Das Altpapier am 25. August 2021 Journalisten sind Spätmerker
Hauptinhalt
25. August 2021, 14:54 Uhr
Afghanistan ist nicht das erste Beispiel dafür, dass Journalisten Dinge, die ihnen längst hätten auffallen müssen, erst auffallen, wenn sie jedermann auffallen. Ein paar Ideologen tun mal wieder so, als wären sie keine. Der Prozess über den lebensbedrohlichen Angriff von zwei Neonazis auf Journalisten beginnt endlich. Ein Altpapier von René Martens.
Krieg ohne journalistische Kontrolle
Was in den vergangenen 20 Jahren in der Berichterstattung über Afghanistan schief gelaufen ist, war bereits in der vergangenen Woche Thema an dieser Stelle. In einer aktuellen Kolumne des Migazins fällt nun sogar der Begriff "Versagen" - eine Formulierung, die im Zusammenhang mit der Kritik an Medien generell ein bisschen zu oft verwendet wird (möglicherweise auch von mir).
"Auch die Medien haben versagt: In Afghanistan war 20 Jahre Krieg und niemand hat berichtet",
schreibt das Migazin jedenfalls. Wirklich "niemand"? Mehr meckern will ich nun aber gar nicht über den Text. Die folgende polemische Passage aus Sven Bensmanns Kommentar etwa klingt plausibel:
"Wenn man vom Massaker des Oberst Klein an der Zivilbevölkerung durch die Sprengung eines liegengebliebenen Tanklasters absieht, wurde Afghanistan über den Großteil dieser 20 Jahre umso mehr mit Vergessen gestraft, je schlechter es lief. Währenddessen konnten 16 Jahre lang deutsche Verteidigungsminister unter Angela Merkel in Afghanistan praktisch nach Belieben schalten und walten, ohne die Kontrolle der deutschen Medien zu fürchten."
Ich habe selbst vor zwei Jahren im Rahmen einer Podcast-Rezension für die taz mal kritische Stimmen zur Berichterstattung deutscher Medien aus Afghanistan aufgegriffen.
Bensmann schreibt weiter:
"Jetzt (…) fällt die sogenannte Vierte Gewalt mit aller Macht über die her, die genau jetzt die Verantwortung tragen. 2001 hingegen waren die Kritiker dieses Kriegs eine Minderheit. Die deutsche und internationale Presse war stattdessen überzeugt, dass mit dem Bau von ein paar Brunnen und Mädchenschulen, sowie der großzügigen Finanzierung verschiedenster korrupter Warlords schon ein neuer Staat zu machen sei und die Taliban in Kürze verschwinden würden."
In eine nicht unähnliche Richtung ging auch Anfang der Woche eine Bemerkung von Markus Decker (RND-Hauptstadtbüro), der sich aber weniger polemisch ausdrückte:
"Dass der Westen #Afghanistan zu einem funktionierenden Staat mit halbwegs demokratischem Antlitz würde machen können, haben auch unter uns Journalisten 2001 viele geglaubt. Wenn die Politik an ihren Illusionen scheitert, dann scheitert sie also nicht allein."
Dass Journalisten Dinge, die ihnen längst hätten auffallen müssen, erst auffallen, wenn sie jedermann auffallen (oder sie einen Teil ihres Wissens aus fragwürdigen Gründen sehr lange für sich behalten) - dieser Mechanismus lässt sich ja auch bei anderen Themen beobachten. Ein Beispiel (aus einem völlig anderen Bereich): Wirecard. "Viele Medien haben weggesehen", schrieb etwa die Welt im Juni 2020 dazu.
Zurück zum Thema Afghanistan: Auf einen anderen "Fehler" hiesiger Medien - Christian Bartels hatte es im Altpapier von Dienstag bereits erwähnt - weist der Fotojournalist und Pulitzer-Preisträger Massoud Hossaini im Interview mit @mediasres hin:
"Als ich in den vergangenen Monaten über den Eroberungsfeldzug der Taliban berichtet habe, gab es auf Social Media jedes Mal Berichte darüber, dass eine Stadt bereits gefallen ist, noch bevor das tatsächlich der Fall war (…) Das bedeutet, den Taliban ist es bereits zu diesem Zeitpunkt gelungen, auch die westlichen Medien zu erreichen – und sie zu täuschen. Sie haben Social Media genutzt, um Städte zu erobern und den Krieg zu gewinnen."
Noch wieder andere Aspekte zum Thema Journalismus aus/über Afghanistan kamen am Wochenende im Übermedien-Podcast "Holger ruft an" (mit dem Afghanistan-Kenner und Zeit-Reporter Wolfgang Bauer) zur Sprache: Wie ist denn eigentlich kurzfristig oder auch mittelfristig kritische Berichterstattung über das Land noch möglich, wenn all die Stringer und Übersetzer, die mit westlichen Medien zusammengearbeitet und diese Berichterstattung überhaupt erst möglich gemacht haben, das Land verlassen haben (was wünschenswert wäre) oder tot sind? Das ist eine der Fragen, die man sich nach dem Hören des Podcasts stellt.
Laschet und sein Spin-Doctor
Der Satz "Alle aktuellen Diskussionen über die Pandemie, über Klima- oder Migrationspolitik, über Streiks und Lohnerhöhungen, über Bildung und Gesundheitsversorgung sind Diskussionen, die von Ideologien geprägt sind" ist eigentlich ein No-Brainer. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass Margarete Stokowski ihn in ihre Spiegel-Kolumne hineingeschrieben hat, denn derzeit ist es (mal wieder) in Mode, in öffentlichen Debatten oder journalistischen Beiträgen politische Gegner als Vertreter einer "Ideologie" hinzustellen, um so zu tun, als wäre man selber kein Ideologe.
"In der 'Welt' wurde gefragt, ob den Grünen 'Ideologie wichtiger als das Grundgesetz' sei, im österreichischen 'Kurier' hieß es, 'Klimaschutz braucht Fakten statt Ideologie'",
schreibt Stokowski diesbezüglich. Hauptsächlich geht es in der Kolumne um Armin Laschet, der das Ganze in punkto Sinnfreiheit selbstverständlich noch zu toppen weiß. "Ich werde kämpfen mit allem, was ich kann, dass dieses Land nicht von Ideologen übernommen wird", sagt er - obwohl, auch das eigentlich ein No-Brainer, "dieses Land" schon immer "von Ideologen" regiert worden ist.
"Ohne (Nathanael Liminski) würden wohl mehr Auftritte von Laschet missglücken. Liminski bereitet Reden und Statements detailliert vor. Unsicherheiten und Aussetzer zeigt Laschet meist erst, wenn er spontan reagieren muss",
schreibt Sebastian Weiermann für das ND in einem Porträt jenes Mannes, der Chef der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen sowie Armin Laschets mutmaßlich wichtigster Spin-Doctor ist - und nach Ansicht Weiermanns "nur teilweise" der "Hardliner", als den andere ihn beschreiben.
Dass "noch mehr" Auftritte Laschets misslingen, ist eigentlich schwer vorstellbar, ich teile aber, jedenfalls nach Sichtung des am Sonntag ausgestrahlten ARD-Porträtfilms "Die wollen da rein - Der Kampf ums Kanzleramt", in einer Hinsicht Weiermanns Eindruck: In einigermaßen ausgeruhten Dreh- und Interviewsituationen misslingt Laschet relativ wenig. Andererseits hapert es auch hier sogar an Kleinigkeiten, selbst jenseits des Politischen schafft es Laschet nicht, vorteilhafte Bilder zu produzieren.
Zudem erwähnenswert an dem Porträt Liminskis: Über ihn heißt es, dass er, "weil er strategisch denkt, Medien versteht und Bündnisse schmieden kann". Dass er Medien nicht nur "versteht", sondern als Leiter der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei ein zentraler Akteur in der bundesdeutschen Medienpolitik ist, steht dort aber nicht. In einem bei kress.de abrufbaren Text aus dem April 2020 platziert Steffen Grimberg Liminski unter der Überschrift "Ranking: Die 20 mächtigsten Strippenzieher in den Medien" auf Rang Platz - zwischen Margarethe Verstager und Mathias Döpfner.
Dass der mediale Stellenwert der Medienpolitik gering ist, habe ich an dieser Stelle schon einmal anlässlich eines anderen Liminski-Porträts konstatiert.
Eine Frage der Sicherheit
Am 7. September beginnt vor dem Landgericht Mühlhausen, einem der vier Landgerichte Thüringens, endlich der sehr lange verschobene bzw. verschleppte Prozess, in dem der lebensbedrohliche Angriff von zwei bekannten Neonazis auf zwei Journalisten verhandelt wird.
Der Vorfall eignete sich vor mehr als drei Jahren in der Gemeinde Fretterode im Landkreis Eichsfeld, er war regelmäßig Thema im Altpapier, ausführlich etwa im Mai 2019 und im Oktober 2019. Anlässlich des bevorstehenden Beginn des Prozesses äußern sich nun die beiden Opfer in einer Folge des NSU-Watch-Podcasts "Aufklären & Einmischen", den die Rechercheplattform mit dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt betreibt.
Eine der beiden Interviewerinnen sagt zum Einstieg:
"Es geht um nichts weniger als die Frage: Werden Journalisten, die bei ihrer Arbeit von militanten Neonazis in Lebensgefahr gebracht werden, durch den Rechtsstaat geschützt oder, wie viele andere Betroffene auch, im Stich gelassen?"
Einer der beiden Betroffenen hat nach dem neonazistischen Überfalls bereits seine "journalistische Arbeit im Bereich Rechtsextremismus eingestellt", wie er in dem Podcast sagt. Wie wichtig es wäre, wenn sich Recherchierende "geschützt" fühlen könnten, das deutet sein Kollege in dem Interview an. Das Motiv, mit der "Sisyphos-Arbeit", rechtsextreme "Netzwerke aufzudecken" überhaupt zu beginnen, sei, wie bei anderen darauf spezialisierten Journalisten auch, Unzufriedenheit gewesen. Unzufriedenheit darüber, dass etwa die Aufdeckungsarbeit des Verfassungsschutzes in diesem Bereich eher als "spärlich" zu bezeichnen sei. Das Urteil von Mühlhausen wird also auch darüber Aufschluss geben, ob auf Recherchen im Bereich Rechtsextremismus spezialisierte Journalisten weiterhin versuchen können, die beschriebene Lücke zu schließen.
Altpapierkorb (ein Vorausblick auf baldige Intendantenwahlen, eine Betriebsklimawandelprüfung beim WDR, der Forderungskatalog eines Lokalradiochefs)
+++ Wie schon 2017, gibt es bei der Intendantenwahl beim Deutschlandradio, die am 2. September stattfindet, nur einen Kandidaten. Das meldet beispielsweise der Tagesspiegel. Es ist wieder Stefan Raue, der den One-Man-Wettbewerb vor vier Jahren knapp gewann. Wer vermutlich beim HR antritt, darüber berichtet die Medienkorrespondenz. Dort geht im Februar 2022 Manfred Krupp, der in jenem Monat 66 Jahre alt wird, in den Ruhestand. Favoritin für die Nachfolge ist die 61-jährige HR-Programmdirektorin Gabriele Holzner.
+++ Mit einer externen Betriebsklimawandelprüfung hat der WDR Monika Wulf-Matthies, die frühere Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, beauftragt. Offiziell ist von einer "Evaluation des Kulturwandels" die Rede, berichtet unter anderem kress.de. Wer die volle Schönheit der WDR-Pressemitteilung genießen möchte: Hier steht sie. Zum Betriebsklima beim WDR fand sich unter anderen Vorzeichen Ende März eine kurze Passage im Altpapier.
+++ Zu Beginn der jüngsten Hochwasserkatastrophe hat eben dieser WDR mangelhaft berichtet - weshalb ein privater Sender wie Radio Wuppertal, der es besser machte, auch überregionale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte (siehe Altpapier). Georg Rose, der Chefredakteur von Radio Wuppertal, hat nun mit Blick auf die Berichterstattung über künftige Katastrophen einen Forderungskatalog vorgelegt. Darüber berichtet Lena Reuters für die SZ (Blendle-Link): "Der Journalist möchte, dass das Warn- und Informationssystem in Deutschland reformiert wird (…) (Rose) (…) fordert (…), das Radio müsse als elementarer Bestandteil des Katastrophenschutzes begriffen und wo nötig gefördert werden. Dazu brauche es eine leistungsfähige Notstrom-Versorgung, ein schnelleres und verlässlicheres Warnsystem und eine nationale Kampagne, durch die Menschen sensibilisiert werden, wie sie sich in einer Katastrophe informieren können. (…) Um diese Aufgabe während einer Gefahrensituation übernehmen zu können, bräuchten kleinere Privatsender wie Radio Wuppertal Unterstützung."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/78e679a5-be5a-4521-b02c-0edeaa8aeab1 was not found on this server.