Teasergrafik Altpapier vom 7. Oktober 2021: Porträt Autor Klaus Raab
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Das Altpapier am 7. Oktober 2021 Warum Wasserstandsjournalismus?

07. Oktober 2021, 09:43 Uhr

Das Beste am Sondierungsjournalismus ist das Nachdenken über den Sondierungsjournalismus: So unnötig Meldungen über nichts Neues wirken mögen – in einer an Echtzeit gewöhnten Medienwelt wird er doch gebraucht. Ohne ihn wäre es verdächtig ruhig. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Das Nicht-Durchstechen als Vertrauensbeweis

Das Beste am Sondierungsjournalismus ist das Nachdenken über den Sondierungsjournalismus (Altpapier vom Montag, Dienstag und Mittwoch): Braucht man ihn? Wer braucht ihn? Hat er eine Funktion? Oder soll er sich einfach nur verkaufen? Machen Journalisten, die an durchgestochene Informationen aus nichtöffentlichen Gesprächen kommen und sie dann flott verbreiten, ihren Job eigentlich gut? Oder werden sie von Maulwürfen aus den C-Parteien benutzt? Und erinnert sich noch jemand an den Kraken Paul, der seinerzeit Fußballergebnisse vorhersagte und vielleicht auch einen guten Sondierungsjournalisten abgegeben hätte?

Man kann ja mal die Lage sondieren. Karin Prien, zum Beispiel, tut es in einem Gastbeitrag für das "Streit"-Ressort der Wochenzeitung Die Zeit (Abo):

"Politikjournalismus steht mitten im Sturm der klickgetriebenen, immer schneller rotierenden Medienwelt, in der jede noch so kleine Belanglosigkeit als 'Breaking News' und Pushmitteilung auf den Smartphone-Bildschirmen der Republik aufscheint."

So beginnt ihr Text. Prien, keine Medienjournalistin, sondern Vorstandsmitglied der CDU, muss natürlich selber wissen, ob sie Kritik an ihrem eigenen Laden wirklich mit Medienkritik einleiten will. Aber egal, bitte sehr. Auf die gesamte Textstrecke gesehen zielt sie vor allem auf ihre Genossinnen und Genossen, die sie auffordert, die Handys draußen zu lassen.

"Eine CDU-Präsidiumssitzung ohne Durchstechereien: inzwischen undenkbar. Aber ist das gut? Führt das zu mehr Qualität in der Politik? Meine Antwort lautet, natürlich: Nein."

Tja. Ich finde es aber vor allem interessant, darüber nachzudenken, ob das stimmt. Führen die "Durchstechereien" zu weniger "Qualität in der Politik", wie auch immer die definiert ist – oder führen sie in diesem Fall erst einmal nur zu weniger Regierungsbeteiligung der Union? Führen sie in erster Linie, generell, vielleicht am ehesten zu veränderten Diskussionsprozessen von eigener Qualität, die womöglich andere, aber nicht zwangsläufig schlechtere Ergebnisse hervorbringen?

Man könnte es auch so sehen, dass die Möglichkeit, aus einer internen Runde Informationen durchzustechen, auch zu besseren Gesprächen führen kann – nämlich dann, wenn sie niemand wahrnimmt: das Nicht-Durchstechen als Vertrauensbeweis.

Hat die Öffentlichkeit einen Anspruch auf Information über alles?

Was die Möglichkeit des strategischen Durchsickernlassens für die Politik bedeutet, darüber könnte man freilich lange reden. Und auch darüber, inwiefern sich Medien womöglich als Informationswäscher benutzen lassen, wenn sie Durchgestochenes live oder quasi live verbreiten, ohne dabei den Absender nennen zu können – der aber bisweilen die eigentliche Nachricht wäre.

Man könnte sich, zum Beispiel, auch an die Debatte über die Wikileaks-Veröffentlichungen 2010 erinnern. Bettina Gaus schrieb damals in der taz (und wenn es auch um einen ganz anderen Fall ging, so ließe sich doch die Argumentation übertragen):

"(D)as wird einen Schaden anrichten, der sich in seinem ganzen Umfang bisher noch gar nicht überblicken lässt: die weltweite Verbreitung von Dokumenten, auch von geheimen Dokumenten, die ausschließlich deshalb ins Netz gestellt werden, weil jemand Zugriff darauf hat. Nicht weil sie einen Skandal oder einen Rechtsbruch aufdeckten, nicht weil sie besonders brisant wären. Sondern einfach deshalb, weil es sie gibt. (…) Auch in einer demokratischen Gesellschaft hat die Öffentlichkeit keinen Anspruch darauf, jederzeit über alles informiert zu werden. Politische Akteure müssen sich (…) darauf verlassen können, dass Vertraulichkeit gewahrt bleibt."

Andererseits muss man trennen. Hier die Politik, die Vertrauensräume braucht. Dort die Medien, zu deren Aufgaben es gehört, wissen zu wollen, "was hinter verschlossenen Türen besprochen wird", wie Georg Restle twitterte – um mehr zu erfahren als das, was von Politikerinnen und Politikern an sprachgeregeltem Material angeboten wird.

Diese Unterscheidung trifft auch Samira El-Ouassil in ihrer Übermedien-Kolumne:

"Ohne den kommentierenden Blick einer Öffentlichkeit ist es für die politische Akteure einfacher, Zugeständnisse zu machen, ohne der Wankelmütigkeit bezichtigt oder eines performativen Widerspruchs überführt zu werden. Das widerspricht allerdings dem Anspruch des politischen Journalismus, dessen Aufgabe es natürlich ist, kontrollierend auf die demokratischen Prozesse zu blicken, um Missstände abzubilden und eben auf Widersprüche und Abweichungen hinzuweisen. Die Berichterstattung will Transparenz in diese Blackbox einer möglichen Regierung bringen."

Interessant wird es aber dann, wenn Journalistinnen und Journalisten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben von der Beobachterrolle, und sei es auch ungewollt, in die Beeinflusserrolle wechseln:

"Das führt zur kuriosen Situation, dass Reporter, deren Pflicht es ist, die Demokratie durch ihre Arbeit zu stärken, diese unwillentlich auch ein wenig sabotieren müssen. Solch eine Sabotage konnte man beispielsweise bei den Jamaika-Sondierungen 2017 beobachten, bei denen die Mischung aus permanenten Wasserstandsmeldungen, durchgesickerten Interna und Öffentlichkeitsreaktionen Einfluss hatte auf das letztendliche Scheitern der Gespräche."

Man kann die Frage stellen, ob das wirklich sein muss, dieses aufgeregte Herumgeblase von Nichtigkeiten. Was das eigentlich voranbringt. Und wo die Erkenntnis liegt. Qualität im Journalismus kann sich ja auch darin zeigen, dass nicht alles sofort veröffentlicht wird, was man zugespielt bekommt oder was irgendjemand vor Kameras sagt oder nicht sagt. Über das, "was selbst noch nicht weiß, was es wird", schreibt El-Ouassil: "Vielleicht sollte man es auch mal in Ruhe werden lassen können."

Man kann nicht nicht kommunizieren

Andererseits leben wir nicht nur in einer Parteiendemokratie, in der es viele auf die Beobachtung von Parteien spezialisierte Journalistinnen und Journalisten gibt, sondern vor allem auch in einer echtzeitfähigen Medienwelt. Wenn Karin Prien von der CDU in ihrem Zeit-Beitrag die Sondierungsgespräche und Koaltionsverhandlungen der nervösen Mediengegenwart mit früheren vergleicht, läuft das deshalb meines Erachtens ins Leere:

"Ein Szenario, in dem sich Politikerinnen und Politiker für zehn Tage an einem Ort treffen und danach einen fertigen Koalitionsvertrag präsentieren? Das wirkt wie ein Phänomen aus einer anderen Zeit",

schreibt sie. Es wirkt aber nicht nur wie ein Phänomen aus einer anderen Zeit. Es ist eines. Das Fehlen eigentlich nichtiger Wasserstandsmeldungen oder parteiinterner Kleinkrämereien könnte heute von einem an Wasserstandsmeldungsjournalismus gewöhnten Publikum ebenfalls als eine Art Nachricht aufgefasst werden: Es ist verdächtig ruhig. Irgendetwas stimmt da nicht.

Brauchen wir also den Sondierungsjournalismus, den wir haben? Wollen wir ihn? Samira El-Ouassil nimmt letztlich eine elegante Abfahrt:

"Wäre es also am besten, gar nicht erst zu versuchen, über das Sondieren zu berichten? Nein, es ist wie bei der Papstwahl: Wir werden vermutlich weiterhin über das Warten schreiben und die Abwesenheit einer Entscheidung als Meldung vertickern. Wir sollten nur ehrlicherweise bemerken, dass es unter den journalistischen Gattungen nicht gerade die Konzertkritik ist – sondern eher die sehr detaillierte und hingebungsvolle Beschreibung von Wartezimmermusik."


Altpapierkorb ("Inseratenkorruption" in Österreich?, "Kevin Kühnert und die SPD", Pop Rocky mit Postern ohne Heftlöcher, Produzentenallianz und Streamingdienste)

+++ Was ist in Österreich los? Bundeskanzler Sebastian Kurz "soll die öffentliche Meinung mit frisierten Studien manipuliert und wohlwollende Berichterstattung in Boulevardmedien gekauft haben – mit 1,2 Millionen Steuergeld", fasst der Falter zusammen. Viele andere Medien berichten natürlich auch. Im Standard gelernt: den Begriff "Inseratenkorruption".

+++ René Martens nannte am Montag an dieser Stelle den NDR-Sechsteiler "Kevin Kühnert und die SPD" ein "Fernsehereignis", und so wird es auch behandelt. Heute gibt es weitere Rezensionen, etwa in der gedruckten Zeit, und vor allem ein dwdl-Interview mit Kühnert, in dem er auch über vermeintliche oder tatsächliche mediale Zerrbilder spricht: "Ich stehe nun seit fast vier Jahren in der Öffentlichkeit, gehöre also zu denen in der Politik, die unter permanenter Beobachtung und Kommentierung arbeiten. Deshalb habe ich meine ganz eigenen Erfahrungen damit gemacht, welche Zerrbilder und Zuschreibungen es von Politik gibt. Das ist zum Teil grotesk. Wenn man es möchte, kann man den lieben langen Tag gegen Politik-Klischees anarbeiten. Anstelle das den ganzen Tag zu erzählen, fand ich jedoch den Gedanken spannend, die Menschen auf diese Weise an meinem Alltag teilhaben zu lassen."

+++ Gebiss rein, Grufties, hier kommt ein Knüller für euch: "Das Kult-Jugendmagazin der 80er- und 90er-Jahre" (Selbstdarstellung) feiert heute anlässlich eines Jubiläums sein "Comeback" – Pop Rocky. Und wer ist auf einem der beiden Titel? Dieter Hallervorden, der heute – außer im Ankündigungstext von Pop Rocky – nicht mehr Didi heißt. Die einzige Ausgabe soll es nicht bleiben, regelmäßig erscheinen soll die Zeitschrift aber auch nicht. Ein Verkaufsargument: Es liegen mehrere große Poster bei, und zwar "ohne Heftlöcher". Erhellend bei der Recherche war für mich der Text über Verleger Jürg Marquard bei boerse-online. "Jürg Marquard, 1945 als Sohn eines Zahnarzts in Zürich geboren, entdeckte bereits als Gymnasiast den Journalismus". Mehr etwa bei dwdl.de und meedia.de.

+++ "Wir wollen fairere Marktbedingungen im Verhältnis zu den, das kann man schon sagen, oligopolistisch erscheinenden Streamingplattformen", sagt im Interview mit der SZ Martin Moszkowicz von der Constantin und der Produzentenallianz.

+++ Der Tagesspiegel bespricht eine Arte-Dokumentation über "Die alte neue Rechte" und stellt Michel Abdollahis Podcast "heute wichtig" vor.

+++ Hendrik Wieduwilt gibt bei Übermedien eine kleine Einführung in die sehr deutsche Praxis der Interviewautorisierung.

+++ Leichte Redundanzen stellt ein Anhänger eines "Klima vor acht"-Formats bei "Börse vor acht" fest (Tweet).

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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