Teasergrafik Altpapier vom 29. September 2021: Porträt Autor Annika Schneider
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Das Altpapier am 29. September 2021 Selfie statt Fotojournalismus

29. September 2021, 11:11 Uhr

Das erste gute Bild zu den Koalitionsverhandlungen liefern die Parteien praktischerweise selbst. RT Deutsch muss den zweiten herben Schlag einstecken. Nemi El-Hassan darf nicht moderieren – und (mindestens) drei Fragen bleiben offen. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Ein Foto für alle

Fotojournalistisch betrachtet sind Koalitionsverhandlungen nicht gerade sexy. Grob zusammengefasst: Menschen unterhalten sich, und das meist hinter verschlossenen Türen. Eine zusätzliche Erschwernis sind aktuell die Masken, dank derer noch nicht einmal ein vielsagender Gesichtsausdruck als besonderes Motiv in Frage kommt. Hinzu kommt: Die beteiligten Politikerinnen und Politiker haben wir in den vergangenen Monaten schon in allen möglichen Perspektiven, Situationen und Beleuchtungen gesehen – sie sind so vertraut, dass sie vermutlich nicht einmal mehr in der Familienfotogalerie im Flur besonders auffallen würden. Auch das erschwert es, neue, überraschende Darstellungen zu finden.

Nach der Flut hübsch inszenierter Bilder im Wahlkampf – Politikerinnen und Politiker "unter Menschen" im ganzen Land, Debatten in bestens ausgeleuchteten Fernsehstudios – kommt jetzt also die karge Zeit, in der ein bildarmes Thema wochenlang die Aufmacher dominieren wird. Wer in der dpa-Fotosuche (dpa-Zugang vorausgesetzt) das Stichwort "Koalitionsverhandlungen" eingibt, sieht vor allem Menschen, die mit Aktentasche unter dem Arm in Gebäude hinein- und später wieder hinausgehen, meist mit grimmiger Entschlossenheit – das sind die Motive, die uns ab jetzt erwarten.

Ein Blick auf die heutigen Print-Titelseiten zeigt ein paar kreative Ideen, wie das zu lösen ist. Der Kölner Stadt-Anzeiger setzt auf eine klassische Text-Bild-Schere: Über der Überschrift "Laschet ringt um die Macht" prangt James-Bond-Darsteller Daniel Craig in einer entschlossenen Pose, die man sich auch bei dem CDU-Chef gut vorstellen könnte – eine Trennlinie zwischen Artikel und Bild hätte Wunder gewirkt. Einleuchtender ist die Bildsprache der SZ, die zu ihrem Aufmacherartikel "Söder rückt von Laschet ab" ein Foto von einem Laschet-Wahlplakat zeigt, das gerade abmontiert wird. Die FAZ setzt auf eines der lustigen Koalitionsfarbenspielfotos, die uns ja auch schon seit Wochen begleiten und nun vermutlich noch an Bedeutung gewinnen werden: Sie zeigt "Ein Freundschaftsband von Olaf" in den Ampelfarben Rot-Grün-Gelb. Die Krönung ist aber der Titel der taz – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Porträt von "Vizekönig Robert I.", dem Grünen-Chef Habeck.

Keine der Zeitungen druckt ein Foto, das den aktuellen Stand der Verhandlungen wohl am besten auf den Punkt bringt, aber für die heutigen Druckausgaben zu spät öffentlich wurde: Es zeigt Grüne und FDP traut vereint und maskenfrei lächelnd bei Gesprächen über eine künftige Zusammenarbeit. Das Motiv haben heute Nacht alle vier darauf Abgebildeten (Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing) parallel auf Instagram gepostet, versehen mit unterschiedlichen Filtern, aber einer identischen Bildunterschrift (alle Links bei turi2). Die Politikerinnen und Politiker wissen die Lücke in der Bildberichterstattung also für sich zu nutzen und platzieren ihre eigenen Fotobotschaften. Und zack: Schon hat es das Selfie heute Morgen prominent auf diverse Nachrichtenseiten geschafft, zum Beispiel als Aufmacher bei Tagesschau, Spiegel und SZ. Diese Medien haben den hingeworfenen PR-Krumen also dankbar verschlungen. Dass das auch mit etwas mehr Distanz geht, zeigt die Welt, die das Motiv zumindest auf der Startseite optisch als Screenshot von Instagram zeigte und somit schon als Eigendarstellung der Parteien brandmarkte, bevor man auch nur ein Wort der Bildunterschrift gelesen hatte. Bis zur Veröffentlichung dieses Altpapiers war diese Darstellung dann aber schon wieder verschwunden.

RT Deutsch ist weg vom (YouTube-)Fenster

Der russische Staatssender in Deutschland, RT Deutsch, der früher mal "Russia Today" hieß, hat einen Rückschlag hinnehmen müssen: YouTube hat seine Kanäle gesperrt. Damit verliert der Sender auf einen Schlag rund 600.000 Abonnentinnen und Abonnenten (laut Tagesschau-Schätzung) – und eine wichtige Plattform. Es ist schon der zweite herbe Schlag: Mit der Sendelizenz für das ab Dezember geplante lineare Programm hat es auch noch nicht geklappt. Der Sender mit Sitz in Berlin-Adlershof hatte den Antrag dafür angesichts der geringen Erfolgschancen bei einer deutschen Landesmedienanstalt extra in Luxemburg eingereicht, allerdings bislang vergeblich.

Die Absichten der Redaktion stellen Patrick Gensing und Silvia Stöber für die Tagesschau folgendermaßen dar:

"Chefredakteurin Simonjan hatte bereits 2012 in einem Interview mit der russischen Zeitung 'Kommersant' erklärt, man befinde sich in einem Informationskrieg. Während das russische Verteidigungsministerium in Georgien gekämpft habe, habe sie mit ihren Kollegen den 'Informationskrieg' gegen die ganze westliche Welt geführt. Auch die Büroleiterin von RT DE, Dinara Toktosunova, sprach kürzlich in einem Interview mit dem Sender Arte TV von einem 'Informationskrieg': 'Ich denke tatsächlich, dass die ganze Welt in einem Krieg um Informationen steht. Wenn man sich fragt, wo der Dritte Weltkrieg ist – das ist im Informationsbereich.'"

Wer auf YouTube bislang nach aktuellen Nachrichtenvideos suchte, bekam unter den ersten Treffern oft Inhalte von "RT_DE" angezeigt. Das Kürzel samt nichtssagendem Logo wirkt auf den ersten Blick wie ein x-beliebiger Fernsehkanal und wird vom Durchschnittssuchenden wohl kaum als ein von Russland finanziertes Medium eingeordnet worden sein (hatte aber möglicherweise von YouTube einen Warnhinweis spendiert bekommen – das kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen).

Dass die Inhalte eine spezifische Strategie verfolgen, ist auch für skeptische Menschen nicht unbedingt auf den ersten Blick ersichtlich: Es ist nicht so, dass die Videos von russlandfreundlichen Falschmeldungen nur so wimmeln, auch wenn die Kanalsperrung bei YouTube jetzt mit der Verbreitung von Desinformation über Covid-19 begründet wird. Wer wissen will, welche kommunikativen Instrumente die Redaktion anwendet, muss schon etwas tiefer ins Programm eintauchen. Eine, die das seit Jahren tut, ist die Osteuropa-Historikerin Susanne Spahn. In einer Expertise für die Friedrich-Naumann-Stiftung hat sie letztes Jahr beispielhaft dargestellt, wie die Inhalte von RT Deutsch (und anderer russischer Auslandsmedien) die öffentliche Meinung in Deutschland beeinflussen können.

Interessant ist in dem Zusammenhang, wie der Sender sich verteidigt (zu finden ebenfalls in dem genannten Tagesschau-Artikel). RT Deutsch teilte dem SWR demnach auf Anfrage mit:

"Uns ist kein einziger Fall bekannt, in dem der Presserat RT DE öffentlich gerügt hat." Was RT DE nicht erwähnte: Der Presserat kann das Staatsmedium gar nicht rügen, weil es nie einen Antrag auf Kontrolle durch das Gremium beantragt hat.

Nemi El-Hassan: Eine Entscheidung, aber keine Klärung

Die Öffentlich-Rechtlichen beschäftigen Hunderte Fernsehmoderatorinnen und -moderatoren – dass die Neubesetzung einer einzigen Sendung es heute zum achten Mal ins Altpapier schafft, ist somit außergewöhnlich. Am Fall Nemi El-Hassan werden gerade Grundsatzdebatten aufgezogen. Gestern hat der WDR-Rundfunkrat über das Thema diskutiert. Intendant Tom Buhrow hat in der Sitzung wohl gesagt, dass die 28-jährige Journalistin die "Quarks"-Moderation "zum jetzigen Zeitpunkt" nicht antreten wird (zu lesen überall, auch beim RND).

Ich hoffe sehr, dass das Thema mit dieser vorläufigen Entscheidung nicht vom Tisch ist. Dazu sind noch zu viele Fragen offen, die ich hier aufliste, auch wenn ich selbst WDR-Mitarbeiterin bin.

  • Erstens: Wie hat der Sender den Vorwurf des Antisemitismus belegt? Oder hat er sich mit dem Verdacht auf Antisemitismus begnügt? Der Jahre zurückliegende Besuch einer Al-Kuds-Demo, mit dem die "Bild"-Zeitung die Diskussion ins Rollen gebracht hat, war für den WDR wohl nicht ausschlaggebend. Stattdessen ging es um jüngere Likes, vermutlich diese von der "Bild" erwähnten. Die NZZ hatte außerdem einen Tweet im Mai erwähnt, der eine Rolle gespielt haben könnte. Dass Nemi El-Hassan zu Beginn der Debatte auf ihren Social-Media-Kanälen aufgeräumt hat, macht die Beurteilung nicht leichter und spricht erst einmal gegen sie. Andererseits ist der Vorwurf des Antisemitismus ein schwerwiegender, vor allem, weil ihre Arbeit der vergangenen Jahre für sie spricht. Natürlich kann niemand den WDR zwingen, öffentlich nachzuweisen, warum er sich gegen Nemi El-Hassan entschieden hat. Wenn aber nicht der Eindruck hängen bleiben soll, dass der Sender angesichts öffentlicher Kritik eingeknickt ist, sind Belege für den diagnostizierten Antisemitismus dringend notwendig: Welche der in diversen Medien erwähnten kleinteiligen Vorwürfe waren letztendlich ausschlaggebend?

  • Zweitens: Wer hat den Fall Nemi El-Hassan für eigene Interessen genutzt? Dass vor der "Bild" schon andere Akteure Vorwürfe gegen El-Hassan erhoben haben (siehe dieses Altpapier), mit mutmaßlich anti-muslimischer Agenda, hinterlässt den faden Beigeschmack einer letztlich erfolgreichen Kampagne.

  • Drittens: Welche Außenwirkung hat die Causa auf mögliche junge Nachwuchskräfte für die Öffentlich-Rechtlichen? Einen großen Unterschied hätte es machen können, wenn der WDR nach den ersten Vorwürfen gegen Nemi El-Hassan mit ihr gemeinsam eine Pressemitteilung herausgegeben hätte mit der Ankündigung, die Kritik zusammen sorgfältig zu prüfen – dass sie an der Aufarbeitung interessiert ist, nehme ich ihr nach ihrem "Spiegel"-Interview ab, schon allein deshalb, weil es um ihre persönliche Zukunft geht. So hätte der Sender die Journalistin bis zur endgültigen Entscheidung geschützt und sich deutlicher gegen die Anfeindungen gestellt. Denn von Anfang an haben Rassistinnen und Rassisten die Debatte für ihre Hetze instrumentalisiert. Für junge Medientalente, die die Rundfunkanstalten ja dringend brauchen, war der Fall sicher keine Einladung – besonders für diejenigen unter ihnen, die mit Rassismus schon Erfahrungen gemacht haben.

Wie im Altpapier schon zitiert, hat Joachim Huber im Tagesspiegel vom WDR eine "grundsätzliche Positionierung" gefordert. Das Gegenteil davon wäre, einer ins öffentliche Kreuzfeuer geratenen jungen Frau eine Moderation zu entziehen, ohne die Gründe transparent darzulegen. Dass Nemi El-Hassan womöglich als Autorin für "Quarks" weiterarbeiten darf, lässt befürchten, dass der WDR sich auf eine Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch-Lösung zurückzieht.

Altpapierkorb (Kompletterneuerung der Medienlandschaft, Hilferufe aus Afghanistan)

+++ Georg Diez wünscht sich in der taz eine Transformation der Medien: Es "sollten mit dem Abgang von Angela Merkel (16 Amtsjahre) auch die Sendungen von Frank Plasberg (20 Amtsjahre), Sandra Maischberger (18 Amtsjahre), Maybrit Illner (22 Amtsjahre) und Anne Will (14 Amtsjahre) ins digitale Nirvana verabschiedet werden: Der politisch-mediale Komplex braucht eine Kompletterneuerung." Er macht das am Beispiel des Klimawandels fest, sein Plädoyer regt aber auch zum Nachdenken über andere Themen an – wobei seine Kritik eher theoretisch-abstrakter Natur ist.

+++ "Täglich erreichen uns weiterhin Hilferufe – das ist noch lange nicht vorbei", erinnert Christopher Resch von Reporter ohne Grenzen an die grausame Situation der afghanischen Journalistinnen und Journalisten, nachdem die Taliban die Berichterstattung mit neuen Regeln weiter eingeschränkt haben. Zu hören ist das bei @mediasres im Deutschlandfunk.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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