten zu Fluchtthemen zu Wort kommen lassen, die es ja in allen möglichen akademischen Disziplinen von der Politikwissenschaft bis zur Sozialen Arbeit gibt.


Altpapierkorb (Fernsehen für die Demokratie, Impfwerbung, Urteil in Myanmar, Hörspielpreise)

+++ Die Wiederauferstehung von massentauglichen, linearen Fernsehprogrammen ist im Altpapier diese Woche schon ausführlich Thema gewesen, am Beispiel von "TV Total" und "Wetten, dass…?" (und noch einmal hier). Einen weiteren Aspekt bringt nun Meedia-Redakteur Tobias Singer ein. Er beschreibt lineares Fernsehen als demokratiefördernd: "Wer sich auf der einen Seite beklagt, dass der Meinungsaustausch lahmt, auf der anderen Seite aber nur noch in die Streamingwelt abtaucht, der nimmt sich selbst aus dem Diskurs." Es ließe sich einwenden, dass auch eine Serie wie "Squid Game" durchaus einen Diskurs auslösen kann, bei dem sich eine Gesellschaft über ein Thema verständigt.

+++ Das Verführerische an Verschwörungstheorien ist ja, dass sie so einfach sind – da kann die Wahrheit mit ihrer nervigen Komplexität kommunikativ einfach nicht mithalten. Ein schönes Gegenbeispiel beschreibt die FAZ: Ein britischer Intensivmediziner (nach eigenen Angaben) twitterte ein Foto von all den Medikamenten, die ein Covid-Patient auf einer Intensivstation an einem Tag benötigen könnte. Zusammen mit der FAZ-Überschrift "Ein Piks oder fünfzig Präparate?" ist das eine visuell einleuchtende und leicht verständliche Botschaft für die, die vor der Impfung noch zurückschrecken – vermutlich überzeugender als jeder lange Fachartikel zur Wirksamkeit der Vakzine.

+++ In Myanmar ist der US-Journalist Danny Fenster zu elf Jahren Haft verurteilt worden (hier eine Agenturmeldung beim Stern). Er hatte in dem Land für eine Lokalzeitung gearbeitet. Ihm werden "Aufwiegelung und Terrorismus" vorgeworfen, wie in diesem Spiegel-Text zu lesen ist.

+++ Und noch ein Terminhinweis: Heute und morgen finden in Karlsruhe 2G-geschützt die ARD Hörspieltage statt, inklusive Verleihung des Deutschen Hörspielpreises. Die Diskussion der Jury ist öffentlich und beginnt heute um 13:30 Uhr – einen Online-Link habe ich allerdings nicht gefunden.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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