Das Altpapier am 28. Juni 2021 Springer entdeckt neuen Solschenizyn
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28. Juni 2021, 14:23 Uhr
Stefan Aust bekräftigt seinen Ruf beim Thema Klimawandel. Die Welt am Sonntag löst mal wieder falschen Cancel-Culture-Alarm aus. Die Kritikwürdigkeit von Netflix liegt "ungefähr auf dem Niveau von Italien als Staat". Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Polizei-Schlagstock gegen dpa-Fotograf
- Aust spricht von "Klimakram"
- Ein Lebenszeichen der SPD?
- Netflix würde bei keiner "normalen Bank" ein Darlehen bekommen
- Welt am Sonntag druckt Blogbeitrag eines größenwahnsinnigen Banjospielers
- Nachrufe auf einen Pionier des radikal subjektiven Journalismus
- Altpapierkorb (Sondersitzung des WDR-Rundfunkrats in Sachen öffentlich-rechtlicher Kulturauftrag, Stigmatisierung psychisch Kranker, Springer müsste Scholl vor sich selbst schützen)
Polizei-Schlagstock gegen dpa-Fotograf
Wenn Journalist:innen auf Demonstrationen von der Polizei gewaltsam angegangen werden, versickert die Berichtererstattung normalerweise recht schnell. Mit den Attacken bei einer Demo in Düsseldorf am Samstag könnte es sich nun anders verhalten. Denn: Betroffen war auch ein Mitarbeiter der dpa, also eines Medienunternehmens mit bekanntermaßen recht beachtlicher Reichweite.
"Ein Fotograf der dpa berichtete, ein Polizeibeamter habe ihn mehrfach mit einem Schlagstock geprügelt. Mindestens ein weiterer Pressevertreter sei ebenfalls angegriffen worden. dpa-Chefredakteur Sven Gösmann sprach von einem 'nicht hinnehmbaren Angriff auf die Pressefreiheit'",
schreibt die taz. Der Fotograf selbst äußert sich im Kölner Stadtanzeiger (€). Wie viele Journalist:innen insgesamt angegriffen wurden, ist noch unklar. Das ND spricht von "mehreren". Neben dem dpa-Mann hat sich noch die Journalistin Nino Pandari als Opfer von Polizeigewalt zu erkennen gegeben.
Anlass der Demo war ein in der Koalition in NRW wohl noch umstrittener Entwurf eines Gesetzes zum Thema Versammlungsfreiheit, dessen Verfasser "sich gegen eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellen" und in dem die "weißen Overalls von Klimademonstrant:innen in einer Reihe mit Nazi-Uniformen von SA und SS" genannt werden (netzpolitik.org).
Obwohl es sich hier um eine Medienkolumne handelt, scheint es in diesem Fall sinnvoll zu sein, nicht nur auf angegriffene Journalist:innen einzugehen. Dazu noch einmal die taz:
"Demo-Sanitäter:innen zählten etwa 100 Verletzte, vor allem durch Schlagstöcke und Pfefferspray der Polizeibeamt:innen. Videos im Internet zeigen, wie Teilnehmer:innen von der Polizei bis in Tiefgaragen verfolgt und dort zu Boden gebracht wurden."
Letzteres bezieht sich im übrigen auf dieses und dieses Video - wobei das erste Vorgänge vor einer Tiefgarage zeigt und das zweite Vorgänge in einer Tiefgarage. Ob es dieselbe Tiefgarage ist und zwei Teile eines Vorfalls zu sehen sind, ist nicht hundertprozentig klar. Dass die Bilder eher nach Militärdiktatur aussehen als nach der Landeshauptstadt von Arministan, lässt sich aber schon sagen.
Wie auch immer: "Etwa 100 Verletzte" - das ist eine sehr hohe Zahl, egal ob an der Demo 3.000, 6.000 oder 8.000 Demonstrant:innen teilgenommen haben (die Angaben variieren). Gewiss, der Begriff "verletzt" ist ziemlich unpräzise (Margarete Stokowski neulich in einem anderen Zusammenhang). Aber, nur mal als Vergleich: 100 verletzte Demonstrationen gab es auch 2019 bei Protesten in Hongkong anlässlich des chinesischen Nationalfeiertags - dort waren aber "Zehntausende" auf der Straße (zdf.de, Zeit Online).
Aust spricht von "Klimakram"
Diese Woche ist mal wieder eine Stefan-Aust-Woche - denn ab morgen gibt es auf der RTL-Plattform TV Now seinen Fünfteiler "Angela Merkel - Frau Bundeskanzlerin" (was Anlass ist für ein Interview im aktuellen Stern, das es für 65 Cent bei Blendle gibt). Außerdem wird er am Donnerstag er 75 Jahre alt. Doku und Geburtstag sind wiederum Anlass für eine "Fotoalbum"-Rubrik mit Aust in der Wochenend-SZ (79 Cent bei Blendle). Außerdem erscheint an seinem Geburtstag ein Buch über den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, für das die von ihm herausgegebene Welt am Sonntag freundlicherweise bereits am 20. Juni mit einem zweiseitigen Vorabdruck (€) warb.
Seit Mai gibt es viele Aust-Wochen. Das Buch über Xi Jinping ist das dritte innerhalb von zwei Monaten, eines über Bob Dylan und die Autobiographie "Zeitreise" (die im Altpapier Thema war) gingen ihm voraus. Und fünf mal 45 Minuten über Merkel hat er ja auch hingekriegt.
Nicht zu vergessen die schon erwähnten Hauptbeschäftigung als Herausgeber von Welt und Welt am Sonntag, ein Knochenjob, der Normalsterbliche wie unsereins wohl an den Rand unserer Kräfte bringen würde. Bei zwei der drei neuen Bücher ist zwar ein Co-Autor dabei, aber Aust scheint mit seinen 75 Jahren ähnlich fit zu sein wie ein 25-jähriger Triathlet, er ist ein Hundertausendsassa, dessen Leistungsfähigkeit der medizinischen Forschung erstaunliche Erkenntnisse liefern dürfte.
Was Aust so erzählt in den Artikeln, die anlässlich seiner neuen Produkte erschienen sind, ist natürlich mal wieder far out - in einem negativen Sinne.
"Die Migration (…) ist ein Konjunkturprogramm für Rechtsradikale, schrieb ich 2015. So ist es gekommen",
erzählte er etwa der SZ. Abgesehen davon, dass, grob gesagt, Migration vor allem das Ergebnis von Verwerfungen ist, für die reiche Länder mittelbar oder unmittelbar verantwortlich sind: Die Rechtsradikalen brauchten nie ein "Konjukturprogramm", der Rechtsradikalismus hatte in der Bundesrepublik immer Konjunktur. Als Maßstab für die "Konjunktur" rechtsradikaler Positionen nimmt Aust offenbar die Wahlergebnisse der AfD (und da ist er ja nicht der einzige Journalist) - obwohl etwa die Leipziger Autoritarismus-Studie oder Wilhelm Heitmeyers Langzeitstudien diesbezüglich weitaus aussagekräftiger sind.
Bei der Lektüre der SZ erleben wir dann auch noch den bisherigen Höhepunkt von Austs Äußerungen zum Thema Klimakrise. Der Leugner des menschengemachten Klimawandels (Altpapier) bezeichnet die größte Krise der Menschheitsgeschichte (hier ein aktueller Text zum Thema) doch tatsächlich als "Klimakram".
Ein Lebenszeichen der SPD?
Am Freitag wählt der Fernsehrat Norbert Himmler oder Tina Hassel als Intendant oder Intendantin - und die Medienkorrespondenz und der Tagesspiegel sinnieren in diesem Zusammenhang über die Rolle der SPD.
Hassel, sagt Leder, habe keine nennenswerten Chancen, gewählt zu werden, weshalb er fragt:
"Warum aber ließ sie sich dann auf das Spiel des 'roten Freundeskreises' ein?"
Leders These: Es handelt sich bei Hassels Bewerbung nur um eine Art Vorbereitungstraining für einen späteren Wahlkampf. Er schreibt:
"Im WDR würde die zweite sechsjährige Amtszeit von Tom Buhrow im Juni 2025 auslaufen. Doch es mehren sich Gerüchte, dass Buhrow sein Amt womöglich schon früher aufgeben wird, beispielsweise nachdem er seinen 65. Geburtstag im September 2023 gefeiert hat. Als sein Nachfolger wird seit längerem Jörg Schönenborn gehandelt, Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung im WDR. Doch Schönenborn hat nicht nur Freunde im eigenen Haus (…) Tina Hassel hätte zudem auch deshalb große Chancen, da im WDR-Rundfunkrat mit dem Beginn seiner neuen Amtszeit am Ende dieses Jahres deutlich mehr Frauen als derzeit sitzen werden."
Um es zuzuspitzen: Der "rote Freundeskreis" im ZDF-Fernsehrat schickt die vermeintlich SPD-nahe Journalistin nur deshalb ins Rennen, damit sie später beim WDR, wenn es um die Nachfolge des vermeintlich nicht SPD-nahen Intendanten Tom Buhrow geht, gut gerüstet ist für eine Kandidatur gegen den vermeintlich nicht SPD-nahen Jörg Schönenborn.
Leder ordnet das Ganze so ein:
"Der Vorschlag muss (…) als eine Art von rhetorischer Übung betrachtet werden, mit dem der 'rote Freundeskreis' vielleicht ein letztes Mal angesichts der immer schwächer werdenden Wahlergebnisse der SPD seine Existenz und seine Bedeutung im ZDF-Fernsehrat und damit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beweisen kann (…) Was der SPD-Freundeskreis in Sachen ZDF-Intendantenwahl veranstaltet, sieht nach einer Machtdemonstration um der Macht willen aus. Ob das zum Nutzen des ZDF ist, scheint dabei eine nachgeordnete Frage zu sein."
Joachim Huber lässt im Tagesspiegel etwas mehr, sagen wir mal: Sympathie für die SPD anklingen als Leder:
"Der Wahltag am Freitag im ZDF ist (…) ein Triumph für die SPD. Die sozialdemokratische Partei kämpft ihre Wahrnehmung, wenn nicht um ihre Existenz. Für die anstehende Bundestagswahl werden um die 16 Prozent der Wählerstimmen prognostiziert, für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin zwischen 17 und 18 Prozent (…) Nun also die Intendantenwahl in Mainz: eine Selbstvergewisserung der SPD und der SPD-nahen, der rot-grünen Kräfte. Wir sind noch da, wir sind noch stark, wir bestimmen weiter mit, wer was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird."
Huber fragt aber auch:
"Ist das echte Macht oder nur eine echte Demonstration von Macht?"
Netflix würde bei keiner "normalen Bank" ein Darlehen bekommen
Einige neue Perspektiven auf die Debatte zur Lage und Zukunft des Fernsehens - unter anderem zum Verhältnis zwischen dem etablierten Fernsehen und den Streaming-Diensten - liefert Lothar Mikos, Professor für Fernsehwissenschaft in Potsdam, in einem Interview für den Blog der Buchreihe "Morgen – wie wir leben wollen". Mikos wirft dabei unter anderem einen Blick auf die finanziellen Rahmenbedingungen der Streaming-Produktionen:
"Netflix finanziert seinen Content, seine Filme und Serien, nicht über die Abonnementgebühren, wie man vielleicht denkt, sondern mit Geld aus dem Finanzkapitalmarkt (…) Netflix hat langfristige Schulden von über 35 Milliarden Dollar. Sie spekulieren auf den Aktienkurs, der sozusagen hochgejazzt worden ist. Netflix hat, seit sie streamen, finanztechnisch gesehen bis Ende 2020 einen negativen Cashflow. Sie finanzieren ihren Content darüber, dass sie Anleihen auf den Markt werfen, die von Investoren gekauft werden. Vor einem Dreivierteljahr hatten sie 32 unterschiedliche Anleihen am Markt, die alle mit zwischen vier und gut sechseinhalb Prozent hochverzinst waren. Das sind einerseits natürlich hochattraktive Anleihen, die auf der anderen Seite aber als Junk Bonds gelten. Die Kreditwürdigkeit von Netflix bei den Ratingagenturen wie Moody’soder Standard & Poor’s liegt ungefähr auf dem Niveau von Italien als Staat. Sie würden aufgrund der Einschätzung ihrer Kreditwürdigkeit bei einer normalen Bank kein Darlehen bekommen."
Und warum es mit der Popularität des "neuen" Fernsehens vielleicht nicht so weit her ist, wie es die Berichterstattung vieler Medienjournalisten und Feuilletonisten nahelegt, führt Mikos dann auch noch aus:
"Wenn man sich die Mühe macht und Einschaltquoten miteinander vergleicht, kommt man bisweilen zu erstaunlichen Ergebnissen. Die berühmte amerikanische Serie Mad Men hatte zur zweiten Staffel weltweit acht Millionen Zuschauer. Wenn man weiß, dass die Krankenhausserie ‚In aller Freundschaft‘ dienstagabends im Durchschnitt sieben Millionen Zuschauer*innen hat, dann ist das unglaublich wenig. Diese Art von amerikanischen Serien sind für ein besser gebildetes Publikum gemacht, das aber weltweit recht klein ist. Ein anderes Beispiel ist 'House of Cards' (…) Laut einer norwegischen Studie haben lediglich zehn Prozent der Abonnent*innen weltweit 'House of Cards' gesehen, eine Serie, über die sehr viel gesprochen wurde. Bei damals 120 Millionen Abonnent*innen weltweit macht das zwölf Millionen Zuschauer*innen. Da kann allein in Deutschland ein Münsteraner 'Tatort' locker mithalten."
Welt am Sonntag druckt Blogbeitrag eines größenwahnsinnigen Banjospielers
Am Donnerstag hat der Gitarrist und Banjospieler Winston Marshall die Band Mumford & Sons verlassen und dies in einem Blogbeitrag ausführlich begründet. Ben Mathis-Lilley wiederum bloggt dazu bei Slate - und nimmt dabei gleich ironisch die möglicherweise aufkommende Leserfrage vorweg, was diese Nachricht denn "in the political news section of this excellent website" zu suchen habe.
Ja, nun, und warum steht das jetzt auch noch im Altpapier? Weil die Welt am Sonntag Marshalls Blog-Beitrag so wichtig fand, dass sie ihn flugs übersetzte, um ihn auf ihrer Meinungs-Doppelseite "Forum" als Gastbeitrag (€) präsentieren und für die Seite Eins den Teaser "Cancel Culture: Ein Mann verlässt die Band, die sein Leben war. Warum?" zimmern zu können.
Im Online-Vorspann des WamS-Textes heißt es: "Nach dem Lob eines umstrittenen Buches auf Twitter" habe Winston Marshall "einen Shitstorm" abbekommen. Das war Anfang März. "Umstritten" ist natürlich eine niedliche Formulierung angesichts dessen, dass man Andy Ngo, den Autor des besagten Buchs, auch als "right-wing troll" einordnen könnte, wie es der Rolling Stone tut (also natürlich der amerikanische, nicht das deutsche WamS-Schwesterblatt). Oder, wie Mathis-Liley es tut, Folgendes schreiben:
"(Ngo) has been credibly accused of having a working partnership with (…) far-right white nationalist gangs, like the Proud Boys, with whom antifa groups often come into conflict."
Man braucht schon viel Fantasie, um auf der Seite Eins in dem Zusammenhang mit Marshall den rechten Kampfbegriff "Cancel Culture" unterzubringen. Schließlich schreibt dieser: "Trotz des Drucks, mich loszuwerden", habe die Band ihm "angeboten zu bleiben." Er habe aber mit dem Weggang seine "Bandkollegen schützen" wollen. Im Vorspann der deutschen Printfassung ist dann auch von einer "gütlichen" Trennung die Rede.
In der unglaublichsten Passage - die, nur um das noch mal zu betonen, in einer exponierten Rubrik im Politikteil einer deutschen Sonntagszeitung zu finden ist - vergleicht sich der Banjospieler mindestens indirekt mit Alexander Solschenizyn. Die Passage beginnt mit den Worten:
"Am Vorabend seiner Ausreise in den Westen 1974 veröffentlichte Solschenizyn eine Essay 'Nicht mit der Lüge leben.' Seit dem Vorfall Anfang März habe ich ihn viele Male gelesen."
Die Frage, was das zu suchen habe "in the context of a web post explaining the internal personnel dynamics of a band", wirft Slate auf. Man könnte aber auch die zugegebenermaßen etwas weniger subtile Frage stellen, ob Marshall unter Größenwahn leidet. Solschenizyn wurde aus der damaligen Sowjetunion ausgewiesen, Marshall hat sich entschieden, eine Band verlassen.
Nachrufe auf einen Pionier des radikal subjektiven Journalismus
Wer zu den geburtenstarken Jahrgängen gehört und sich journalistisch mit Popkultur beschäftigt hat oder es weiterhin tut, dürfte, falls er etwas taugt oder jemals getaugt haben sollte, von einem Mann beeinflusst sein, der sich Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre Kid P. nannte - und unter diesem Pseudonym für Sounds schrieb, "die damals einzige ernstzunehmenden Musikzeitschrift", wie Claudius Seidl in der FAZ schreibt. Sein Artikel hat einen traurigen Anlass, denn Andreas Banaski, wie Kid P. bürgerlich hieß, ist am Mittwoch vergangener Woche in einem Pflegeheim östlich von Hamburg, in dem er seit vielen Jahren lebte, gestorben.
Seidl schreibt weiter:
"Was Kid P. (…) schrieb, war in jeder Hinsicht maß- und hemmungslos, ungerecht, schwärmerisch, apodiktisch, laut; es klang, als ob er auf seiner Schreibmaschine nicht nur gigantische Synthie-Orchester, sondern auch noch die komplette Gefühlsklaviatur des Hollywood-Melodrams beschwören wolle – und das Erstaunliche war, dass die Leser genau darin, in dieser radikalen Subjektivität, die eigenen, womöglich noch ungeformten Haltungen schon entworfen fanden."
Detlef Diederichsen, der wie Banaski Autor bei der 1983 eingestellten Sounds war (unter dem Pseudonym Ewald Braunsteiner), würdigt den Verstorbenen in der Wochenend-taz. Dass Banaski, der 63 Jahre alt wurde, den "deutschsprachigen New Journalism mitgeprägt" habe, steht im Spiegel-Nachruf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Banaski - er hat als Dokumentar bei der Zeitschrift Tempo gearbeitet, bei der ich rund eineinhalb Jahre Redakteur war - zumindest letztere Einordnung nicht goutiert hätte, aber solche Gedanken kommen einem ja ohnehin recht oft beim Lesen von Nachrufen.
Altpapierkorb (Sondersitzung des WDR-Rundfunkrats in Sachen öffentlich-rechtlicher Kulturauftrag, Stigmatisierung psychisch Kranker, Springer müsste Scholl vor sich selbst schützen)
+++ Die SZ vom Wochenende macht gespannt auf eine Sondersitzung des WDR-Rundfunkrats am Dienstag: "Ausgangspunkt dieser Initiative von Teilen des Rundfunkrats sind Debatten, die Anfang des Jahres losgetreten worden sind und die bis heute andauern: über den Kulturauftrag und den Kulturbegriff der Öffentlich-Rechtlichen und speziell des WDR. Änderungen im Radioprogramm von WDR 3 sowie Gastbeiträge und Interviews des Intendanten Tom Buhrow und der für NRW, Wissen und Kultur verantwortlichen Programmdirektorin Valerie Weber in der Presse hatten teilweise für Irritation und Protest gesorgt (…) Es ist eine Diskussion, die längst nicht mehr bloß um das Verhältnis des WDR zu Kunst und Kultur kreist. Es geht ganz grundlegend um die Gestaltung des Programmauftrags." Wobei Letzteres ja auch wiederum ein Grund dafür ist, dass die dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen entgegen stehenden Veränderungen bei den ARD-Kulturradios sehr oft Erwähnung finden im Altpapier (zum Beispiel in diesem) - weil sie ein Menetekel sein könnten für "Reformen" in anderen Bereichen.
+++ Ronen Steinke kommentiert in der Montagsausgabe der SZ den teilweise stigmatisierenden Umgang mit dem Thema psychische Erkrankungen in der Berichterstattung über den Dreifachmord von Würzburg. "Es ist gut, wenn die Politik und die Sicherheitsbehörden jetzt im Fall des Würzburger Messerstechers, der drei Menschen getötet und mehrere teils schwer verletzt hat, ihr Augenmerk auch auf die psychische Vorgeschichte des Täters richten." Aber: "15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, so legen Studien nahe, erfüllen im Laufe eines Jahres mindestens einmal die Kriterien für eine psychische Erkrankung. Das ist nicht unnormal, es ist normal, und diese hohen Prozentzahlen gelten schon für den Durchschnitt der Bevölkerung, ganz zu schweigen von jenem Teil, der in Flüchtlings- oder in Obdachlosenunterkünften zu leben gezwungen ist (…) Psychotische Erkrankungen sind diejenigen Erkrankungen, die am ehesten damit einhergehen, dass ein Mensch für andere gefährlich wird, und auch das betrifft in Deutschland nicht wenige Menschen, sondern nach stabilen Erhebungen (…) eine Million Menschen. Von blutiger Gewalt sind die meisten von ihnen trotzdem weit entfernt."
+++ Harald Staun schreibt in der aktuellen Ausgabe der FAS-Kolumne "Die lieben Kollegen" (€): "Eine der traurigsten Figuren in der an traurigen Figuren reichen Promiexpertenriege dieser Europameisterschaft ist der ehemalige Nationalspieler Mehmet Scholl, der in Videos für die Bild-Zeitung in der Halbzeit und nach Abpfiff die deutschen Spiele kommentiert" und dabei "oft abwesend und ziemlich durcheinander herumnuschelt". Dass der frühere ARD-Experte "ein Bild des Jammers" abgebe und man sich um ihn "eher Sorgen machen" müsse, schrieb vor ein paar Tagen bereits die Abendzeitung. Staun bemerkt außerdem: Bei den Verantwortlichen der Sendung "Jetzt kommt Scholl" scheine sich "niemand an Scholls Zustand zu stören". Den Subtext könnte man so zusammenfassen: Medien haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Mitarbeiter, und die beinhaltet eben auch, dass diese gegebenenfalls vor sich selbst geschützt werden müssen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.
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