Das Altpapier am 28. Oktober 2021 Story first, Wahrheit second?
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28. Oktober 2021, 14:25 Uhr
Der neue "Bild"-Chef gibt der Süddeutschen ein Interview. Das erinnert ein bisschen an den Antritt seines Vorgängers. Und Springer-Chef Döpfner beteuert, er habe seine ganz anders gemeint. Aber wie denn? Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Boie will alles ganz anders machen
Im Februar 2017 sagte der damals neue "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt in einem Interview mit dem Tagesspiegel, es habe sich bei der "Bild" schon vieles geändert, und das werde auch weiterhin passieren. "Ehrlichstes Medium: Das ist kein Versprechen, das ist der Anspruch an mich", sagte er. Auch mit Fehlern werde man anders umgehen. "Wenn wir sie selber erkennen, dann werden wir selber aktiv." Das klang alles sehr hoffnungsvoll, doch was dann folgte, ist bekannt.
In dieser Woche hat Johannes Boie, der neue Chefredakteur der "Bild", der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben, das ebenfalls nach Aufbruch klingt. Als Caspar Busse und Claudia Tieschky Boie zum Beispiel auf das unverpixelte Bild eines ermordeten Neunjährigen ansprechen, das in dieser Woche bei "Bild" zu sehen war, und als sie fragen, ob so etwas in Zukunft so bleiben werde, sagt Boie:
"Nein, das war ein schlimmer Fehler. Ich habe am selben Tag intern neue Regeln eingeführt, die die Berichterstattung bei schweren Kriminalfällen und Minderjährigen betrifft, unter anderem ein Sechs-Augen-Prinzip und eine technische Änderung in der Fotodatenbank."
Auf die ebenfalls enthaltene Frage, ob es dabei bleiben werde, dass "Bild" Rügen des Presserats nicht abdrucke, geht Boie nicht ein – und dann schwenkt er auch gleich wieder in die Offensive, indem er die Kritik kritisiert. Die Kritiker hätten den Eindruck erweckt, "Bild" habe das Foto "groß und deutlich erkennbar" gezeigt. Tatsächlich sei es um eine "winzige schemenhafte Fläche im Hintergrund" gegangen, "die mit bloßem Auge kaum zu erkennen war". Das hier ist der Bildblog-Beitrag, auf den Boie sich bezieht. Dass die "Bild" wieder einmal PR für Verbrecher machte, indem sie den "Mörder in der von ihm gewählten triumphierenden Pose" zeigte, wie Moritz Tschermak schreibt, hätte man hier auch noch erwähnen können. Das war ebenfalls ein Kritikpunkt. Aber das Interview gibt keinen Hinweis darauf, dass die "Bild"-Medien sich mit dieser gängigen Praxis selbstkritisch beschäftigen wollten.
Boie betont die Absicht, die im Haus herrschende Kultur zu ändern. Er sagt:
"Wir werden keinen Millimeter Machtmissbrauch und Drangsalierung, Einschüchterung oder Schlimmeres dulden. Ich möchte den Ton für ein Miteinander prägen, wie ich es hoffentlich auch bei der WamS gemacht habe."
Der Wandel soll intern auch sichtbar werden, man wolle den 16. Stock umbauen, dort befindet sich die Redaktion ("Kulturwandel muss sich auch in der Architektur niederschlagen"). Aber den gesamten Text durchzieht auch immer wieder der Versuch, das alles kleinzureden, was in den vergangenen Monaten passiert ist und nun im Raum steht, oder es auf die zu schieben, die kritisieren. An einer Stelle sagt Boie:
"Ich denke, dass der Schaden nach außen vorhanden ist, aber an manchen Stellen auch gezielt größer gemacht wird, als er tatsächlich ist. Die Angriffe werden extrem hart und zum Teil auch inakkurat geführt."
An einer anderen:
"Unsere Kritiker haben ein Interesse daran, eine Grenze zu ziehen, die es überhaupt nicht gibt."
Angesprochen auf Reichelts Kampagnen sagt Boie:
"Dass man an einer Geschichte dranbleibt und weitermacht, wenn es angemessen ist, das gibt es überall."
Boie ist gut vorbereitet. Auf Busses und Tieschkys Fragen zur Berichterstattung über Armin Laschet und Sebastian Kurz antwortet er mit den jeweiligen Schlagzeilen, die zum Thema erschienen sind – und er kann auch das Datum zuordnen. Kurz habe die "Bild" noch kurz vor dem Rücktritt zur Lichtgestalt erklärt, sagen Busse und Tieschky.
Boie sagt:
"Sebastian Kurz (…) haben viele Medien positiv gesehen – was Bild nicht davon abhielt, neben Lob auch den 'Ösi-Filz' am 10. Oktober, die 'Schweren Vorwürfe' am 6. Oktober und das 'Kurz-Beben' zu beschreiben. Bild bleibt so kritisch und hart wie bislang auch."
Tatsächlich war es dann doch etwas anders. Auf der "Bild"-Startseite suchte man auch noch dann vergeblich nach einer Meldung über Kurz, als es bei anderen großen Medien schon die Top-Meldung war. Die Meldung "Kurz-Beben" stand auf der zweiten Seite ganz unten, viel besser hätte sie sich in der Zeitung kaum verstecken lassen.
In einem anderen Punkt hat Boie recht. Dass die Zeitung "nibelungisch" zu Armin Laschet gehalten habe, wie Busse und Tieschky behaupten, stimmt so nicht. Die "Bild" hat wenig zurückhaltend über den Lacher bei der Trauerfeier für die Flutopfer berichtet, der die Talfahrt beschleunigte. Und als absehbar war, dass das mit der Kanzlerschaft wohl nichts mehr wird, sprang gleich wieder Friedrich Merz aus der "Bild"-Kiste. Bei ihm würde die Zuschreibung nibelungetreu besser passen.
Noch einmal zurück zum neuen Selbstverständnis. Boie sagt:
"Erstens: Wir wollen eine Kultur des Respekts stärken. Zweitens: Wir wollen unsere journalistische Exzellenz behaupten. Drittens: Wir werden immer von der Geschichte kommen, Story first. Viertens: Der Boulevard bleibt unser Geschäft."
Punkt drei ist einerseits eine Stärke der "Bild", gleichzeitig aber auch journalistisch die größte Schwäche. Boie meint hier, so verstehe ich es, dass im Arbeitsprozess nicht die Frage im Weg stehen soll, was wird für welchen Zweig produziert, also Online oder Print. Das Denken soll von der Geschichte ausgehen. "Story first" bedeutet bei "Bild" leider traditionell auch: Dass es gut klingt ist wichtiger, als dass alles hundertprozentig stimmt.
Die Frage, ob es unter der neuen Führung gelingt, was der ehemalige "Bild"-Politikchef Georg Streiter vor einer Woche in einem Beitrag für die Süddeutsche formuliert hat:
"Streng betrachtet wird eine Boulevardzeitung nie 'seriös' sein können. Sie kann sich bemühen, anständig zu bleiben."
Und ein Zitat aus dem SZ-Interview ist dann auch noch ganz schön. Johannes Boie sagt, "(…) ich wünsche mir, dass die Leser öfter lachen, wenn sie Bild lesen." Bei den Münchener Medientagen hat das in dieser Woche schon funktioniert, wenn auch etwas anders, als Boie das hier meint. Die Menschen lasen in diesem Fall nicht "Bild", sie hörten Claus Strunz zu, einem der drei Chefredakteure, wie Sissy Pitzer am Dienstag Gespräch mit Michael Borgers für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres berichtete. Strunz erzählte in München, von den übrigen Anbietern, auch den großen wie ARD und ZDF, unterscheide "Bild" TV sich dadurch, dass man ein ausschließlich journalistisches Angebot habe. Da habe es einige Lacher gegeben, sagte Pitzer. Als größten Scoop habe Strunz die Exklusivmeldung zur Schwangerschaft von Helene Fischer genannt.
Döpfner versucht, sich zu retten
Wir bleiben bei Springer, beziehungsweise beim Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, der beim Zeitungsverlegerverband BDZV, wenn er nicht aufpasst, langsam aus dem Sattel rutschen könnte, nachdem er einen Vergleich zwischen Deutschland und dem "DDR-Obrigkeitsstaat" gezogen und die Journalistinnen und Journalisten in Deutschland "Propaganda-Assistenten" genannt hat. Döpfner versucht nun, seine Haut zu retten. Der Verband hat gestern eine Pressemitteilung veröffentlicht. Titel: "BDZV-Präsident Döpfner sucht Dialog mit Mitgliedsverlagen".
Die Mitteilung endet mit dem Satz:
"So wie meine Äußerungen in der SMS jetzt interpretiert werden, waren sie nie gemeint."
Die entscheidende Frage dazu hat Stefan Niggemeier am Sonntag im Übermedien-Newsletter aufgeworfen. Er schrieb:
"Man kann natürlich fragen, was es bedeutet, wenn er sagt, es sei 'reine, schärfste Ironie' gewesen, dass er in einer privaten Nachricht Reichelt als letzten aufrechten Journalisten im Kampf gegen einen 'neuen DDR-Obrigkeitsstaat' bezeichnet hat."
Dass er das, was er Stuckrad-Barre schrieb, so nie gemeint habe, hat Döpfner nun schon einige Male beteuert. Er hat das Wort "Ironie" bemüht, eine beliebte Strategie, wenn die Äußerung selbst kaum andere Deutungen zulässt. Aber was würde das bedeuten? Meinte er das Gegenteil?
Es bestehen kaum Zweifel daran, dass Döpfner genau das meinte, was dort steht, denn die "Bild"-Berichterstattung passt exakt zu dem, was er schreibt. Eine Möglichkeit wäre, dass er hier mit scharfer Ironie Reichelt kritisiert. Aber ist das wahrscheinlich?
Vielleicht würde es helfen, wenn Döpfner einfach erklären würde, was genau er mit der Äußerung sagen wollte. Wenn das nicht möglich ist, kann der Verlegerverband natürlich an ihm festhalten. Aber er müsste damit leben, dass der Eindruck entsteht: Wir profitieren gern von Döpfners Einfluss. Und es ist uns egal, wenn er uns alle für Trottel hält.
Der ehemalige Verbands-Vize Richard Rebmann hat in dieser Woche auf Anfrage von Josef-Otto Freudenreich für die Wochenzeitung Kontext gesagt:
"Mit seinen Äußerungen hat Herr Döpfner leider radikalen, rechten Kräften Vorschub geleistet, die von einer gelenkten Presse ausgehen."
Das kommt noch hinzu. Ist so einer noch tragbar in diesem Amt? Elf Verleger, denen Freudenreich ebenfalls eine Anfrage geschickt hatte, antworteten nicht.
Der Zeitungsverlegerverband will sich nun mit dem Thema beschäftigen. Das schreibt er in seiner Pressemitteilung. Große Eile hat er aber offenbar nicht. Angesetzt ist die Sitzung am 24. November.
Altpapierkorb (Drachenlord, Facebook-Papers, PEN-Präsident, Intendantenwahl)
+++ In seiner neuen Spiegel-Kolumne beschäftigt sich Sascha Lobo mit einem Thema, über das er in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch "Realitätsschock" schon einmal ausführlich geschrieben hat. Es geht um Rainer Winkler, im Netz bekannt als der Drachenlord. Winkler ist in der vergangenen Woche zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, wegen Beleidigung, Verleumdung und Körperverletzung. Er hatte sich von Menschen provozieren lassen, die ihn zu Hause besuchten und bedrohten, es war ein "jahrelanges Martyrium", so steht es in der Überschrift von Lobos Text – ein Aspekt, der in der Berichterstattung so kaum vorkam, und aus dieser Perspektive dreht sich der gesamte Eindruck des Falls. "Ein empörendes Urteil, das von Unwissen, Unwillen und Unverständnis des Amtsgerichts und der Staatsanwältin zeugt", schreibt Lobo. Sehr lesenswert.
+++ Die Washington Post beschreibt, wie es Frances Haugen gelungen ist, all die Dokumente mitzunehmen, die sie später veröffentlicht hat. Spoiler: Die Dokumente aus dem internen Netzwerk mit dem Handy abfotografiert. Das Magazin Politico berichtet, die Facebook-Belegschaft habe sich schon Jahre über die politische Einflussnahme des Konzerns beschwert. Die Kritik: Facebook missachte immer wieder seine eigenen Regeln, um Prominente bei Laune zu halten.
+++ Jan Feddersen erklärt in einem Beitrag für die taz, warum er Deniz Yücel für die richtige Wahl als neuen PEN-Präsidenten hält (um die beiden ging es hier gestern schon in einem anderen Zusammenhang).
+++ In ihrer Kolumne für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres beschäftigt Marina Weisband sich mit dem Boykott einiger Autorinnen und Autoren der Frankfurter Buchmesse, die ja inzwischen schon vorbei ist. Es gehe nicht um eine physische Bedrohung, sagt sie. Das hätten viele Medien vom PR-Team der Messe so übernommen. Ein rechter Verlag "gefährdet meine Sicherheit auf ganz andere Weise und viel langfristiger", schreibt sie.
+++ Das Vorspiel zur Intendantenwahl beim Hessischen Rundfunk heute ist Thema auf der FAZ-Medienseite (€). Es werfe einige Fragen auf, schreibt Michael Hanfeld. Was er meint: Die Kandidatin Ina Knobloch, die sich laut Hanfeld zwei Mal beworben hatte, mit der man aber offenbar gar nicht gesprochen hatte, steht voraussichtlich nicht zur Wahl (könnte sich theoretisch noch kurz vor der Wahl ändern). Vieles fand hinter verschlossenen Türen statt. Hanfeld: "Von Transparenz und Öffentlichkeit, die für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wie schon der Name sagt, prägend sein sollten, zeugt das Vorgehen nicht. Es entspricht vielmehr einem Gebaren, wie wir es seit jeher kennen und zuletzt vor zwei Jahren bei der Intendantenwahl im Südwestrundfunk vorgeführt bekamen: Vor der Wahl wird eine Findungskommission eingesetzt, die das Kandidatenfeld auf diejenigen verengt, auf die sich bestimmte Lager und Strippenzieher schon verständigt haben."
Neues Altpapier gibt es am Freitag.
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