Das Altpapier am 14. Juni 2021 Fußball- als Krisenberichterstattung
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14. Juni 2021, 09:08 Uhr
Der Zusammenbruch eines Fußballspielers vor laufenden Kameras war eine Bewährungsprobe für übertragende Sender. Wie berichtet man im Echtzeit-Fernsehen verantwortungsvoll von einem krisenhaften Geschehen, wenn man nicht einmal eigene Kameras nutzen kann? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Publikumsinteresse und Voyeurismus-Gefahr
Gut, dass es im Journalismus auch eine Berichterstattung nach der schnellen Meinung gibt. Einen Tag nach der hurtig herausgeballerten Großthese sieht die Welt oft genug nochmal ein wenig anders aus.
Am Samstagabend, nachdem während eines Europameisterschaftspiels in Kopenhagen ein dänischer Fußballer zusammengebrochen und auf dem Platz reanimiert worden war, fand Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, dass das ZDF eine "eklatante Fehlentscheidung" getroffen habe, die aufgearbeitet werden müsse: "Journalismus darf nicht derart voyeuristisch sein." Es sei "unerträglich, dass bei der Live-Übertragung im Fernsehen lange Zeit die Reanimation des Fußballers gezeigt wurde. Das ist unverantwortlich und widerspricht der journalistischen Ethik."
Die Sprache der starken Meinung. Was tags darauf, am Sonntag, dazu geschrieben und gesagt wurde, scheint mir für den medienethischen Diskurs allerdings dann doch ergiebiger. "Das ZDF schien angesichts der Ereignisse in Schockstarre zu verfallen", fand zwar auch der Tagesspiegel. "Denn als die Helfer auf dem Spielfeld um das Leben des Dänen Christian Eriksen kämpften, ließ die Sendeleitung das Bild minutenlang einfach weiter laufen." Aber die Frage ist doch: warum? Weil beim ZDF lauter Zyniker oder Anfänger arbeiten? Nein, die Erklärungen und Differenzierungen, die Ralf Wiegand in der gedruckten Montags-SZ (online für Abonnenten am Sonntag) anbietet, führen auf ein anderes Gleis:
"Die Bilder, die (ZDF-Kommentator Béla) Réthy fortan zu kommentieren hatte, lieferte der europäische Fußballverband Uefa, der die Übertragungen selbst produzieren lässt. Was in den Livebildern gezeigt wird, darauf haben die angeschlossenen Sender und Streaming-Dienste keinen Einfluss, sie können nicht selbstständig zwischen den einzelnen Kameraperspektiven wechseln. Den Schnitt der Bilder macht die Weltregie, so heißt das. Was die Sender aber entscheiden können, ist, ob sie drauf bleiben oder nicht. (…) Das ZDF stieg ungefähr nach fünf Minuten aus der Liveübertragung aus."
Das war, womöglich, nicht schnell genug. Aber es war zum Beispiel deutlich vor der BBC. Und das dänische Fernsehen, das dafür gelobt wurde, schnell in eine Helikopterperspektive zu schalten, arbeite unter Bedingungen, die für das ZDF in diesem Fall nicht galten. Es hatte, weil das Spiel in Kopenhagen stattfand, "eine eigene Kamera, das ist das Privileg des Gastgebers", schreibt Wiegand.
Kurz also: Die Alternativen, vor denen das ZDF stand, bestanden im a) Draufbleiben und im b) Wegschalten. Die Alternative, andere Bilder zu zeigen, gab es dagegen nicht.
Das ist das eigentliche und ein fortdauerndes Problem, das deshalb auch größer ist als dieser Einzelfall: Man muss sich bei solchen Turnieren auf die Bilder des Veranstalters verlassen. Dass das kein Idealzustand ist, merkt man immer dann, wenn in einem anderen Fußballstadion ein Flitzer nicht dabei zu sehen ist, wie er in Unterhosen über den Platz rennt. Daran erkennt man, dass die Veranstalter im Zweifel im eigenen Interesse entscheiden, welche Bilder sie für ausstrahlenswert halten.
Das ZDF, wie gesagt, entschied sich am Samstag fürs Wegschalten – nicht zu früh, aber meines Erachtens auch nicht verantwortungslos. Es schaltete vom Stadion in ein Studio, in dem mit Christoph Kramer und Per Mertesacker zwei sehr geeignete, weil mit menschlichen Regungen ausgestattete Fußballexperten saßen. (Es hätte, nur mal zum Beispiel, auch Mario Basler sein können.) Kramer und Mertesacker verweigerten dort zusammen mit Moderator Jochen Breyer jede Spekulation. Das hebt Peter Ahrens bei spiegel.de hervor, der deshalb findet, dass das ZDF diese Bewährungsprobe "mit Abstrichen" bestanden habe:
"Mit dieser Ausnahmesituation umzugehen, gerade in den Augenblicken, als noch niemand wusste, wie es um Eriksen steht, ob er überhaupt überlebt, dann durch eine Sendung zu führen, den Versuchungen des Voyeurismus, der Spekulation zu widerstehen, das haben Breyer und seine Gäste hinbekommen."
Eine bleibende Frage für Journalismusseminare lautet, zitiert nach Ralf Wiegands SZ-Text: "Wieviel berichtest du von einem Geschehen, dessen Verlauf alle Welt wissen will, und wann erklärst du das Öffentliche zum Privaten?" Es gibt darauf keine einfache Antwort. Richtig kompliziert wird die Frage, wenn man bedenkt, dass es hier galt, verantwortungsvoll und in Echtzeit von einem krisenhaften Geschehen zu berichten, obwohl man nicht einmal eigene Kameras vor Ort nutzen konnte.
Dass es auch Redaktionen gab, die, obwohl sie nicht in der schwierigen Echtzeit-Entscheidungssituation der live übertragenden Fernsehsender steckten, zweifelhafte, weil voyeuristische Entscheidungen trafen, darauf weist etwa das Bildblog hin. Oder Jürn Kruse im Übermedien-Newsletter vom Sonntag:
"Beim WDR in Köln, bei der 'Aktuellen Stunde', müssen sie sich derweil gedacht haben, dass es eine gute Idee wäre, Eriksens Zusammenbruch in einer MAZ zusammenzuschneiden, zu betexten und auch noch auszustrahlen. Inklusive allem: den Sekunden nach Eriksens Fall, als Mannschaftskollegen erste Hilfe leisteten; Bildern aus der Spidercam (dieser Kamera, die an Seilen über dem Spielfeld fliegt), auf denen klar zu sehen ist, wie Eriksen regungslos auf dem Rasen liegt. Dazu die Moderation: 'Seine Mannschaft versucht, diese Szenerie abzuschirmen.' Ja, warum wohl?!? (…) (Z)u diesem Zeitpunkt, es war 19.24 Uhr, die 'Aktuelle Stunde' war 39 Minuten alt, wusste man nicht, ob Eriksen überleben würde."
Am Ende ist es wohl so, wie die SZ schreibt: "Der Zusammenbruch des dänischen Spielers Christian Eriksen hat TV-Sender auf eine schwere Probe gestellt. Nicht überall hat man sie so gut bestanden wie beim ZDF."
Der Reformvorschlag: Wurf oder Würfchen?
Dass die Öffentlich-Rechtlichen seiner Meinung nach weniger Fußball zeigen dürften, hat der Chef der Staatskanzlei Schleswig-Holstein, Dirk Schrödter, kürzlich in einem Interview angedeutet (Altpapier vom Freitag). Von Fußball nicht die Rede ist nun im Interview der Süddeutschen Zeitung (Abo) mit Heike Raab, der Staatssekretärin für Medien in Rheinland-Pfalz, die der Rundfunkkommission der Länder vorsitzt. Das Oberthema des Interviews ist allerdings hier wie da dasselbe; es geht um die Reform des Auftrags der Öffentlich-Rechtlichen.
Interviews zu solch schwer darstellbaren Themen sind manchmal nur schwer konkret zu betiteln. Man sieht das hier. "Es verändert sich etwas ganz Entscheidendes" lautet die Überschrift. Es ist aber auch wirklich kompliziert: Heike Raab sagt, man wolle den Auftrag nicht zu genau fassen:
"Wir als Mediengesetzgeber wollen einen rechtlichen Rahmen schaffen, in dem freie und unabhängige, demokratische Medienschaffende Vielfalt sichern."
Einen Rahmen schaffen zu wollen, das heißt im Umkehrschluss so viel wie: Wir werden nicht das Bild malen. Überschriftentaugliche Sätze wie "Fußball gehört nicht zum Auftrag von ARD und ZDF" oder "Die Politik will mehr 'Bares für Rares'" werden in einem solchen Interview deshalb kaum fallen können.
Was aber ist das "ganz Entscheidende", das sich laut Heike Raab verändern soll? Sie sagt:
"Während in der alten Version der Auftragsbeschreibung immer nur davon die Rede war, dass der Auftrag aus Bildung, Information, Kultur und Unterhaltung bestehen soll, haben wir jetzt zum ersten Mal alle Nutzerinnen und Nutzer in den Blick genommen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss für alle da sein, das heißt, er muss alle Generationen erreichen. Das ist eine riesengroße Aufgabe. Wir haben zwar den Kinderkanal und Funk, aber wir haben dazwischen Altersgruppen, die sind vielleicht ein Stück aus dem Blick geraten. Die breite Mehrheit der Nutzer ist heute in einer fortgeschrittenen Lebenssituation, und diese Altersstruktur muss durch andere Angebote und Ausspielwege breiter werden."
Geht das alles weit genug, ist das groß genug gedacht und angelegt? Interviewerin Claudia Tieschky scheint da etwas skeptisch zu sein. Ist der nun vorliegende Reformvorschlag, "ein Wurf oder nur ein neues Würfchen?", fragt sie an einer Stelle im Interview. Und wenn Heike Raab dann antwortet, man liege "im guten Mittelfeld" – dann klingt das doch eher nach Würfchen.
Altpapierkorb (Onlinekommentare, kalkulierte Empörung über eine Rede von Carolin Emcke, ein "GEZ-Rebell", Aushöhlung des "Doku"-Begriffs, ARD-Abgänge)
+++ MEDIEN360G, die MDR-Redaktion, bei der wir vom "Altpapier" angedockt sind, hat ein neues Dossier veröffentlicht. Diesmal geht es um Onlinekommentare als "Chance, in den direkten Dialog mit den Nutzern zu treten", aber auch als Herausforderung für Redaktionen. In aller Befangenheit: Ich habe das Dossier mit Gewinn gelesen und angeschaut.
+++ Harald Martenstein versteigt sich im Tagesspiegel (Plus) zu einer beeindruckenden Armseligkeit: "Jana aus Kassel ist nun ein zweites Mal aufgetreten, diesmal auf dem Parteitag der Grünen, in Gestalt der Publizistin Carolin Emcke." Emcke – das steckt dahinter – hatte am Freitag dort eine Rede gehalten. Danach wurde ihr von Bild-Medien vorgeworfen, den Holocaust verharmlost zu haben. Die Welt am Sonntag zitierte aus der Rede: "...vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen." Das ist allerdings nur der zur These passende Teil der entscheidenden Redepassage.
Ronen Steinke verteidigt Emcke in der Süddeutschen Zeitung: "In ihrer Rede hat Emcke, die auch regelmäßige Autorin der SZ ist, im leicht akademischen Sound etwas Zutreffendes beschrieben. Eine der größten Bedrohungen für den demokratischen Diskurs heute sei die systematische Desinformation und Hetze von rechts, die sich nicht nur unter dem Label der 'Querdenker' immer wieder gezielt gegen bestimmte Gruppen von Menschen richte."
Zwei Threads von Jonas Schaible (Spiegel) und dem in Zürich tätigen Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi ("kalkulierte Instrumentalisierung") möchte ich darüber hinaus zur weitergehenden Lektüre empfehlen. Außerdem die Einschätzung des Zentralrats der Juden: "Die Debatte um @C_Emcke nimmt zwischenzeitlich völlig unangemessene Züge an. Es ist Zeit diese Debatte rasch zu beenden."
+++ Susanne Lang reportiert für Übermedien die nicht rundum falsche, aber völlig überdrehte Geschichte eines sogenannten "GEZ-Rebellen"
+++ Altpapier-Kollege Christian Bartels beschäftigt sich in seiner Medienkorrespondenz-Kolumne mit der weitergehenden Aushöhlung des "Doku"-Begriffs: "Dokus, die zur Hälfte mit nachgestellten Szenen arbeiten, 'dokumentieren' allenfalls auf der Tonebene etwas. Sie benötigen eine andere Genre-Bezeichnung – oder besser noch eine Selbstverpflichtung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, den Anteil an Reenactments in dokumentarischen Sendungen auf ein vertretbares Maß zu begrenzen."
+++ "Fast im Monatstakt meldete die Konkurrenz zuletzt das Abwerben prominenter Köpfe der ARD", schreibt Peer Schader in seiner DWDL-Kolumne und hat, nach all den spontanen Deutungen, die es schon zu lesen gab, eine Idee, woran es liegen könnte: nicht in erster Linie am Geld, auch nicht allein an der Informationsoffensive der Privaten. Sondern an einem strukturellen Problem des ARD-Verbunds.
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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