Das Altpapier am 21. November 2017 Fast historisch, und wir sind dabei gewesen
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Seit dem Scheitern der Sondierungsgespräche kann der Hauptstadtjournalismus endlich zeigen, was er kann. Weniger Konsens ist zumindest für Berichterstatter besser. Außerdem: Deutsche, seht mehr fern! (Heute ist Weltfernsehtag). Ein Altpapier von Christian Bartels.
Los geht's im ganz großen Rahmen: Am heutigen 21. November ist World Television Day der Vereinten Nationen! Das bedeutet natürlich nicht, dass heute nachhaltigeres oder besseres Programm gesendet würde und z.B. ARD-Zuschauer auf ihre Lieblingsserien "Die Kanzlei" und "In aller Freundschaft" verzichten müssten. Es ist aber Anlass, vielerlei interessantes Zahlenmaterial aufzubereiten.
So "unterstreicht" der VPRT, die deutsche Privatsender-Lobby, gerne "die gesellschaftliche Relevanz des Fernsehens" mit Aussagen wie der, dass es "über 90 Prozent der Bevölkerung" erreicht, und der, dass sich "zur Primetime ... in Europa mehr als 260 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher" versammeln.
Die epd-Meldung (bei chrismon.evangelisch.de) schüttet einen Wermutstropfen in die Freude: Deutschland liegt beim Fernsehkonsum nur "im Mittelfeld" und wird von den Spitzenreitern "Rumänien mit 329 Minuten Fernsehnutzung täglich", Portugal und Ungarn deutlich distanziert. Woran liegt's? Sendet das reichste Fernsehen zu wenige spannende Krimis und Talkshows, oder liegt die Schuld eher bei den Privatsendern, die ihr wenig sportliches Publikum nicht länger an die Couch zu fesseln vermögen (mehr über Thomas Ebeling und ProSiebenSat.1 unten im Altpapierkorb)? Dabei rangiert Deutschland doch auch bei schnellem Internet alles andere als vorne. Zumindest in infrastrukturschwachen Regionen wäre also locker Zeit, etwas mehr fernzusehen und Rumänien einzuholen ...
Fast historisch
Immerhin bieten die Tage seit Sonntag – dem "fast historischen Tag" (dpa/ zeit.de), an dessen Ende die Jamaikakoalition-Sondierungsgespräche überraschend platzten – politisch interessierten Zeitgenossen jede Menge spannenden Fernseh- und überhaupt Medien-Stoff zwischen, nur zum Beispiel, Naypyidaw in Myanmar, wo "Sigmar Gabriel am Montagmorgen durch die Lobby seines Hotels in der burmesischen Hauptstadt läuft" (Majid Sattar war für die FAZ auf dieser in der Sache ja wichtigen Reise des geschäftsführenden Außenministers), und Berlin-Mitte.
In Berlin-Mitte lief Christian Lindner dynamisch hin und her. Hin lief er, am Sonntag noch im Hellen, z.B. auf diesem dpa-Foto, das oft verwendet wurde, z.B. in diesem Frankfurter-Rundschau-Text; die Zeitung, die der FDP-Chef in der Hand hält, ist die Bild am Sonntag, wie in der heutigen, großen Seite drei-Reportage der Süddeutschen (€; "Gibt es so etwas wie eine Wahrheit über eine dramatische Nacht in Berlin?") steht:
"Ein paar Wahrheiten sind unbestreitbar, ganz einfach weil man sie sehen konnte: Der Sonntag zum Beispiel beginnt schon in mieser Stimmung. Lindner erscheint zu den Gesprächen mit einer gut sichtbaren Zeitung unter dem Arm, in der Jürgen Trittin die FDP kritisiert hat ..."
Zurück "hastet"Christian Lindner, die "Irrlichtgestalt" (Heribert Prantl, SZ), der "Mini-Kurz" (Uli Deppendorf, Twitter), "am Sonntag um Mitternacht mit schnellen Schritten zu der schwarzen Limousine, die in der Auffahrt wartet. Fotografen hetzen hinter ihm her, Reporter rufen ihm Fragen zu",
leitet Ulrich Schulte seine auch stimmungsvolle taz-Reportage "Jamaika? Neinmaika!" ein. Weiter darin:
"Kurz zuvor hat er sich in der kalten Nachtluft im Scheinwerferlicht vor der Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin aufgebaut. Neben ihm sein Vize Wolfgang Kubicki, Generalsekretärin Nicola Beer und die anderen FDP-Verhandler, alle mit steinernen Mienen. Lindner schaut immer wieder auf den Zettel, auf dem er sich Notizen gemacht hat. Seine Hände zittern etwas, vielleicht nur wegen der Kälte. 'Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren'", sagt Lindner."
Dass dieser zumindest im Vergleich mit sonstigen aktuellen deutschen Wahlkampf-Slogans bemerkenswert aussagekräftige Spruch spontan entstanden ist, glauben nicht einmal Lindner-Sympathisanten wie Jasper von Altenbockum von der FAZ:
"Die Begründung der FDP für den Abbruch – 'Lieber nicht regieren, als falsch zu regieren' – ist deshalb gut gewählt (und sicher nicht erst gestern Abend erfunden worden."
Fast wäre die Vorratsdatenspeicherung weg gewesen
Was gleich zur Sharepic-Debatte führt: Wenn der Spruch schon vorher stand und das dazugehörige Sharepic (ein Bildchen, das in sogenannten sozialen Medien zum Teilen, also Weiter-Verbreiten einladen soll), das derzeit den Twitter-Auftitt der FDP, äh, ziert, schon kurz nach Mitternacht in der Welt war, waren dann die ganzen Sondierungsgespräche bloß "gut vorbereitete Spontanität", wie wiederum CDU-Powertwitterin Julia Klöckner in den Diskurs warf? War's "gut inszeniertes Theater" oder "schlecht inszeniertes Theater" (irgendwie beide Meinungen, letztere von grüner Seite, zitiert die Welt).
Dieser Tweet aus dem Spiegel-Hauptstadtbüro, der einen Screenshot von einem Google Plus-Account zeigt, scheint diesen Verdacht zu bestätigen. (Und am Rande: Besitzen Parteien, die Google Plus nutzen, wirklich Digitalisierungs-Kompetenz?). Vor allem das automatisch generierte Datum, das anzeigt, wann die Datei angelegt wurde, deutet darauf hin. "Merke: Metadaten sind böse!", wurde dazu (z.B. von links) getwittert. Der Screenshot sagt aber doch nichts aus, wie dann etwa Stefan Fries bloggte: "Die angeblichen Beweise taugen aber nicht, um ihr", der FDP, "einen schon länger strategisch geplanten Abbruch der Gespräche vorzuwerfen".
Das Ganze ist nur eine unter vielen Subdebatten, die seit Sonntag laufen. Gut jedenfalls, dass Metadaten mal wieder ins Bewusstsein kommen. Ein wichtigerer Treppenscherz der Sondierungen besteht darin, dass durchs Jamaikakoalition-Scheitern die "fast schon historische Chance" verpasst wurde, die Vorratsdatenspeicherung abzuschaffen. Darauf hatten sich die verhandelnden Parteien bereits geeinigt, schreibt Markus Beckedahl (netzpolitik.org) mit Bezug auf die Stuttgarter Zeitung. Und in der üppigen Fernsehsondersendungs-Nachbereitung gestern abend haben es Jürgen Trittin und Angela Merkel bestätigt. Richtig schade sei das Scheitern netzpolitisch gesehen aber nicht, findet Beckedahl. Denn ansonsten sei von den Sondierern "lediglich fast dieselbe Themenliste, die durch die Lobby der IT-Industrie reingereicht schon immer von den früheren Regierungen Merkel verfolgt wurde", abgenickt worden.
Generell herrscht bunteste Meinungsvielfalt, nur zum Beispiel zwischen der Position, dass Angela Merkel zwar schuld sei am Scheitern, aber auch am meisten davon profitieren werde, weil sie "Krisen kann" (Elisabeth Niejahr, Wirtschaftswoche), bis zur krassen Merkel-muss-weg-(geht-aber-nicht)-Meinung, die der im Zweifel linke Debatten-Fuchs Jakob Augstein (nicht in seinem Freitag, sondern im reichweitenstarken SPON) um einen trendigen Gender-Aspekt bereicherte ("Neuerdings heisst es ja, dass Frauen immer gerufen werden, den Schlamassel aufzuräumen, den Männer hinterlassen. Wen ruft man, um hinter einer Frau aufzuräumen?"). Wobei es bei SPON natürlich mehrere Meinungen gibt, darunter auch eine erfrischende Widerlegung des in deutschen Diskussionen durchschnittlich wirkmächtigsten Arguments, irgendetwas sei schlecht für die Wirtschaft, das die Wirtschaft natürlich gleich vorbrachte. Der Wirtschaft kann die Lage egal sein, meint Stefan Kaiser.
Heißt: So wie die Parteien die lange Sondierungsphase nutzten, um die Unterschiede zwischen ihnen, die im müden Bundestags-Wahlkampf leider kaum zur Geltung kamen, herauszuarbeiten und performativ rüberzubringen, so zeigt nun, da die Lage ungewiss ist und es kaum Konsens gibt, sondern die Spins der unterschiedlichen Seiten heftig aufeinanderprallen, die reiche deutsche Medienlandschaft, dass auch sie viel differenzierter ist, als es in den Groko-Jahren mit der verwechselbar regierungsnahen Berichterstattung schien. Mit kenntnisreichen Detailanalysen, engagierten Kommentaren und in grooßen Seite drei-Reportagen (Es seien "lange noch nicht alle Geschichten erzählt aus diesen wahrhaft historischen Sondierungen", steigt die der SZ heute aus), überhaupt allen Formen, die die Medienlandschaft bietet, zeigen die Hauptstadtjournalisten, die zuvor ja zunehmend für ihren "Lungerjournalismus" (AP gestern) kritisiert wurden, was sie können.
Das ist der Vorteil. Der Nachteil: Die Lage ist ungewiss und es gibt weniger Konsens als es in den letzten Jahren schien.
Altpapierkorb (SatCab-Fragen, Talkopfer?, neue #MeToo-s, Neues vom MDR)
+++ "Für Europas Filmproduzenten steht alles auf dem Spiel" lautet die Online-Überschrift zum Aufmacher der FAZ-Medienseite heute. Per Interview mit dem Film- und Fernseh-Produzenten-Verbandschef Christoph Palmer versucht Michael Hanfeld, die Dramatik der heutigen EU-Parlaments-Abstimmung zur "Novelle der SatCab-Verordnung" und den schwierigen Frontenverlauf ("ARD und ZDF, SPD und Piraten im EU-Parlament und der Bundesverband der Verbraucherzentralen" sind für den Entwurf) deutlich zu machen. Das gelingt auch ganz gut.
+++ Rasch zurück in die Timeline am Sonntag abend: Wie verhielt sich die "Anne Will"-Talkshow, in der wie in den meisten Talkshows des Herbstes auch noch Jamaika betalkt wurde, zum Ablauf der Ereignisse? War der anwesende, auch für FDP-Verhältnisse unbekannte Johannes Vogel "gar das willige Talkopfer der Liberalen"? Fragt Joachim Huber im Tagesspiegel.
+++ Die Schlagzeilen "Filmreifer Abgang" und "Unorthodoxer Abgang" bekam nicht Christian Lindner, der sie sich womöglich gewünscht hat, sondern der Nicht-mehr-lange-ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling in den Wirtschaftsressorts der Zeitungen. Und muss darüber froh sein, schließlich wäre dieser Film reiner Slapstick (Altpapier). +++ "Von einem 'Begräbnis dritter Klasse' ist nun in Unterföhring die Rede" (SZ-Wirtschaft, heute). +++ "Die Ankündigung von Ebelings Ausscheiden im Februar hat die Aktie bereits um zehn Prozent beflügelt" (wuv.de). "Für den Börsenliebling, der Ebeling einst war, ist das ein vernichtendes Urteil" (FAZ-Wirtschaft). +++ "Darum ist die Personalie für ProSiebenSat.1 zunächst ein Befreiungsschlag", jetzt müsse ein "Manager, der für Inhalte 'brennt'", kommen, meint Christian Meier (Welt). +++ Bei dwdl.de gibt's nun eine große Ebeling-Chronik.
+++ Einer aus P7S1' inhaltlich besseren Zeiten, Nicolas Paalzow, ist nun "Chief Production Officer" der Pantaflix AG, die nicht nur alles mit Matthias Schweighöfer produziert, weil sie u.a. ihm gehört, sondern auch einen international erfolgreichen Streamingdienst betreibt (Medienkorrespondenz).
+++ Eine noch junge "Szene" auf Youtube, "die sinnlose, brutale und teils gewaltverherrlichende Videos" mit populären und im Originalzusammenhang harmlosen Comicfiguren produziert und auf "Kinder ..., die nach ihren Lieblingsserien oder -figuren suchen", zielt, ist Hauptthema der SZ-Medien. Hintergrund: Zumal auf Youtube wachsen "die Datenmengen ...täglich und sind längst zu groß, als dass alle Inhalte markiert oder gemeldet werden könnten", und der Algorithmus empfiehlt eben, wonach gesucht wird.
+++ Große Gruner+Jahr-Geschichte im FAZ-Wirtschaftsressort, online zusammengefasst: G+J "fürchtet Amazon und Facebook", lautet dort zwar die Überschrift, ist aber stolz darauf, dass sein chefkoch.de "die meistinstallierte Anwendung (Skill) unter Amazon Alex" sei, berichtet Jan Hauser.
+++ Neue #MeToo-s I: "Several women told Vox about their experiences with the star reporter", nämlich "NYT White House correspondent Glenn Thrush" (vox.com).
+++ Neue #MeToo-s II: "Die 'Girls'-Schöpferin Dunham steht in der Kritik. Sie hatte die Missbrauchsvorwürfe einer Schauspielerin als falsch zurückgewiesen" und sich nun dafür entschuldigt (taz).
+++ Neue #MeToo-s III: Jeffrey Tambor, der in der Amazon-Serie "Transparent" die Transgenderfrau Maura Pfefferman spielt, spielt nun wegen Vorwürfen gegen ihn dort nicht mehr mit (Standard).
+++ Neues vom MDR I: Die doofen Herzchen auf Twitter sind verdammt missverständlich. Siehe diesen Tweet von Jan-Henrik Wiebe, aber auch die Antworten darunter.
+++ Neues vom MDR II: "Die 'Heimattour'-Affäre erreichte ihren Höhepunkt, als der Veranstalter der MZ-Reporterin am Samstagabend Hausverbot erteilte und sie des Saales verwies". Diese Affäre könnte nun beendet sein, da sich der MDR "vom Veranstalter der Sputnik-'Heimattour' getrennt" hat (Mitteldeutsche Zeitung, siehe auch Neues Deutschland).
+++ Neues vom MDR III: Er hat nach Angaben seines Rundfunkrates "nun eine 'Höchstzahl von Produktnennungen für jede einzelne Gewinnausspielung festgelegt'. Wie hoch diese Zahl ist, konnte oder wollte ... der Sender auch nach mehreren Nachfragen" von uebermedien.de "nicht mitteilen". Und "geiles Teil" dürfen die öffentlich-rechtlichen Jugendsender-Moderatoren ein Iphone weiterhin nennen, sofern sie dabei nicht konkret werden.
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.