Das Altpapier am 30. Juni 2021 Public value, my ass!
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30. Juni 2021, 13:10 Uhr
Im Mittelpunkt stehen heute die Planungen, die sechs Politikmagazine im Ersten Programm der ARD um jeweils vier Ausgaben pro Sendung zu kürzen. Es drohe, wie Georg Restle sagt, ein "Angriff auf regelmäßige regierungskritische investigative Berichterstattung". Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- 24 unbequeme Sendungen weniger?
- Sinkende Frequenz = sinkende Wahrnehmung?
- Drohende Themenverengung
- Die Rolle der Mediatheken und die Optionen für Protest
- WDR-Rundfunkrat will Bettvorleger bleiben
- Altpapierkorb (die Verzweiflung einer Klimajournalistin und ein Dokumentarfilm über die Pandemie, der zwischen wahr und falsch zu unterscheiden weiß)
24 unbequeme Sendungen weniger?
Ende Februar erschien ein Altpapier unter der Überschrift "Schafft die ARD sich selbst ab?" Der erste Satz des Vorspanns lautete damals:
"Wenn Sendermanager verkünden, man müsse jetzt digitaler, crossmedialer, moderner, jünger werden - dann geht es fast immer darum, im weiteren Sinne unbequeme Inhalte zu marginalisieren oder aus dem Programm zu kippen."
Anlass für diese Formulierungen waren damals die Diskussionen über die drohende oder bereits stattfindende Verflachung der Kulturberichterstattung im Hörfunk - etwa beim WDR, RBB und HR. Wer diese Debatte bisher verpasst oder nur am Rande wahrgenommen hat: Dieser und dieser Beitrag des auf klassische Musik spezialisierten Online-Magazins VAN - beide ebenfalls aus dem März stammend - sind ein guter Einstieg.
Es scheint mir durchaus hilfreich zu sein, diese Debatte im Hinterkopf zu haben angesichts der aktuellen Überlegungen von ARD-Spitzenfunktionären, die sechs Politikmagazine des Ersten Programms zu schwächen. Die Magazine sollen nicht mehr 15-mal pro Jahr laufen, sondern noch seltener. Jedes Magazin, so die Überlegungen, soll um vier Ausgaben pro Jahr reduziert werden, die frei werdenden Sendeplätze sollen zumindest zum Teil mit Dokus gefüllt werden.
Stefan Niggemeier hat für Übermedien am Montagabend darüber geschrieben (am Dienstag war das an dieser Stelle bereits kurz ein Thema). Der Hintergrund der Pläne ist die mangelnde Attraktivität von Magazinen in den Mediatheken. Dort funktionieren monothematische Stücke besser, als die mit ihrem Rhythmus Moderation-Beitrag-Zwischenmoderation-Beitrag aufs klassische Fernsehen ausgerichteten Magazine.
Heute berichtet Lena Reuters für die SZ. Sie hat Stimmen eingeholt von einem Sprecher der ARD, der mitteilt, dass man sich gerade in "intensiven Beratungen zum digitalen Umbau" befinde - eine Formulierung, bei der es sich dann anbietet, noch mal das Zitat vom Beginn dieser Kolumne aufzugreifen. Der "digitale Umbau" - dessen Notwendigkeit kein Mensch bestreitet - scheint hier wieder ein Vorwand zu sein für einen inhaltlichen Umbau. "Monitor"-Redaktionsleiter Georg Restle warnt in dem SZ-Artikel angesichts der drohenden Reformen dann auch vor einer "Entpolitisierung und Trivialisierung des Programms".
Niggemeier schreibt in diesem Kontext:
"Geht es wirklich darum, nach zeitgemäßen Formaten für die digitale Welt zu suchen, oder will man auch lästige Redaktionen zurechtstutzen? Einige Politmagazine haben offenbar das Gefühl, bei der Senderführung nicht besonders beliebt zu sein, auch nicht bei den eigenen Intendanten. Die unbequeme Art der Berichterstattung sei nicht mehr gewollt, heißt es aus einer Redaktion."
Könnte das mit einem Mentalitätswandel unter den Intendant:innen zu tun haben? Die Zahl jener Intendant*innen, die sich gesellschaftlich-habituell jenen näher fühlen, über die die Politikmagazine kritisch berichten, als jenen, die diese Berichte machen, scheint mir größer geworden zu sein in der jüngeren Vergangenheit.
Sinkende Frequenz = sinkende Wahrnehmung?
Sollten die von Übermedien skizzierten Pläne umgesetzt werden, wären die Politmagazine linear schlechter auffindbar, weil die Sendungen noch seltener laufen als ohnehin schon. Dann sinkt möglicherweise die Reichweite. Und wenn die ARD es, bösartig formuliert, hinbekommen hat, die Zuschauerzahlen und Quoten zu senken, weil der Gewohnheitseffekt fürs Publikum nicht mehr so groß ist, wird sich leicht ein Angriffspunkt finden lassen, die Sendungen in Frage zu stellen.
Nun ist es ja schon jetzt so, dass die relativ geringe Frequenz der Magazine - gesendet wird bisher alle drei Wochen - es mit sich bringt, dass diese ihre Recherchen manchmal gar nicht in ihren Sendungen erstveröffentlichen können.
Aktuelles Beispiel: die Recherchen von "Report München" und Springers Welt über Embargobrüche deutscher Firmen, die Waffen für den Bürgerkrieg in Libyen liefern. Der Bericht der Zeitung (€) erschien am 23. Juni, am selben Tag berichtete BR 24 über "neue Recherchen des ARD-Magazins 'Report München' und der 'Welt'". Direkt davon profitieren kann die lineare "Report"-Sendung nicht: Die nächste Ausgabe kommt erst am 20. Juli. Dass die Zeitspanne in diesem Fall so groß ist, liegt unter anderem an der Fußball-EM. Aber dass die Redaktion eines TV-Politmagazins Recherchen viel früher veröffentlichen muss als es sendet, ist kein Einzelfall.
Kurzer Exkurs: Dass die anti-öffentlich-rechtlichen Aktivisten von der Welt mit der Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Politmagazins kooperieren, kann man überraschend finden. Die Erklärung ist wohl profan: Vorher hatte das Magazin Stern in Gestalt des Reporters Hans-Martin Tillack mehrfach mit "Report München" kooperiert, und Tillack hat diese Zusammenarbeit nach seinem Wechsel zur Welt dann gewissermaßen exportiert.
Drohende Themenverengung
Eine nähere Betrachtung verdient noch der oben bereits angedeutete Plan, dass "die betroffenen Redaktionen" für "einen Teil der wegfallenden Termine" Dokumentationen liefern sollen: "je zwei pro Format und Jahr" (Übermedien). Das klingt auf den ersten Blick natürlich nicht schlecht, ändert aber nichts daran, dass die Redaktionen diesen Überlegungen zufolge mindestens zehn Themen pro Jahr weniger abhandeln können. Bei der Berechnung gehe ich von drei Themen pro Sendung aus - obwohl oft genug vier Beiträge in einer Ausgabe untergebracht werden.
Jahreszeitlich bedingt bietet es sich an dieser Stelle an, darauf hinzuweisen, dass es nicht neu ist, dass Politikmagazine Dokus produzieren. Im Sommer jedenfalls tun sie es montags in der "Hart aber fair"-Pause unter dem Titel "Exclusiv im Ersten". An diesem Montag lief der erste Film der neuen Staffel: "Die Aserbaidschan-Connection", produziert von der Redaktion von "Report Mainz" (siehe dazu eine Rezension der Frankfurter Rundschau). In diesem Sommer kommen insgesamt nur vier dieser Filme (vermutlich EM-bedingt), 2020 waren es sechs.
Werfen wir mal kurz einen Blick auf die Themen der neuen Staffel: Aserbaidschan-Connection, Neonazi-Skins, AfD, Nawalny - das sind wichtige, aber in einem weiteren Sinne auch naheliegende Themen. Es mag wie eine Binse klingen, aber die Aufzählung macht auch deutlich, dass für die Themenauswahl für Politikmagazine und Dokus unterschiedliche Gesetze gelten. Politikmagazine sind zwar unter anderem dafür da, aktuelle, nahe liegende Inhalte in Hintergrundbeiträgen aufzugreifen. Aus meiner Sicht wichtiger ist es aber, dass sie sich um abseits der Wahrnehmung liegende Themen kümmern, um Themen, die in anderen journalistischen Fernsehformaten zu kurz zu kommen. Für eine Altpapier-Jahresendkolumne, für Kontext und Zeit Online haben ich zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Schwerpunkten Beispiele für die Stärken (und auch Schwächen) von Politikmagazinen benannt. Siehe dazu des weiteren eine Passage aus einem epd-medien-Interview mit Anja Reschke, die wir in einem Altpapier anlässlich des 60. Geburtstages von "Panorama" heraus gegriffen haben.
Als positive aktuelle Beispiele für die anderswo zu kurz kommende Themen hatte ich in dem Zusammenhang hier vor drei Wochen zwei "Panorama"-Beiträge genannt, aus anderen Sendungen fällt mir diesbezüglich etwa eine Recherche von "Kontraste" zu illegalen Geschäften deutscher Holzhändler ein, von denen das Regime in Myanmar profitiert.
Und wenn Georg Restle bei Twitter von einem drohendem "Angriff auf regelmäßige regierungskritische investigative Berichterstattung" spricht, dann ist mit Letzterem vielleicht dieser "Monitor" Beitrag über ein zahnloses Groko-Gesetz betreffend Steuergeschenke für Finanzinvestoren gemeint.
Hinzu kommt: Es gibt Themen, die für einen neun Minuten langen Magazinbeitrag gut geeignet sind, aber vielleicht nicht unbedingt für einen 30-Minüter im Ersten Programm. Das scheint mir für einen besonders wirkmächtigen "Panorama"-Beitrag über strukturellen Rassismus bei der städtischen Bremer Baugesellschaft Brebau zu gelten, der wenige Tage später zur Folge hatte, dass deren Geschäftsführung freigestellt wurde.
Die Pläne der ARD-Oberen brächten also sowohl eine Themenreduzierung als auch eine Themenverengung mit sich.
Die Rolle der Mediatheken und die Optionen für Protest
Wenn es in der Argumentation für die geplanten Veränderungen bei den Politmagazinen praktisch nur um das Mediatheken-Nutzungsverhalten geht, lohnt möglicherweise auch ein kurzer grundsätzlicher Blick auf Äußerungen von ARD-Oberen zum Thema Mediathek.
"Die ARD-Mediathek ist das neue Erste",
hat neulich der Jahrmarktschreier Martin Grasmück gesagt, der seit kurzem Intendant des SR ist (siehe Altpapier). Die möglicherweise radikalste Äußerung stammt von der HR-Programmdirektorin Gabriele Holzner, die vor einigen Monaten bei dwdl.de übers HR-Fernsehen sagte, man habe dafür "die Grundsatzentscheidung getroffen, lineare Formate sehr bewusst nur noch für die Zeitschiene zwischen 16 und 20 Uhr zu entwickeln oder weiterzuentwickeln" (siehe ebenfalls Altpapier). Der Rest: Zweitverwertungen von Sachen, die hauptsächlich für die Mediathek und entsprechend den dortigen Nutzungsgewohnheiten produziert werden.
Da wir heute über Politikmagazine und ihre mögliche Entwicklung reden, bietet es sich an, kurz zu skizzieren wie sich das HR-Politikformat "Defacto" entwickelt an. Holzner nennt es in dem eben erwähnten Interview noch "landespolitisches Magazin", doch das ist es, trotz möglicherweise regionaler Aufhänger, schon lange nicht mehr - siehe dazu die Sendungsthemen in dieser Chronologie, aus der hervorgeht, dass das Konzept im September 2020 auf 30-minütige Dokus umgestellt wurde.
Der HR sagt dazu auf Anfrage: "'Defacto' war schon vor Juni 2020 größtenteils monothematisch oder hatte größere Schwerpunkte in der Sendung, die von verschiedenen Perspektiven aus beleuchtet wurden. Die Reichweite von 'Defacto' im (linearen) hr-fernsehen am Montagabend lag unter dem Schnitt des hr-fernsehens auf der Zeitschiene um 20.15 Uhr. Aus diesem Grund wurde die Sendung damals in ein reportageartiges überwiegend monothematisches Format weiterentwickelt."
Auch wenn sich ein Drittes Programm in vielerlei Hinsicht nicht mit dem Ersten Programm der ARD vergleichen lässt: Angesichts dessen, dass fürs Erste Programm gerade darüber nachgedacht wird, Politikmagazine teilweise durch Dokus zu ersetzen, ist der Hinweis darauf, dass die HR sein Magazin vollständig durch "ein reportageartiges Format" ersetzt hat, durchaus angebracht.
Wie geht es weiter? Volker Lilienthal fordert eine öffentliche Diskussion ein, schließlich gehe es hier ja um "Public Value". Unser MDR-Kollege Arndt Ginzel wird ein bisschen philosophisch: Wenn es zu den von Übermedien beschriebenen Kürzungen komme, müsse man sich "allmählich die Sinnfrage" stellen, twittert er.
Für die Optimisten unter den Altpapier-Lesenden: 2019 ist es dank einer außergewöhnlichen Mobilisierung gelungen, die Umsetzung einer seltsamen Idee aus der ARD-Programmdirektion zu verhindern. Geplant war, den "Weltspiegel" auf 18.30 Uhr vorzuverlegen, doch 100 Auslandskorrespondenten protestierten mit einem Offenen Brief an die Intendanten und den damaligen ARD-Programmdirektor Volker Herres (siehe auch Altpapier).
Ob sich ähnlich viele namhafte Journalisten für die Politikmagazine auf die Beine bringen lassen, kann ich aber nicht einschätzen.
WDR-Rundfunkrat will Bettvorleger bleiben
Grundsätzlich werden dem öffentlich-rechtlichen Auftrag widersprechende Programmveränderungen auch dadurch begünstigt, dass jene Gremien, die die ARD-Anstalten kontrollieren sollen, de facto eher als eine Art Co-Management der Senderspitzen wirken.
Gerade schien sich zumindest beim WDR-Rundfunkrat eine kleine Wende anzubahnen. 21 von 60 Mitgliedern, "die sich zu keinem der beiden Freundeskreise rechnen - weder zu dem der SPD noch zu dem der CDU" (SZ von heute), hatten für Dienstag eine außerordentliche Sitzung einberufen, auf der kritisch debattiert werden sollte über das Thema Kulturauftragsvernachlässigung (siehe Altpapier von Montag). Aber:
"Die Mehrheit des WDR-Rundfunkrats hat ein Thesenpapier ziemlich harsch vom Tisch gefegt, das eine Minderheit seiner Mitglieder formuliert hatte",
berichtet die SZ. Und Oliver Jungen schreibt über die Sitzung in der FAZ (75 Cent bei Blendle):
"Man sollte denken, dass eine solche Vorlage in diesem Gremium stürmisch begrüßt würde, schließlich begreift sich der WDR nicht zu Unrecht als kulturaffiner Sender. Das Gegenteil aber war der Fall (…) Verärgert zeigte sich etwa die SPD-Politikerin Petra Kammerevert (…) (Es) dürfe (…) beim Sparen keine sakrosankten Bereiche geben. Damit war der Ton gesetzt. Nordrhein-Westfalen als 'Kulturland' zu bezeichnen sei eine 'Verengung', hieß es von anderer Stelle: Es handele sich auch um ein Industrieland und ein Sportland. 'Absolut rückwärtsgewandt' sei das Festhalten am Linearen."
Hätte nur noch gefehlt, wenn irgendein Eumel erwähnt hätte, NRW sei das "Land der Küchenbauer". Wie auch immer: Die Mehrheit des WDR-Rundfunkrates fühlt sich wohl in der Rolle als Tom Buhrows Bettvorlegers.
Altpapierkorb (die Verzweiflung einer Klimajournalistin und ein Dokumentarfilm über die Pandemie, der zwischen wahr und falsch zu unterscheiden weiß)
+++ Ihre Verzweiflung darüber, dass Klimajournalist:innen längst alles gesagt haben, was gesagt werden muss, und dennoch nichts Nennenswertes passiert ist - die bringt Sarah Miller in einem Beitrag fürs Nieman Lab zum Ausdruck. Sie schreibt: "It’s 109 degrees in Portland right now. It’s been over 130 degrees in Baghdad several times. What kind of awareness quotient are we looking for? What more about climate change does anyone need to know? What else is there to say? (…) Writing is stupid. I just want to be alive. I want all of us to just be alive. It is hard to accept the way things are, to know that the fight is outside the realm of argument and persuasion and appeals to how much it all hurts."
+++ Nils Minkmar schreibt in der SZ (€) über Volker Heises "herausragenden" Dokumentarfilm "Schockwellen – Nachrichten aus der Pandemie": "Der Film versteckt sich nicht in der Pluralität, sondern bezieht Position. Er zeigt, dass einige Personen - die Bundeskanzlerin zählt dazu, die nun berühmten Virologen wie Christian Drosten und Melanie Brinkmann - sehr früh das ganze Ausmaß der Gefahr erkannten. Aber wie, in welchem Medium hätten sie formulieren können, was zu erwarten ist und welche Maßnahmen zu treffen sind? Die Wahrheit der Wissenschaft und der Exekutive ist im kakophonen Chor der sozialen und der nonstop billige Meinung sendenden elektronischen Medien nur eine Stimme unter vielen. Auch hierzu dient dieser Film: Es gibt in den Fragen, die die Pandemie aufwirft, die Kategorien wahr und falsch. Die Postmoderne, in der jede Aussage gleichberechtigt neben der anderen steht, beweist ihre fatale Frivolität. Natürlich ist eine offene Gesellschaft darauf angewiesen, dass jede und jeder sagen kann, was so durch den Kopf rauscht - aber es muss auch Verfahren geben, die Geltung von Aussagen zu prüfen." Minkmar weist hier auf den zentralen Fehler hin, den so viele Journalisten seit 2020 machen. Dem Begriff "Postmoderne" würde ich in diesem Kontext aber nicht in Anschlag bringen. Weitere Besprechungen von "Schockwellen" sind im Tagesspiegel und in der FAZ {€) zu finden.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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