Teasergrafik Altpapier vom 29. Juni 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 29. Juni 2021 Klickt man auf "Erlauben", nimmt das Elend seinen Lauf

29. Juni 2021, 10:04 Uhr

Bundesministerien könnten auf eine ganze Menge Facebook-Fans verzichten müssen, falls sie ernst nehmen, was der Bundes-Datenschützer so sagt. Der Wahlkampf wird, wenn nicht heiß, dann zumindest äußerst umfangreich. Die Berichterstattung über die Würzburger "Messerattacke" zeigt das Problem der Angst vor Instrumentalisierbarkeit. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Der Wahlkampf wird ... umfassend

Hui, was für ein Wahlkampf. Wenn schon nicht Rezo Kanzlerkandidat Laschet zuzüglich Baerbock und Scholz zum Interview bekommt (Altpapier), dann doch die Brigitte alle drei für Solo-Termine. Also die gleichnamige, natürlich auch im Internet vertretene Zeitschrift (mit ihrer auch gleichnamigen Chefredakteurin Brigitte Huber). Am übermorgigen Donnerstag geht es mit Annalena Baerbock los. Und die Brigitte wird nicht etwa (oder nicht nur) ein Interview ins Heft oder Internet drucken, sondern das Gespräch per Bewegtbild streamen. Wie ein nicht unwichtiger Medienbeobachter gerade twitterte:

"Dieses dürfte das Jahr werden, in dem die 'Kanzlerkandidat:innen' sich häufiger medial verkaufen, als alle bisherigen Amtsbewerber seit 1949 zusammen."

Vielleicht ist die Zusage der drei ja eine schöne Geste an den wichtigen Traditionsverlag Gruner + Jahr oder an den Bertelsmann-Konzern (dessen Nachkriegs-Neugründer just heute hundert Jahre alt würde) oder an Bertelsmanns RTL, dessen künftige Pläne mit G+J ja noch unbekannt sind. Allerdings beansprucht RTL ja, "das erste Wahl-Triell" mit den dreien selbst senden.

Ob mit der Vielzahl der separat geführten Interviews und simultan gesendeten Wahlkampf-Trielle eher die Qualität des Diskurses steigt oder die Chance, dass Fragen und erst recht Antworten (die in der deutschen Spitzenpolitik ja nicht immer viel mit gestellten Fragen zu tun haben müssen) noch gleichförmiger werden, wird sich zeigen.

Medienpolitik spielt im Bundestagswahlkampf wenn überhaupt, dann eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist sie natürlich, schon weil es ja vor allem um die öffentlich-rechtlichen Anstalten geht, die wiederum in der Wahlkampf-Berichterstattung wichtig bleiben. Eine instruktive Übersicht über aktuelle medienpolitische Positionen der im Bundestag vertretenen Parteien erstellte Torsten J. Gerpott von der der Universität Duisburg-Essen für die FAZ-Medienseite am Samstag (€). Erwartungsgemäß enthalten die Wahlprogramme überwiegend blumige Formulierungen, gewiss auch im Wissen, dass in der Praxis eher Regierungskoalitionen in den Bundesländern Medienpolitik machen. Einen konkreten Ausblick gibt Gerpott dennoch:

"Die Union gibt nur schüchtern zu erkennen, dass sie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Konsolidierung anstrebt. Die Grünen bleiben diesbezüglich konturlos. Im Fall einer schwarz-grünen Bundesregierung werden die Beteiligten kaum mit Verve darauf dringen, ihr medienpolitisches Programm durchzusetzen, da es nicht zum Markenkern der Parteien gehört. Es dürfte deshalb zu einem 'Weiter wie bisher' mit allenfalls kosmetischen Reformen kommen. Sollten CDU/CSU, Grüne und FDP die Regierung tragen, wären die Medienreformer in der Überzahl und die Chancen besser, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einem fokussierten 'gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk' (MDR-Intendantin Karola Wille) wird ..."

Bundes-Facebook-Auftritte gehörten abgeschaltet

Wow, auch Bundesminister, deren Leistungen nicht sehr aus der aktuellen Groko-Bundesregierung herausragen, haben haufenweise Fans: "Das Bundesgesundheitsministerium von Jens Spahn kommt auf 391.000 Fans, das Auswärtige Amt von Heiko Maas auf 305.000" auf Facebook, hat spiegel.de gezählt.

Anlass ist ein Schreiben, das der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vor zwei Wochen "per E-Mail" an alle Bundesministerien und obersten Bundesbehörden sandte und nun zum Download als PDF öffentlich ins Internet stellte. Offenbar will Ulrich Kelber etwas bewegen. Zwar "mit freundlichen Grüßen", aber ausdrücklich "nachdrücklich" empfiehlt er, alle "Facebook-Auftritte von öffentlichen Stellen des Bundes" "bis Ende diesen Jahres abzuschalten". Und zwar, weil "ein datenschutzkonformer Betrieb einer Facebook-Fanpage gegenwärtig nicht möglich ist". Eine leichter klick- und lesbare Zusammenfassung des PDFs bietet netzpolitik.org.

Kern des Problems ist, dass es aus Facbooks Sicht eins ist, ob kommerzielle Firmen mit hohen Werbe- und PR-Budgets, Prominente oder Ministerien und andere Behörden sich selbst darstellen, um halt "Fans" sammeln. Facebook geht es vor allem darum, Vorlieben seiner Mitglieder, der potenziellen Fans von möglichst allem, zu sammeln und selber zu vermarkten. Das könnte auf einen größeren und aufschlussreichen Konflikt hinauslaufen, wenn Kelber ab 2022 "schrittweise von den mir nach Art. 58 DSGVO zur Verfügung stehenden Abhilfemaßnahmen Gebrauch" machen möchte. Denn "das Abschalten der Facebook-Präsenzen könnte die Bundesregierung erhebliche Reichweite kosten" (spiegel.de). Und in der Praxis geht es den Ministerien nicht zuletzt darum, für ihre Politik (und damit für die Parteien, denen ihre Minister angehören) zu werben.

Ein anderer aktueller Datenschutz-Fall betrifft den französischen Arzttermin-Dienstleister Doctolib, auf den derzeit in Berlin trifft, wer sich um einen Impftermin bemüht (was nicht ganz unkompliziert ist, andererseits: auch nicht komplizierter, als irgendwelche Amtstermine in Berlin zu ergattern). Das Portal mit dem vielleicht ein wenig onkelhaft anmutenden Namen mobilsicher.de, das aber über viele Themen in der Welt der mobilen Digitalgeräte gut und kompakt informiert, deckte auf, dass Doctolib Facebook und der auch nicht zurückhaltend auftretenden Werbefirma Outbrain seine Nutzerdaten weitergab. Also Gesundheits-/ Krankheits-Themen, "und zwar selbst bei sensiblen Themen wie einer Inkontinenzberatung beim Urologen oder der Mädchensprechstunde beim Frauenarzt." Das lag an den Cookies, denen zuzustimmen alle Internetanbieter ihre Nutzern per Consent-Kästchen drängen müssen. Wie mobilsicher.de es formuliert: "Im Test haben wir hier auf 'Erlauben' geklickt – und das Elend nahm seinen Lauf".

Was dann, wie wiederum netzpolitik.org meldet, die Berliner Beauftragte für Datenschutz aufrüttelte, da Berlin eben seinen Impfterminservice an  Doctolib vergeben hatte. Inzwischen liegen Reaktionen vor. Im ersten Update unterm netzpolitik-Artikel heißt es: "Doctolib hat uns via Twitter eine Stellungnahme geschickt", und wer auf den enthaltenen about.doctolib.de-Link klickt, lädt wiederum ein PDF-Schreiben runter (das ist offenbar die Kommunikationsform, die Behörden und ihre Auftragnehmer verstehen). Darin zeigt sich Doctolib leicht einsichtig: "Nach einer Diskussion mit Mobilsicher ... sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Verwendung dieser Cookies für Doctolib-Nutzer:innen von unserer Seite noch deutlicher hätte gemacht werden können".

Moral: Es hilft zwar keineswegs immer, lohnt sich aber, in den Consent-Kästchen trotz ihrer bewusst abschreckenden Formen zumindest gelegentlich hinabzuscrollen. Und es ist immer besser, statt der bunt hervorgehobenen Option "Zustimmen" oder "Alles klar!" lieber die andere, blassere auszuwählen.

Das Problem der Angst vor Instrumentalisierbarkeit

Mitten im heißen Sommer ist viel los, Wahlkampf wie gesagt und ein Fußballturnier. Kein Wunder, dass eine "Messerattacke" da wenig Schlagzeilen macht – schon weil dieser Begriff in der eigentlich durchaus auf Aufregung und Clickbait gepolten Medienlanschaft so unaufgeregt wirkt. Und für ein mehrfach mörderisches, potenziell massenmörderisches Gewaltverbrechen wie am Freitag in Würzburg gäbe es ja auch andere Begriffe.

Um eine kritische Meinung zu zitieren:

"Die Gleichsetzung von links und rechts verbietet sich aus vielen Gründen, aber wenn Frauen Opfer schwerer Gewalttaten werden, ähneln sich die Reaktionen eines Großteils beider Lager: Die Bereitschaft, Frauenhass als Motiv in Betracht zu ziehen und das Verbrechen als Politikum zu sehen, hängt erst einmal von Herkunft und Hautfarbe des Täters ab. Ist er weiß und westlich sozialisiert, sind es die Rechten, die darin entweder eine unpolitische "Beziehungstat" oder die Tat eines psychisch durchgeknallten Einzeltäters sehen - je nachdem, ob Täter und Opfer sich kannten. Patriarchale Denkweisen sind dann jedenfalls nicht schuld, denn die glaubt man im "christlichen Abendland" längst überwunden. Ist der Täter dunkelhäutig, sind es Linke, die erst einmal zur Entpolitisierung neigen, denn patriarchale Denkweisen gibt es zwar überall, aber in diesem Fall wäre der Hinweis auf ein solches Motiv ja von rechts instrumentalisierbar",

schreibt Claudia Wangerin bei Telepolis.

Über die Würzburger Mordtat wie weiterhin berichtet, durchaus auf prominenten Titel- und Startseitenplätzen, doch bemerkenswert unkontrovers. Die Süddeutsche etwa übernimmt heute auf ihrer Titelseite ("'Eklatanter Verdacht' auf islamistisches Motiv") direkt die Formulierungen der Söder-Regierung, der sie nicht immer nahe steht. Und berichtet größer dann sehr viel weiter hinten im Bayern-Ressort, das sich an Nichtbayern kaum richtet. Die taz zitiert, bevor sie ausführlich die Unterfinanzierung von "Hilfsangeboten im psychosozialen Bereich" beklagt, was Bayerns Innenminister Joachim Herrmann beim Springer-Fernsehsender Bild Live sagte (der jetzt, also im Wahlkampf, ja als "Fernsehvollprogramm" durchstarten möchte und auch darf) – ganz ohne die Reflexe, die sonst Springer immer (und oft mit Absicht) triggert. Tenor ist jeweils, dass weiter gründlich ermittelt werden muss, "ob und wie stark hier ein islamistischer Hintergrund dahintersteckt" (Herrmann), also neben den "psychischen Erkrankungen" des Gewalttäters, von denen früh die Rede war. Absehbar ist, dass dass dann, wenn es geklärt sein wird, kaum mehr interessiert. Geduld zählt ja wirklich nicht zu den Eigenschaften der digitalen Öffentlichkeit.

Genau die von Wengerin erwähnte Instrumentalisierbarkeits-Angst prägt die Berichte ungemein, selbst in Springers Welt (€), in der ein vierköpfiges Team im Rahmen einer großen Politik-Umfrage ratlos schreibt:

"Es wäre absurd, Medien, Behörden und Politik heute zu unterstellen, sie wollten den Täter gleichsam vom Vorwurf des Islamismus entlasten, indem sie auch und gerade einen Blick auf psychische Erkrankungen richten",

als käme alles, was "absurd" ist, für die digitale Öffentlichkeit nicht in Frage. Das Problem zu großer Angst vor Instrumentalisierbarkeit formuliert eher die taz:

"Es gibt anderseits eine Tendenz, solche Anschläge kleinreden zu wollen, weil man so vermeiden möchte, Rechtsradikalen und Populisten Futter für ihre rassistischen Vorstellungen zu liefern. Auch das ist falsch, es nährt nur die Mär von der gleichgeschalteten Öffentlichkeit",

kommentierte dort Klaus Hillenbrand. Da hat er recht und da müssen die Leitmedien verdammt aufpassen.


Altpapierkorb (ARD-Politmagazine, "brüsker Ton" der ARD, "Dokuboom", Stefan-Aust-Wochen, Augenrollen, "Belgien raus, Frankreich rein"?)

+++ Die Medien-Webseite uebermedien.de dreht gerade kräftig auf, auch in puncto Diversität, wie sie kürzlich unter anderem mit einem hübschen Namensaussprache-Scherz (dafür hier bis zum Ende lesen) unterstrich. Jetzt ist es aber Mitgründer Stefan Niggemeier, der mit einer für Mediendienste-Verhältnisse relativen Breaking News hervorprescht. Beratschlagt die ARD derzeit, ihre "Politmagazine vom kommenden Jahr an seltener auszustrahlen"? Also kaum, dass das traditionsreiche "Panorama" seinen 60. Geburtstag beging (Altpapier)? "Auf Anfrage von Übermedien bei den Sendern, ob die jeweiligen Intendanten für eine Verringerung der Schlagzahl der Magazine sind, wollte sich keiner äußern. Alle verwiesen an die Programmdirektion in München", die mit einer Power-Public-Value-Auskunft ("...  die Informationskompetenz in der ARD insgesamt zu stärken") nicht dementierte. Davon wird gewiss noch zu hören sein.

+++ Mit einem "Dokuboom", den große Produktionsfirmen wie Ufa, Constantin und die französische Banijay gerade empfinden (und der mit entspechenden ARD-Plänen korrelieren dürfte), befasst sich dwdl.de. "Fast alle aktuellen Dokumentationen über Fußballvereine, Sportler oder Popstars sind gehorsame Imagefilme", beklagt da Banijay-Vertreter Marc Schlömer zurecht.

+++ Auf den Offenen Brief der Hörspielautoren-Verbände an die Öffentlich-Rechtlichen (Altpapier) gibt's schon eine Antwort. "Trotz des zum Teil brüsken Tons signalisiert die ARD in ihrer Erwiderung ... auch Gesprächsbereitschaft. Sie lädt die Autorinnen und Autoren gemeinsam mit dem Verband der Bühnenverleger ein zu einem runden Tisch", berichtet Stefan Fischer ausführlich in der SZ.

+++ Neuer Höhepunkt der großen Stefan-Aust-Wochen (AP gestern): die 360-minütige Ufa-RTL-tvnow.de-Dokumentation über Angela Merkel. Erste Kritiken liegen vor. Der Tagesspiegel ist nicht ganz so begeistert wie die SZ.

+++ Noch einen Nachruf auf den ebenfalls gestern hier gewürdigten Andreas-Banaski/ Kid P. ("gab dem Popjournalismus eine neue Dimension an Seriosität und Tiefe") schrieb Andrian Kreye für die SZ.

+++ Unter der aktuell fußballerisch auffälligen Schlagzeile "Belgien raus, Frankreich rein" vermeldet die FAZ-Medienseite Komplett- und Teilverkäufe europäischer RTL-Gruppen-Aktivitäten. Siehe etwa auch dwdl.de.

+++ Der eben erwähnte Stefan Niggemeier bekundet dann noch bei uebermedien.de, "ganz gern" die schweizerische Weltwoche zu lesen, "vorwiegend als eine Art Trimm-dich-Übung. Hinterher habe ich zuverlässig ein angenehmes leichtes Schleudertrauma vom Kopfschütteln und Muskelkater vom Augenrollen". Und Augenrollen in Texte ummünzen kann Niggemeier ja.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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