Das Altpapier am 8. November 2021 Lieber nicht fernsehen als falsch fernsehen
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08. November 2021, 10:29 Uhr
Der Ort, an dem "Wetten, dass..?" zu Hause ist, ist nicht Nürnberg oder Böblingen und auch nicht das miteinander geteilte Wohnzimmer, sondern das Gedächtnis. Die Unterhaltungsshow mag bei ihrem Comeback am Samstag ihr Publikum gefunden haben – auf eine große Zukunft muss man trotzdem nicht wetten. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Sie ahnen nicht, was sie verpassen
Am Samstagabend habe ich meinen Kindern "Wetten, dass..?" angeboten. Sie sollten die Gelegenheit bekommen, deutsche Kulturgeschichte selbst zu erleben. Das kleinere Kind stellte allerdings rasch fest, dass die "so viel labern", und fand es nicht so bedauerlich wie sonst, nicht bis zum Einrosten aller bewegten Bilder wachbleiben zu können. Und das größere Kind zog sich aus freien Stücken noch vor der Dart-Wette zurück: lieber nicht fernsehen als falsch fernsehen.
Meine alten Kollegen Arno Frank und Stefan Kuzmany, die zusammen mit Anja Rützel bei spiegel.de während der Sendung livetickerten, berichteten Ähnliches. "Schauen Deine Kinder mit Dir, Arno? Mein 13-Jähriger hat kurz reingeschaut und spielt jetzt doch lieber Minecraft", schrieb Kuzmany, und Frank antwortete ihm: "Töchter haben Besuch und gucken nebenan 'Greg's Tagebuch', 3,99 auf Amazon Prime Video. Sie ahnen nicht, was sie verpassen".
Das sind natürlich nur anekdotische Beispiele, und sie scheinen auf den ersten Blick nicht zu den Meldungen vom Sonntag zu passen, denen zufolge das zunächst einmalige Revival von "Wetten, dass..?" nicht nur äußerst gute Quoten hatte, sondern sogar einen Marktanteil von 50,2 Prozent "beim jüngeren Publikum".
Allerdings ist, und das wollen wir kurz festhalten, dieses jüngere Publikum nicht gleichzusetzen mit Kindern und der Jugend. Es handelt sich bei den Jüngeren um die berühmte Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, also lediglich um die, die nicht das ältere Publikum sind. Anders gesagt, die Hälfte derer, die unter 50 sind und am Samstagabend lineares Fernsehen einschaltete, sah zwar "Wetten, dass..?" – und das ist, in der Erfolgslogik der Fernsehsender, wirklich ein Haufen Holz. Aber es sagt wenig darüber, wie viele junge Leute "Wetten, dass..?" für eine unterhaltsame, sehenswerte oder gar relevante Show halten.
Ich halte deshalb den eben zitierten Satz – die Kinder "ahnen nicht, was sie verpassen", wenn sie nicht "Wetten, dass..?" sehen – für eine zentrale Aussage der umfassenden Sendungsvor-, -während- und -nachberichterstattung des Wochenendes. Sie können nicht viel ahnen von dem Stellenwert, den "Wetten, dass..?" in der deutschen Fernseh- und Unterhaltungsgeschichte einnimmt. Das, würde ich sagen, verändert für sie so gut wie alles an der Rezeption der Show.
Stellen Sie sich vor, Sie wären sieben, zehn oder dreizehn Jahre alt. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten nichts von angeleckten Buntstiften, nichts von Thomas Gottschalks Klamotten, nichts von Pavarotti auf der Flucht, nichts von Baggerwetten, aufgepusteten Wärmflaschen und nichts davon, dass Michael Jackson zu Besuch war, bevor er mit allen anderen zum Flieger musste. Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht einmal einschätzen, wer Thomas Gottschalk ist. Und stellen Sie sich vor, Sie würden nun in ein Ihnen unbekanntes Format hineinzappen, das hinterher so zusammengefasst werden kann, wie Peer Schader es in seiner DWDL-Kolumne tut:
"Auf einem viel zu großen Sofa saß ein Haufen älterer Leute und erzählte abwechselnd sich und den jüngeren von früher, vorher wurden der Oberbürgermeister von Nürnberg und der Programmdirektor von Mainz begrüßt, am Ende gab es Blumensträuße für die Damen und zwischendurch fing ein Bagger Frisbees mit der Schaufel".
Würden Sie diese Show dann wirklich sehen wollen? Oder würden Sie sich vielleicht doch lieber mit Lagerfeuerereignissen wie "Greg’s Tagebuch" oder Minecraft beschäftigen? Ich halte das für eine rhetorische Frage. Die heutigen Kinder und Teenager sind raus aus dem, was wir einmal Familienfernsehunterhaltung nannten, und ich schätze, sie sind auf Dauer raus.
"Die TV-Sender", schreibt Peer Schader in seiner Kolumne, in der es um die anstehenden Comebackversuche mehrerer alter Showformate wie "TV total" oder "Geh aufs Ganze!" geht, "wehren sich gegen Netflix, Disney+ & Co. mit dem, was sie am besten können: dem wohligen Gefühl der Vertrautheit, ihrem Publikum einen unbeschwerten Abend zu bereiten." Aber das dürfte nur für die funktionieren, denen die alten Shows auch vertraut sind.
Bedeutung aus dem Archiv
"Wetten, dass..?" – und das konnte man am Wochenende in so gut wie jedem darüber erschienenen Text nachprüfen – ist eine Fernsehshow, die ihre Bedeutung aus dem Archiv bezieht. Allerorten wurde Vergangenheit aufgerufen: in Thomas Gottschalks eigenem Essay, vorab im Spiegel erschienen, in dem er dem Fernsehen der Gegenwart einen Leichtigkeitsverlust bescheinigt. (Wobei er Leichtigkeit mit Wurschtigkeit gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen zu verwechseln scheint.) Ebenso in der Vorabberichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die "Wetten, dass..?" am Samstag das Seite-1-Foto und einen wohlwollenden Kommentar widmete. In der Vorberichterstattung der taz, für die Nora Belghaus davon erzählt, wie sie als Zweijährige einmal Gottschalk vorgestellt worden sei. Oder in der Vorabberichterstattung des Tagesspiegels, in der das veranstaltende ZDF kritisiert wird, es sei "nostalgiebesoffen".
Und auch in der Nachberichterstattung vom Sonntag gab es viele prominente Verweise auf die Sendungs- und ihre Rezeptionsgeschichte. Judith Liere betont in ihrer Zeit-Online-Rezension, recherchiert vor Ort im Saal, die Schwierigkeit, einen Text über "Wetten, dass..?" zu schreiben, "ohne dass die Wörter Lagerfeuer, Kindheitserinnerung, Badewanne darin vorkommen"; und damit waren sie dann auch schon vorgekommen. Oder Holger Gertz: Er beginnt seinen Nachbericht in der Süddeutschen Zeitung mit der Erzählung, wie er kürzlich den Teilzeitbauern Achim Jehle aus Sulmingen, Landkreis Biberach, besucht habe, um mit ihm über "Wetten, dass..?" zu reden. Jehle sei einmal Wettkönig gewesen, "nachdem es ihm gelungen war, verschiedene Kühe am Kaugeräusch zu erkennen. Die Kühe zermalmten Äpfel, und Jehle legte mit verbundenen Augen sein Ohr ganz dicht an ihre Mäuler und löste: Das ist Ida. Das ist Luise."
Der Ort, an dem "Wetten, dass..?" daher zu Hause ist, ist nicht Nürnberg oder Böblingen und auch nicht das miteinander geteilte Wohnzimmer, sondern das Gedächtnis.
Sie ahnen, dass sie nichts verpassen
Es gibt einen so reichen Schatz an Anekdoten, Erinnerungen und Zitaten, dass die Frage, wie die Sendung vom Samstag war, dahinter verblasst.
"Wetten, dass..?" wurde von Kritikern immer schon gemocht und gering geschätzt, genervt abgetan und gefeiert. Und so fanden auch diesmal die einen die Ausgabe gelungen; Philipp Krohn etwa bei faz.net, der, anders als ich, nach einem Familienfernsehabend mit seinen Kindern glaubt, es gebe nun eine "neue Generation 'Wetten, dass..?'-Fans". Andere fragen sich, was das alles sollte, etwa die Frankfurter Rundschau online, die "Sexismus und Fremdscham" in die Überschrift nimmt, oder die Berliner Zeitung, auf deren Seiten Harry Nutt befindet: "Die große Gottschalk-Sause war in ihrer selbstgefälligen Trutschigkeit einmal innovativ, jedenfalls nah dran. (…) Jetzt aber frage ich mich, was diese Form der televisuellen Regression mir sagen will."
Die Frage, die sich stellt, nun, da das ZDF angesichts der guten Samstagsquoten über weitere Ausgaben von "Wetten, dass..?" nachdenkt, ist vielmehr: wie viel Zukunft eine Unterhaltungsshow haben kann, die ohne ihr eigenes Gestern nicht recht auskommen kann. Und deren gesellschaftliche Bedeutung man deshalb kaum jemandem vermitteln kann, der nicht schon längst Vorstellungen davon in seine Hirnrinde gefräst hat.
"Alles war wie immer", schreibt Peer Schader bei DWDL über die Sendung vom Samstag, "und gleichzeitig so wahnsinnig langsam, dass man schon nach einer Dreiviertelstunde, als gerade ein süßer Hund enthusiastisch Verpackungsmaterialien in die richtigen Mülltonnen trennte, eine sehr konkrete Ahnung davon bekam, warum diese Art der TV-Unterhaltung irgendwann ausgestorben ist."
Es stimmt sicher, dass die Kinder nicht ahnen, was sie verpassen. Aber vielleicht ahnen sie auch, dass es so viel gar nicht ist.
Altpapierkorb (Hessischer Rundfunk, Markus Lanz, Corona-Berichterstattung, China-Berichterstattung)
+++ Michael Hanfeld begleitet in der FAZ weiterhin die Wahl der Intendantin oder des Intendanten des Hessischen Rundfunks, die, nach dem Gleichstand von neulich (Altpapier), am 3. Dezember ansteht. In der Samstagsausgabe berichtete er, dass Stephanie Weber und Florian Hager wieder anzutreten gedächten. Und protokollierte die Antwort auf eine (leicht suggestive) Frage: "Gefragt, ob das Patt zwischen den bisherigen Kandidaten nicht eine tiefe Spaltung des Rundfunkrats bezeuge, sagte (Rolf) Müller" (der Vorsitzende des Rundfunkrats und der Findungskommission), "dies sehe er nicht: 'Es haben sich in einem mehrstufigen Auswahlprozess zwei hervorragende Kandidaten etabliert, die ihrem Profil nach für unterschiedliche Themen und Schwerpunktsetzungen stehen. Hier fällt es naturgemäß nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen.'"
+++ "Journalist des Jahres" ist Markus Lanz, zumindest für GQ.
+++ Über eine Studie zur Corona-Berichterstattung schreibt Christian Meier in der Welt.
+++ Und die China-Berichterstattung ausgewählter deutscher Medien während der Pandemie hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung untersuchen lassen: "Es erfolgt quasi eine systematische «Messung» Chinas mit deutschen, europäischen, westlichen Werten, und damit wird der Gegensatz von 'wir' und 'China' als 'das Andere' betont, wobei vielfach 'das Andere' als nicht gleichrangig dargestellt wird."
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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