Teasergrafik Altpapier vom 27. September 2021: Porträt Autor Christian Barthels
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Das Altpapier am 27. September 2021 Langer Abend

27. September 2021, 10:22 Uhr

Der spannendste Wahlkampf (oder doch ein "erschreckend unpolitischer"?) ist vorbei. Dazu gibt's scharfe Kritik an Twitter ("vergiftet den Wahlkampf") sowie an Facebooks "Überwachungswerbung" und dem "zutiefst antidemokratischen" Gebrauch, den alle Parteien gerne davon machen. Und erste Wahlabend-Fernsehkritiken... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Noch viele lange Krimi-Abende?

Wie titelte die taz, die ein Händchen für Schlagzeilen ja hat, beim letzten Regierungschef-Wechsel in Deutschland anno 2005? "Es ist ein Mädchen". Darauf kann sie nun drauf aufbauen (Titelseite als PDF). Sonst kann das niemand. Die Bild-Zeitung, der sich so ein Händchen auch nicht absprechen lässt, die inzwischen allerdings pausenlos multimedial Schlagzeilen raushaut und nachbessert, behalf sich mit "Kanzler-Krimi!" (was immerhin den Gernevorlieben weiter Teile des deutschen  Publikums entgegenkommt), und zwischenzeitlich mit "La-Olaf-Welle oder Last-Minute-Laschet?"

Zusammen mit dem am Wahlabend schon früh und dann noch häufig zu hörenden (und hier mit einem Griff in die gute alte Animations-Zeit illustrierten) Spruch "Es wird ein langer Abend werden", dürfte das zutreffen. Es dürften noch allerhand lange Krimi-Abende werden, bis die Parteien, die die nächste Bundesregierung bilden werden, sich darauf geeinigt haben werden.

Und ob man den Medien-Wahlkampf nun "spannend wie nie" (SZ am Samstag) fand oder eher "erschreckend unpolitisch, den Rest der Welt komplett ignorierend" (Telepolis) – für das "Wahlmedienüberangebot" (Boris Rosenkranz  im uebermedien.de-Newsletter), das nicht nur, aber auch im linearen Fernsehen und seinen nachgeschalteten Mediatheken "quer über alle großen Sender hinweg" dem Wahlkampf "so viel Sendezeit wie nie" (dwdl.de) widmete, sind lange Koalitionsverhandlungen, die nun bevorstehen, wohl eine gute Nachricht. Das viele neuentdeckte Interesse muss ja irgendwie aufrechterhalten werden. Politik-Berichterstattung ergibt nur Sinn, wenn sie kontinuierlich stattfindet.

Kritik an Twitter, Facebook und werbenden Parteien

Zum Wahlkampf-Ausklang übten klassischen Medien nochmals scharfe und vergleichsweise fundierte Kritik an den sogenannten sozialen. Da wäre erstens der harte Haudegen Jan Böhmermann, dessen ZDF-Show in Kooperation mit der britischen Transparenzinitiative "Who Targets Me" und dem Datananalysten Luca Hammer über politische 134.000 Werbungen, die 17.451 Facebook nutzenden Zuschauern zwischen April und September angezeigt wurden, qua Add-on ausgewertet hat und am Freitag das Ergebnis zeigte.

"Alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, nutzten im Bundestagswahlkampf 2021 auf Facebook sogenanntes Microtargeting – das gezielte Ausspielen von personalisierter Werbung an kleine Personengruppen. Die Recherchen des 'ZDF Magazin Royale' zeigen, wie schädlich maßgeschneiderte Werbungen für eine demokratische Gesellschaft sind",

fasst die dafür eingerichtete Webseite targetleaks.de zusammen. Der Mainzer Medienwissenschaftler Simon Kruschinski nennt in der Sendung die Werbung, die Facebooks auf Grundlage seines immensen und weiter wachsenden Datenschatzes verkauft, "Überwachungswerbung" und politisches Online-Targeting "zutiefst antidemokratisch". Und Böhmermanns Show zeigt sich hier mal überparteilich und kritisiert alle Parteien, FDP und CDU ebenso wie die Linke, sowie Bundesministerien, die ja über eigene Budgets verfügen und sie in Wahlkampfzeiten gerne so einsetzen, dass die jeweiligen Ministerien-Chefs als prominente Regierungspartei-Mitglieder schön im Mittelpunkt stehen. Das traf targetleaks.de zufolge aktuell außer aufs grün geführte rheinland-pfälzische Klimaschutzministerium auch auf Hubertus Heils Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu, das "gezielt mehrere Facebook-Werbungen an Menschen, die sich", Facebooks Datenschatz zufolge, "für die 'Sozialdemokratische Partei' interessieren", ausspielen ließ.

Es lohnt sich, auch wenn man kein dezidierter Böhmermann-Anhänger ist, die Sendung anzusehen (auch wegen der hübschen Bild-TV-Persiflage anfangs und des Auftritts der ergrauten Tocotronic am Ende). Und wie die Webseite dem Megatrend der Gamifizierung folgt, mit dem nicht Scholzo-, sondern Target-o-maten, ist ebenfalls instruktiv.

Wir halten fest: Alle politischen Parteien leiten viel von ihren ja zu nennenswertem Anteil Steuer-finanzierten Wahlkampfbudgets an die Datenkraken weiter, um gegenüber anderen Parteien, die genau dasselbe tun, Vorteile zu erringen. Kein Wunder, dass alle Versuche, Facebooks laufend weiter eskalierende Macht zu regulieren, versanden (und parteipolitisch gut vernetzte Menschen aus dem unscheinbaren Digital-Staatsministerium zu Facebook wechseln). Falls übrigens wer gelesen (oder angezeigt bekommen) hat, dass diese Datenkraken immerhin ihre weiter steigenden Gewinne künftig dank der vom Kanzlerkandidaten Scholz für sich reklamierten internationalen Initiative gegen "globales Steuerdumping" stärker im Inland (oder wenigstens überhaupt) versteuern müssten: Das stimmt eher nicht.

Zweitens versucht der aktuelle Spiegel (€) herauszuarbeiten, "wie Twitter den deutschen Wahlkampf vergiftet":

"So verschärft Twitter eine problematische Kultur der Kurzfristigkeit. Der Drang, Ereignisse in Sekundenschnelle zu bewerten, oft ohne sie wirklich zu prüfen, erzeugt häufig eine falsche Wiedergabe der Wirklichkeit und damit bisweilen tiefe Ungerechtigkeiten",

lautet eine zentrale These der Autoren Veit Medick und Markus Feldenkirchen. Sie nennen dafür Beispiele aus dem Stimmungskampf gegen Kanzlerkandidat Laschet. Der ihm zugeschriebene Satz "Wir müssen besser darin werden den jungen Menschen zu erklären warum das mit dem Klimaschutz nicht so schnell geht" stamme nicht mal aus einer für die Echtzeit-berauschte Gegenwart recht alten Anne-Will-Show, sondern sei sogar dort nicht gefallen. Außerdem gibt's den Trick, bestimmte Fotoausschnitte zu wählen, wofür sich natürlich auch viel ältere, schon prädigital von der Bild-Zeitung gegen Jürgen Trittin eingesetzte Beispiele (oder tagesaktuelle) finden.

Dann zieht der Spiegel selbst den Rahmen auf, befragt den Nicht-Kanzlerkandidaten Robert Habeck, dessen Twitter-Ausstieg größeres Hallo nach sich zog, ihm aber nicht grundsätzlich schadete, sowie eigene Mitarbeiter, die Twitter wiederum nicht schlimm finden: "Twitter ist wie eine Art digitale Echtzeit-Fußgängerzone", sagt Sascha Lobo, und Kolumnenkollegin Margarete Stokowski gar:

"Die Leute sind mit den Nerven runter. Und sie haben leider mehr Zeit als früher. Sie hängen schlicht häufiger auf Twitter ab als Ersatz für andere soziale Beziehungen. Das ändert sich auch hoffentlich bald wieder".

Vom "quasi programmierten" "politischen Burn-out" spricht dagegen Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Wie Twitter denen, die es nutzen, gute Gründe an die Hand gibt, es wichtig zu finden, vielleicht sogar je mehr, desto schärfer andererseits die Kritik wird, zeigt sich ganz gut im Spiegel-Artikel. Wenn Michael Hanfeld dann in der FAZ schrieb: "Schaut man auf den Wahlkampf im Internet, lautet das Ergebnis ganz anders: Hier hat Rot-Rot-Grün die Schlacht gewonnen, allerdings mit den Mitteln brutaler Überwältigung", wollte er vielleicht noch am Samstag selber in den Wahlkampf eingreifen. Im Rückblick am Montag zeigt sich, dass das Internet und das, was es seinen Nutzern anzeigt, eben doch nur ein häufig trügerischer Ausschnitt ist.

Das Erste erster, Bild-TV justiziabel?

Damit zu den Wahl-Fernseh-Abend- Gesamtkritiken. Schon vom Mittag an, als erste Sender wie Bild-TV bereits beginnen mussten, "die vielen Sendestunden bis zur Schließung der Wahllokale [zu] überbrücken", hat Frank Lübberding für faz.net den Fernsehabend verfolgt, vor allem öffentlich-rechtlich, und früh am Morgen noch Raum gefunden, in der Programmbeobachtung allerhand eigenen Ansichten unterzubringen.

Ausführlicher, was sechs bis sieben bis acht Sender den Wahlabend über sendeten, schildert ein vierköpfiges dwdl.de-Team. Waren die Öffentlich-Rechtlichen im Triell der Trielle eher noch dritter Sieger (Altpapier), bekommt vor allem die ARD hier viel Lob ("Jörg Schönenborn im Ersten erneut als Wohltat ..."), während das ZDF zwar mit den Berechnungen der Forschungsgruppe Wahlen früh die zutreffenderen Zahlen hatte, aber unter den im Studiohintergrund eingeblendeten Bildern ("wahllose Vogelperspektiven der Hauptstadt mit Effekten animiert unruhig und ermüdend") gelitten habe. RTL verpatzte "die spannungsgeladene Bekanntgabe von Ergebnissen", auf die es sich sonst versteht, ausgerechnet um 18.00 Uhr. Springers Bild-Fernsehen wiederum machte den Hochrechnungs-Unterschied eben "um 18 Uhr ... spannend sichtbar...: Die inzwischen auch Fernsehen gewordene Medienmarke der Axel Springer SE klaute sich einfach die Sendesignale von ARD und ZDF", was aufschlussreich war, aber auch "rechtliche Schritte" nach sich ziehen könnte, wie dwdl.de gegen Mitternacht meldete.

Das wäre dann noch ein Aspekt der Wahlnacht, dessen Ausgang weitere Spannung verspricht.


Altpapierkorb (Streik beim RBB, Borussia Dortmund, Deutschland digital vor Albanien, Analoge Funkgeräte für die Bundeswehr)

+++ Vergangene Woche gab es einen weiteren Streik der Freien beim RBB. "Nach Angaben der Freienvertretung im RBB beteiligten sich knapp 400 Freie an der Aktion", schrieb die taz. Hier berichtet mmm.verdi.de. Diverse aktuelle Sendungen sind ausgefallen. Wobei: Ein so wichtiger Sender, dass der Ausfall aktueller Sendungen groß auffällt, ist der Hauptstadtsender, der kommendes Jahr ja den ARD-Vorsitz übernimmt, nicht.

+++ Die neue Kooperation zwischen dem börsennotierten Fußballverein Borussia Dortmund und Sky, das "natürlich kein Aushängeschild des investigativen Sportjournalismus" ist, aber doch ein Pay-TV-Sender mit auch journalistischen Ansprüchen, versucht die SZ-Medienseite einzuschätzen.

+++ Einstweilen "ist Schlaf der Sendung auf jeden Fall vorzuziehen", schreibt Laila Oudray in der taz zur neuen RTL-Comedy-Bemühung namens "RTL Topnews".

+++ Ein "European Center for Digital Competitiveness" stellte in seinem "Digital Riser Report 2021" kürzlich fest, dass Deutschland "in Sachen digitale Wettbewerbsfähigkeit während der Corona-Pandemie weiter zurückgefallen" sei und in Europa nur noch vor Albanien liege (manager-magazin.de). Immerhin nahm sein Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik nun den Hinweis der litauischen Cybersicherheitsbehörde an und will Smartphones chinesischer Hersteller auf fernbedienbare Zensurfilter überprüfen, meldet u.a. heise.de.

+++ Allen, die glauben, dass es in punkto Digitalisierung unter Angela Merkels Nachfolger nur besser werden, gibt der österreichische Standard dann noch mit seiner Aufbereitung einer Spiegel-Meldung Stoff in die Hand: Die Bundeswehr lässt für über eine halbe Milliarde Euro analoge Funkgeräte aus den frühen 1980er Jahren neu nachbauen. Auftragnehmer ist ein französischer Rüstungskonzern, der die längst abgewickelte Firma Standard Elektrik Lorenz schluckte. Ob das die Franzosen ein wenig fürs entgangene australische U-Boot-Geschäft entschädigen kann?

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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