Teasergrafik Altpapier vom 1. November 2021: Porträt Autor Klaus Raab
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Das Altpapier am 1. November 2021 Wie entsteht mediale Relevanz?

01. November 2021, 10:39 Uhr

Die Diskussion um Joshua Kimmichs Impfstatus zeigt: Emotionale Anschlussfähigkeit sticht Expertise. Das gesellschaftliche Gespräch ist abhängig von Faktoren, die auch für Journalisten bisweilen unbefriedigend sind. Und: Der Philosoph Jürgen Habermas hat seinen Blick auf Massenmedien verändert. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die Kimmich-Debatte: Was gilt medial als relevant? (I)

Die meisten Menschen, die journalistische Medien nutzen, dürften es mitbekommen haben, und das allein kann einen stutzig werden lassen: Der Fußballspieler Joshua Kimmich hat sich, wie er sagte, bislang nicht gegen Covid impfen lassen. Er hat damit, was er vermutlich nicht beabsichtigt hat, eine öffentliche Debatte angestoßen, die selbst auf dem Aufmacherplatz eines öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmagazins vergangene Woche geführt wurde, in mehreren ZDF-Talkshows sowieso, im "Tagesthemen"-Kommentar, auf Titelseiten und am gestrigen Sonntag in der ARD-Talkshow auch nochmal.

Nun ist die Impfstatistik zwar gesellschaftlich von enormer Bedeutung – aber die Impfentscheidung eines einzelnen Fußballers? Warum sollte die relevant sein?

Darüber haben am Wochenende Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung (Leitartikel vom Samstag, Abo-Text) und Johannes Schneider bei Zeit Online geschrieben, teilweise dabei ganz ähnliche Überlegungen angestellt – und damit eine für eine Mediengesellschaft nicht irrelevante Frage aufgeworfen: Wie entsteht in der Gegenwart mediale Relevanz?

"Wenn zu Themen, die Expertise verlangen, ohne Expertise dahergeredet wird, bringt das einen – großes Wort – Diskurs nur bedingt weiter. … Wo etwa in der Pandemie eine Aushandlung zwischen verschiedenen Disziplinen stattfinden müsste, zwischen Virologie und Sozialwissenschaft, zwischen Psychologie und Didaktik, zwischen Staatstheorie und Philosophie, und zwar nicht nur in Fachzirkeln, verschwenden doch recht viele Leute recht viel Lebenszeit darauf, die halb garen Gedanken eines Unterhaltungsprofis wahlweise zu verteidigen ('Er ist jetzt kein Epidemiologe, aber er hat einen Punkt …') oder in #allesdichtmachen-Faktenchecks zu 'debunken'."

Schreibt Schneider. Und Schloemann findet die "nationale Weiterbildungsaktion" nicht nur unangenehm im Nachgeschmack, sondern meint auch, dass sie kontraproduktiv sei:

"Zweierlei erzeugt Unbehagen an dieser erzieherischen Phalanx. Das eine ist: Sie dürfte das Gegenteil von dem erreichen, was sie bezweckt. Der Fall hat bereits eine Solidaritätswelle unter den Skeptikern anschwellen lassen (…)."

Schloemann verweist also darauf, dass wiederholte Massenkommunikation auch als penetrant gelesen werden kann.

"Zum anderen ist die Leitfunktion, die man dem Sportler zuschreibt, höchst zweifelhaft. Worin sollte denn der Vorbildcharakter eines sehr guten Fußballspielers bestehen? Doch wohl darin, dass er sehr gut Fußball spielt. (…)"

Die Frage ist, warum jemandem wie Joshua Kimmich trotzdem eine Vorbildrolle in seinem Impfverhalten zugeschrieben wird. Dabei kann man, wie Schneider, bei der Popkultur mit dem Star als "Orientierungspunkt" landen, als Thema und Themensetzer, als "Impulsgeber und Reibungsfläche". So ließe sich das Publikumsinteresse begründen.

Aber warum dieses unterstellte oder tatsächlich vorhandene Publikumsinteresse medial auch derart breit bedient wird, lässt sich besser mit medialen Logiken erklären: Es geht nicht um Kimmich, er ist nur das Vehikel. Er ist nicht mehr als ein medialer Anknüpfungspunkt. Die unbeholfen aus ihm herauspurzelnde Antwort, die er bei Sky auf die Frage nach seinem Impfstatus gegeben hat, bietet Redaktionen die Möglichkeit, ein Thema aufzunehmen, das gesellschaftlich relevant ist und schon seit Längerem irgendwie da ist: solidarischer Impfschutz. Aber erst eine prominente Figur wie ein Fußballnationalspieler eröffnet auch einen großen Resonanzraum.

Was heißt das? Zum einen, dass Kimmich in eine Manege gezogen wird, in die er sich womöglich nie begeben wollte und in der er auch nicht gut aussieht – was nicht nur für ihn blöd ist, sondern auch für das Publikum, das hinterher vielleicht aufgewühlter ist, aber nicht unbedingt schlauer als vorher.

Zum anderen, dass das gesellschaftliche Gespräch abhängig ist von Faktoren, die auch für (viele) Journalistinnen und Journalisten unbefriedigend sind. Assoziation sticht Analyse. Emotionale Anschlussfähigkeit sticht rationalere Zugänge. Prominenz kann Expertise stechen.

Der Hauptstadtjournalismus: Was gilt medial als relevant? (II)

Bleiben wir beim Thema Relevanz, aber jetzt ohne Kimmich. Im "Medienquartett" des Deutschlandsfunks diskutierten vier medial bewanderte Menschen (Georg Diez, Lutz Hachmeister, Tilo Jung und Marlis Prinzing) über die Frage, ob sich politischer Journalismus verändern muss. Tilo Jung sagt an einer Stelle (Minute 14:30), "der Journalist soll sagen und berichten, was wichtig ist" und sein sollte, und nicht, was Leute vielleicht für interessant halten. Was "für die Politik aktuell kein Thema" sei, sei "auch für den Hauptstadtjournalismus kein Thema, und das ist ein Problem". Es würden "zu wenig eigene Themen gesetzt".

Jung dekliniert das an einem Beispiel durch: der Thematisierung der Entwicklungen in Afghanistan. Die seien durchaus absehbar gewesen, so habe es etwa in der ARD Filme und Beiträge dazu gegeben, lange bevor die Taliban wieder an die Macht gekommen seien. In der aktuellen Berichterstattung sei dann aber auf die Expertise in den eigenen Sendern nicht zurückgegriffen worden. Und das Thema sei wieder aus der medialen Betrachtung verschwunden, als es aus der öffentlichen politischen Debatte verschwand.

Das Gespräch ist im Ganzen hörenswert.

Eine "Akzentverschiebung" in Habermas' Werk

Die Medien bewegen sich also in einem sozialen Feld. Ihre Themensetzung ist abhängig von anderen, die ebenfalls in der Öffentlichkeit agieren. So gesehen sind auch Massenmedien soziale Medien.

Das ist eine Binse, aber immerhin eine, die zu unserem nächsten Thema führt: Der Philosoph Jürgen Habermas hat "seine Studie 'Strukturwandel der Öffentlichkeit' vor dem Hintergrund einer mediatisierten, digitalisierten Öffentlichkeit angepasst", wie Samira El-Ouassil in ihrer Spiegel-Kolumne bemerkt. Sie verweist darin auch auf Oliver Webers Artikel "Die wüsten Geräusche", erschienen in der gedruckten FAZ vom vergangenen Mittwoch.

"Habermas setzt sich also im hohen Alter explizit mit Facebook, Twitter & Co. auseinander und kommt zu einem eher ernüchternden Fazit. Er stellt fest, dass die neuen digitalen Werkzeuge, die doch eigentlich durch mehr Kommunikation, mehr Austausch und mehr Autorschaft einzelner Individuen zu mehr Demokratie führen müssten, vielmehr eine anarchische und tribalistische Halböffentlichkeit schufen, bei der es weniger um rationalen demokratischen Fortschritt geht",

schreibt El-Ouassil; und ich kann es nicht besser zusammenfassen, weil ich Habermas Primärtext bislang nicht gelesen habe. Bemerkenswert an Habermas' Text "Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit" ist wohl, wie Oliver Weber schreibt, "eine Akzentverschiebung, die auch als Revision gedeutet werden könnte": Die Massenmedien, die 1962 bei Habermas "nur als Türöffner der anarchischen zivilgesellschaftlichen Kommunikation taugten, erscheinen jetzt als eine der letzten Bastionen demokratischer Öffentlichkeit – gerade weil sie filtern, was unvermittelt den Köpfen der Bürger entspringt".

Beschrieb Habermas die Massenmedien seinerzeit als "'vermachtet' in dem Sinne, dass ökonomische Interessengruppen dessen Informationsmonopol ausnutzen können, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu lenken" (Weber), so befindet er nun, dass "eine Antwort auf die demokratiegefährdende, anarchische, irrationale Unübersichtlichkeit der Halböffentlichkeit sozialer Netzwerke in einer qualitativen Aufmerksamkeitslenkung der (alten) professionellen Massenmedien liegen könnte; in der filternden Kraft des Qualitätsjournalismus, der sich verantwortungsvoll gegen Fake News einsetzt" (El-Ouassil).

Und das ist, um's flapsig zu sagen, schon ein Ding: Habermas, der die Massenmedien als hoffentlich schnell vorübergehende Phase verstanden hat, versteht sie nun als Korrektiv. Allerdings, so die Spiegel-Kolumnistin:

"Eine Trennung in E- und U-Kultur, in anarchische, unkontrollierte soziale Medien und klassische, professionelle Massenmedien und eine mit dieser verbundenen Hoffnung erscheint mir (…) weniger hilfreich."

Und das ist ein Satz, den jede professionelle journalistische Redaktion mindestens einmal über alle ihre 17 Social-Media-Accounts gejagt haben sollte. Zwinkersmiley.


Weitere Themen in Kürze (HR-Intendanz, Nemi El-Hassan, "Wetten, dass..?", FAZ-Wald)

+++ Die Intendantinnen- und -dantenwahl beim Hessischen Rundfunk , die am Freitag anstand (Altpapier vom Freitag) endete mit einem "Patt" (Rundfunkrat Rolf Müller). Gemeint ist wohl ein Unentschieden. epd berichtet (taz, Tagesspiegel). In der FAZ findet Michael Hanfeld, der sich schon vorab (Altpapier) mit der Kandidatenwahl kritisch befasst hatte: "Dass sich im Rundfunkrat keine Mehrheit für einen der beiden Kandidaten fand, ist sehr erstaunlich." Offene Frage nun: Kann bis zum nächsten Wahltermin doch noch jemand von außen Boden gutmachen?

+++ Eine "kontroverse Debatte" habe es im WDR-Rundfunkrat über die Personalie Nemi El-Hassan (Altpapier) gegeben, schreiben, via dpa, welt.de, faz.net und andere, und Joachim Huber kommentiert im Tagesspiegel: "Eine 'schwierige, schwierige Abwägung', da hat Tom Buhrow Recht, doch auf das augenscheinliche Verhalten zu vertrauen, nämlich die Entscheidung auf die lange Bank zu schieben, wird nicht verfangen. Der nächste Fall Nemi El-Hassan kommt bestimmt."

+++ "Influencer müssen draußen bleiben. Ich bin der geblieben, den man 'von früher kennt', und nur den kann ich dem Publikum präsentieren. Und nicht eine Neuversion, die einen auf cool macht. Das wäre mega cringe!" Das Zitat ist leider nicht von Jürgen Habermas, sondern nur von Thomas Gottschalk, der am Wochenende mit "Wetten, dass..?" endlich mal wieder ein "Milliardenpublikum" im ZDF beglücken wird. Ich bin guter Dinge, kommende Woche nach vielen Jahren mal wieder 27 "Wetten, dass..?"-Kritiken in einem Altpapier zusammenfassen zu dürfen.

+++ Die "netzpolitische Bilanz" der Ära Merkel – nun, netzpolitik.org wird sich nicht vorwerfen lassen müssen, zu freundlich gewesen zu sein. "Analyse eines Scheiterns" steht in der Unterzeile.

+++ Im Spiegel (Abo, €) kritisiert Oberstaatsanwalt Dominik Mies die Medienberichterstattung (oder besser: die einiger konkreter Medien, darunter Der Spiegel und auch der MDR) nach dem Anschlag in Hanau: "Es wurde oft nicht beachtet, dass ein staatsanwaltlicher Pressesprecher nicht so offen agieren kann wie ein Zeuge oder ein Rechtsanwalt. Wir haben Ermittlungen zu führen und dürfen die nicht gefährden. Ich kann keine Details nennen – auch wenn ich sie kenne. Da entsteht ein Ungleichgewicht: Es kommen Behauptungen, von denen ich weiß, sie stimmen nicht, aber ich kann sie in diesem Moment des Verfahrens öffentlich nicht entkräften, weil ich sonst Persönlichkeitsrechte verletzen oder das Verfahren gefährden würde. Das Resultat: Es wird zum Teil nicht sauber berichtet, tendenziös, teilweise sogar falsch."

+++ "Hier entsteht der erste F.A.Z.-Wald", stand am Samstag unter dem Seite-1-Foto der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 16.000 Bäume wolle man bis 2023 pflanzen. "Das Papier dieser Zeitung besteht zwar fast vollständig aus Recyclingfasern und Überresten der Holzverarbeitung. Die F.A.Z. verfolgt dennoch das Ziel, die Nachhaltigkeit der Zeitungsproduktion zu steigern." Nicht schlecht!

(Für die Transparenz: Ich war bis Juli Redakteur von Zeit Online.)

Neues Altpapier erscheint am Dienstag.

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