Das Altpapier am 27. Oktober 2021 Boys will be boys
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27. Oktober 2021, 13:09 Uhr
Treffen sich zwei Welt-Autoren in der taz-Kantine …. Nein, das ist nicht der Anfang eines Witzes! Zudem heute auf der Agenda: die notorische Unerwachsenheit der deutschen Feuilleton-Boys. Ein Altpapier von René Martens.
Grauburgunder
Die Frankfurter Buchmesse ist vorbei, aber die Berichterstattung wird wohl noch ein bisschen nachwirken - zumindest die über "die Debatte der Buchmesse" (ttt am vergangenen Sonntag). Denn: Diese Berichterstattung sagt grundsätzlich einiges aus über unschöne Zustände im heutigen Feuilleton.
Dort hatten sich in den vergangenen Tagen unzählige Stimmen zu Wort gemeldet, die die Schriftstellerin Jasmina Kuhnke dafür kritisierten, dass diese mit Blick auf die Stände rechtsextremer Verlage und die damit verbundene Bedrohung für ihre eigene Sicherheit ihre Teilnahme an der Messe abgesagt hatte. Mit dieser Kritik an Kuhnke befasst sich nun Margarete Stokowski in ihrer Spiegel-Kolumne, unter anderem mit Bezug auf Buchmessedirektor Boos, der gesagt hatte: "Wir müssen auch die Präsenz von Leuten aushalten, die ich nicht gerne hier habe." Stokowski schreibt:
"Klar kann man auch als bedrohte Autorin auf eine Buchmesse gehen. Man geht dann aber eben anders hin als Leute, die noch nie einen Konflikt mit Nazis hatten oder nie bedroht werden. Ich war auch schon auf Buchmessen, nachdem ich sehr konkrete Drohungen erhalten hatte oder auf Lesereise, nachdem man mir angekündigt hatte, mich bei meiner Ankunft in einer bestimmten Stadt am Bahnhof abzufangen und an der nächsten Laterne aufzuhängen. Ich wurde auch auf der Buchmesse schon blöd von einem bekannten Rechtsextremen angequatscht und von einem Handke-Anhänger angeschrien. Klar kann man das 'aushalten', aber muss man? Wie viel Risiko muss man eingehen, während andere einfach exakt überhaupt keins eingehen? Man bewegt sich dann jedenfalls anders durch die Welt als ein Literaturkritiker auf der Suche nach dem nächsten Grauburgunder."
Dieser En-Passant-Hinweis auf die Trinkfreudigkeit gehört zu meinen Lieblingsstellen in dem Text - auch wenn ich die Formulierung durch meine Hervorhebung ihrer Beiläufigkeit beraube. Stokowski schreibt weiter:
"Ich habe diese Sorte Kritiker*innen in der Vergangenheit oft 'Feuilletonboys' genannt, weil es meistens um Männer geht, denen etwas eigentümlich Unerwachsenes anhaftet, wenn sie Kunst hauptsächlich nach dem Kriterium bewerten, ob der Konsum sie erhebt, und die jede Form von literarischer oder politischer Debatte nur für eine Theateraufführung halten, in der es faktisch um nichts geht, außer um gute Performance, ganz sicher aber nicht um Leben und Tod. Solche Feuilletonboys können allerdings auch Frauen sein."
Friedemann Karig und Sabine Nuss haben sich in den vergangenen Tagen in Twitter-Threads mit anderen Aspekten der Kritik an Kuhnke befasst. Die Bilanz der Spiegel-Kolumnistin lautet:
"Die Debatte um den Buchmesseboykott wurde im Feuilleton hauptsächlich so geführt, dass das Feuilleton entlastet wird: dass man ruhig zur Messe fahren kann, dass Nazis zwar ein Problem sind, aber eins, das einem nicht den Spaß verderben sollte. Mitunter war man leicht genervt, dass es nun schon wieder um Nazis ging und nicht um 'Bücher'. Na klar. Hätten diese weißen Feuilletonist*innen mal die Bücher von Jasmina Kuhnke, Tupoka Ogette oder Alice Hasters gelesen, würden sie sich nicht so in ihrer mangelnden Empathie und falsch verstandenen Neutralität suhlen."
Mangelnde Empathie und falsch verstandene Neutralität - diese maßgebliche Schwächen findet man ja auch bei weißen Journalistinnen und Journalisten, die nicht fürs Feuilleton schreiben.
Die Idee zur Überschrift der heutigen Kolumne verdanke ich übrigens der Band The Undertones - eine Information, die auch darauf verweist, dass ich altersmäßig den Feuilleton- bzw. Grauburgunder-Boys nahestehe, von einer prinzipiellen Unwohlgesonnenheit gegenüber diesem Menschenschlag bei mir also nicht die Rede sein kann.
Kantinenfraß
Wer sich mit einem etwas vielschichtigeren Fall aus dem Fragengebiet befassen will, wem man eine Bühne geben sollte und wen man "aushalten" muss - der klicke doch mal rein bei taz.de:
"Wie sieht eine lebensnahe liberal-konservative Agenda für die Zeit nach der Merkel-Ära aus? Dieser Frage geht die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder im Gespräch mit dem Journalisten Deniz Yücel nach, mit dem sie ihr neues Buch 'FreiSinnig - Politische Notizen zur Lage der Zukunft' vorstellt."
So lautet dort eine Ankündigung einer Veranstaltung in der hauseigenen Kantine. Die Einstiegsfrage ist natürlich in mindestens zweierlei Hinsicht putzig. "Lebensnahe liberal-konservative Agenda" ist ja ein Widerspruch in sich, es sei denn, es ist eine unternehmerlebensnahe Agenda gemeint. Und will der Ankündigungstexter den Eindruck erwecken, Schröder wäre "liberal-konservativ"? Für jemanden, der bei der Schwurbler-Aktion "Alles auf den Tisch" mitgemischt hat ist das ein unangemessenes Kosewort.
Erwähnenswert ist das Event natürlich vor allem wegen der Location. Also: Dass zwei Autoren von Springers Welt sich zum Talken in der Kantine der taz treffen. Nun muss man differenzieren: Es gibt in der taz-Kantine Veranstaltungen der taz, man kann die Location aber auch buchen. Und das hat in diesem Fall der Claudius Verlag, in dem Schröders Buch erscheint, getan. Da die Veranstaltung mit Schröder und Yücel von Jan Feddersen moderiert wird, der dort sonst viele "taz Talks" moderiert (und diese auch "kuratiert"), ist eine Verwechslungsgefahr aber natürlich nicht völlig ausgeschlossen.
Wasser auf die Mühlen jener, die die taz kritisieren, weil da zum Beispiel auch Schwarzgrün-Geilfinder und Identitätspolitik-Dooffinder eine gar nicht mal so kleine Rolle spielen, ist diese Veranstaltung allemal.
Im Sinne Schröders noch geadelt wird das Event dadurch, dass ihr Sachbuchautorenkollege Yücel gerade zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes PEN gewählt wurde. Seine Zeitung schreibt darüber ausführlich:
"Für das deutsche PEN-Zentrum ist Yücel eine wegweisende Personalie, nicht nur weil er leidvoll erfahren musste, dass das freie Wort Haft und Folter nach sich ziehen kann. Sondern auch, weil man Deniz seit jeher dem Kosmos der politisch wachen Feuilletonistik und Essayistik zurechnen darf."
Verschwörungserzählungen
Um vom Veranstaltungsgeschäft noch zum Kerngeschäft der taz zu kommen. Matthias Meisner stellt dort heute die CeMAS-Studie "Die Bundestagswahl 2021. Welche Rolle Verschwörungsideologien in der Demokratie spielen" vor. In der spielt natürlich auch eine Rolle, welche Rolle Verschwörungsideologien in den Medien spielen, und zu diesem Aspekt schreibt Meisner:
"In der 'alternativen Öffentlichkeit' behaupten sich laut CeMAS-Studie nicht nur einschlägige Kanäle wie der Ableger des russischen Staatsmediums RT Deutsch, Epoch Times, Tichys Einblick und der Blog von Boris Reitschuster. Auch etablierte Medien würden in verschwörungsideologischen und rechtsextremen Kanälen gern verbreitet, allen voran – noch vor Reitschuster oder Epoch Times – bild.de, gefolgt von den Online-Portalen der Welt und des Focus."
Allzu überraschend sind diese Verbindungen, die sich bekanntlich auch in den privaten Textnachrichten riesengroßer deutscher Medienmanager ausmachen lassen, ja leider nicht.
Altpapierkorb (der fehlende Whistleblower-Schutz in Deutschland, der Ausreisewunsch eines afghanischen Fotojournalisten, Rassismus in den sozialen Medien, Gendern im Radio)
+++ Weil die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen (Altpapier, Altpapier) "in der kommenden Woche nach Berlin kommen" wird, befasst sich Georg Mascolo auf der SZ-Meinungsseite (Blendle-Link) mit der Frage, wie die hiesige Politik Whistleblower schützt. "In Deutschland kann (…) Haugen auf viel Zustimmung hoffen, in kaum einem Land erklang der Ruf nach Kontrolle und gesetzlicher Regulierung früher und lauter als hier." Jedoch: "Deutschland kennt bis heute keinen ausreichenden gesetzlichen Schutz für mutige Menschen wie sie. Man kann auch sagen: Was sie sich in den USA getraut hat, hätte sie hier besser nicht versuchen sollen." Mascolo setzt dann dazu an, eine "kurze Geschichte dieses politischen Versagens" zu erzählen - und erläutert schließlich noch, warum es in Sachen Whistleblower-Schutz "schnelle Entscheidungen" der Ampelkoalitionäre braucht.
+++ Wer hat noch die Lage von Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan im Blick? Natürlich Reporter ohne Grenzen - und heute die FAZ. Kim Maurus berichtet dort unter Berufung auf ROG, dass der 24-jährige Fotojournalist Morteza Samadi, "den die Taliban mehrere Wochen lang festgehalten haben, freigelassen worden ist". Samadi würde mit seiner Familie gern nach Deutschland ausreisen, es gebe aber keine entsprechende Zusage der Bundesregierung, heißt es in dem Artikel weiter.
+++ Welche Diskriminierungserfahrungen Menschen mit Migrationshintergrund in den soziale Medien machen - unter anderem darüber spricht Thembi Wolf, Co-Vorsitzende der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, mit Elsa Koester vom Freitag. Wolf sagt: "Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht erst seit den sozialen Medien Teil dieser Gesellschaft, wir haben seit 60 Jahren Arbeitsmigration und seit 40 Jahren Fluchtmigration in Deutschland. Rassismus war in all dieser Zeit öffentlich sichtbar, es wurde denen, die darüber sprachen, nur zu wenig zugehört – und geglaubt. In den sozialen Medien passiert etwas anderes Neues: Der Rassismus ist nachlesbar, lange zurückverfolgbar und justiziabel zu machen."
+++ Dass der Genderstern in schriftlicher Form, etwa in dieser Studie der Otto-Brenner-Stiftung, "beträchtlich stören" kann, es sich mit dem gesprochenen Stern bzw. "Glottisschlag" im Hörfunk aber etwas anders verhält - so argumentiert Altpapier-Autor Christian Bartels in seiner neuen Medienkorrespondenz-Kolumne. Denn: "Dass jede Verlautbarung eines Bundesministeriums x-mal durch Radionachrichten zirkuliert und damit erstens früh in der medialen Verwertungskette gesetztes politisches Framing à la 'Gute-Kita-Gesetz' affirmativ weitertransportiert und zweitens eine andere Nachricht verdrängt, für die im streng formatierten Rahmen kein Platz mehr ist, macht natürlich Politik. Genau da wirkt jeder Glottisschlag wie ein kleiner Widerhaken im jahre-, für älteres Publikum jahrzehntelang gewohnten Strom der Informationsflut. Da entzaubert das Format der öffentlich-rechtlichen Nachrichten sich so überzeugend selbst, wie noch so scharfe Kritik von außen es kaum leisten könnte. Das erhöht die Aufmerksamkeit dafür, dass keine sprachliche Äußerung neutral sein kann, jede erst einmal Skepsis verdient und medienkompetentes Publikum immer und überall mitbedenken muss, welche Interessen der jeweilige Überbringer (oder die Überbringerin!) gerade verfolgt. So gesehen besitzt Gegender in Radionachrichten hohen Eigenwert."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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