Das Altpapier am 27. Mai 2021 Legale Kriminalität
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27. Mai 2021, 13:22 Uhr
Der bald 75-jährige Stefan Aust versucht sich in einem Zeit-Interview an einem launigen Ausweichmanöver. Die Bild-Zeitung zeigt mal wieder unverpixelte Unglücks-Opferbilder. Die Antischwurbler fühlen sich vom Tagesspiegel "vor den Bus gestoßen". Ein Altpapier von René Martens.
Herr Aust und Herr Gauland
Wenn ich jemandem aus meinen privaten oder beruflichen Bubbles die Frage stellen würde, ob Stefan Aust "mit zunehmendem Alter reaktionärer" werde, werden die meisten wohl antworten: Das ist doch eine rhetorische Frage.
Die Antwort fällt natürlich anders aus, wenn man Stefan Aust selbst fragt. Die Zeit hat es in einem in ihrer aktuellen Ausgabe erschienenen Interview (€) getan:
"Werden Sie mit zunehmendem Alter reaktionärer?"
Von Alterdiskriminierung kann hier übrigens keine Rede sein kann, denn in wenigen Wochen wird Aust 75 Jahre alt - was wiederum ein Anlass dafür ist, dass am kommenden Montag Austs Memoiren erscheinen (unter dem sensationell originellen Titel "Zeitreise"). Weshalb es halt nun dieses Zeit-Interview gibt.
Nun aber zu Austs Antwort:
"Nee. Ich sehe die meisten Dinge heute kein bisschen anders als früher. Aber die öffentliche, besser gesagt: die veröffentlichte Meinung hat sich geändert."
Das mit Austs vermeintlicher Nicht-Veränderung kennt man doch irgendwo her, oder? Ja, aus dem 70-Jahre-Aust-Interview der Zeit. Auf die Frage, wer sich denn "über die Jahre mehr verändert" habe, die Zeitung, deren Chefredakteur er damals (2016) war und deren Herausgeber er heute ist (also Springers Welt) oder er, antwortete er:
"Ich habe mich kaum verändert, glaube ich wenigstens."
Nun kann man von jemandem, der schon viele Interviews gegeben hat, nicht erwarten, dass er jedes Mal etwas völlig Neues erzählt. Kein Wunder also, dass er im Zeit-Interview von 2016 über seine Regentschaft beim Spiegel sagte, die Auflage sei "über 13 Jahre einigermaßen stabil geblieben", und dass er im Zeit-Interview von 2021 sagt, das Magazin hätte "damals noch eine sehr hohe, stabile Auflage" gehabt.
Das interessanteste Recycling betrifft das Thema Klimawandel. Die Zeit-Redakteure Cathrin Gilbert und Stefan Schirmer fragen unter anderem unter Bezug auf das, was Aust in dem Gespräch vorher zu dem Thema gesagt hat:
"Sind Sie sich bewusst, dass man in Ihren Kommentaren eine Nähe zu 'Querdenkern' erkennen kann? Die Partei im Bundestag, die beim Klimawandel so weit geht wie Sie, ist die AfD."
Dazu Aust:
"Ich begebe mich nicht in deren Nähe. Aber wenn Herr Gauland sagt, es regnet, dann scheint deswegen noch lange nicht die Sonne."
Mit diesem so launigen wie unbeholfenen Ausweichversuchsmanöver zitiert Aust aber nicht sich selbst, sondern Sahra Wagenknecht (die ja, wie Aust, früher auch mal links war, wenngleich auf andere Art als er). Sie sagte jedenfalls 2016 in einem taz-Interview:
"Wenn es regnet, und die AfD sagt, es regnet, werde ich nicht behaupten, dass die Sonne scheint."
Dass die Zeit-Redakteure Aust eine implizite Zustimmung zu "Herrn Gaulands" klimapolitischen Positionen abgerungen haben, ist natürlich lobenswert. Obwohl die Nähe für Austismus-Exegeten nicht überraschend ist - kress.de hat in einer Interviewzusammenfassung noch mal an einen diesbezüglichen Tweet Stefan Niggemeiers von 2019 erinnert.
Mindestens so viel wie in dem langem Zeit-Gespräch erfährt man über Austs gegenwärtigen ideologischen Standpunkt übrigens im vorletzten der regelmäßigen Interviews mit dem Hamburg-Teil der von ihm herausgegebenen Sonntagszeitung, in dem der Springer-Hierarch Hans-Georg Maaßen verteidigt - womit er wiederum seine 2018 eingeschlagene Linie fortsetzt (vgl. dazu erneut Niggemeier). Warum Aust, der ja eigentlich Rechtsextremismus-Experte ist, zum "Steve Bannon von Thüringen" nichts anderes einfällt - das wäre eine Frage gewesen, die die Zeit-Interviewer vielleicht auch noch hätten stellen können.
Solingen reloaded
Neue Begriffe zu finden, die das Wirken der Bild-Zeitung bzw. deren Entwicklung beschreiben - das ist zugegebenermaßen keine unknifflige Aufgabe. Im September 2020 habe ich das an dieser Stelle so gelöst, dass ich den im Kontext des Londoner Prozesses gegen Julian Assange (mal wieder) aktuellen Slogan "Journalismus ist kein Verbrechen" mit dem von einem Samira-El-Ouassil-Text inspirierten Gedanken verknüpft habe, dass Journalismus manchmal durchaus ein Verbrechen sein kann, nämlich zum Beispiel dann, wenn er von der Bild-Zeitung stammt. Konkret ging es damals um die Berichterstattung um einen Fünffach-Mord in Solingen, vielleicht reicht das Stichwort "WhatsApp-Nachrichten", um sich an den Fall zu erinnern.
Einen ähnlichen Schlenker könnte man heute wieder machen. "Journalismus ist kein Verbrechen" ist angesichts der Entführung des belarussichen Bloggers Roman Protassewitsch (siehe dazu auch den heutigen Altpapierkorb sowie das Altpapier von Mittwoch) gerade mal wieder aktuell, und ein neues Verbrechen der Bild-Zeitung ist auch gerade in den Timeline präsent: Die Veröffentlichung unverpixelter Fotos von Opfern eines Seilbahn-Absturzes - siehe dazu den Bildblog, der auch darlegt, warum es letztlich keinen Unterschied macht, dass "die Familie das Foto freigegeben hat”.
Um das Thema fürs Erste abzuschließen: Die Besonderheit der Verbrechen, die die Bild-Zeitung und ihre nicht-analogen Ableger begehen, besteht darin, dass es für diese keine nennenswerten Sanktionen gibt. Freunde des Stilmittels Oxymoron könnten in diesem Sinne von legaler Kriminalität sprechen.
Warum wir ehrenamtliche Rechercheure brauchen
Es liegt in der Natur dieser Metakolumne, dass Themen, die hier zwei, drei Tage, manchmal vielleicht auch eine Woche lang dominieren, dann aus unserem Blickfeld verschwinden, wenn andere Medien nicht mehr berichten. Man kann dieses ungeschriebene Gesetz natürlich auch mal ignorieren. Daher will ich im Folgenden versuchen, zumindest skizzenhaft die Berichterstattung zu #allesdichtmachen zu bilanzieren.
"Was wirklich hinter #allesdichtmachen steckte", lautete Ende April die Überschrift eines Spiegel-Artikels (€), und außer dem Nachrichtenmagazin haben sich bis heute nur zwei mit dieser Fragestellung befasst: netzpolitik.org und der Tagesspiegel.
Dass Letzterer zu den Strukturen hinter der Aktion recherchiert hatte, kam bei den üblichen Verdächtigen nicht gut an: Springers Welt war dabei (siehe Altpapier), meedia.de, die Achse des Guten (kein Link natürlich an dieser Stelle) - wenn man ein derartiges Dösbaddel-Bündnis gegen sich aufbringt, weiß man, dass man sehr viel richtig gemacht haben muss. Dieses gute Gefühl dürfte den Autoren des Textes allerdings vergangen sein, als die Tagesspiegel-Chefredaktion anfing, den Artikel schlecht zu reden, für ihren Kurs aber bloß periphere Argumente nannte, die den Kern der Recherchen gar nicht tangierten. Dieser Selbstdemontageversuch äußerte sich dann auch noch in nachträglichen Korrekturen, die nicht zwingend sinnreich anmuteten.
Am 11. Mai gab es im Rahmen der Aufbereitung der eigenen Berichterstattung auch eine vom Tagesspiegel organisierte Diskussion (Altpapier), in der mich ein "Nachsatz" der Moderatorin und stellvertretenden Chefredakteurin Anna Sauerbrey stutzig gemacht hat. Dabei geht es um die Recherche-Gruppierung Antischwurbler, die an dem Text beteiligt war. "Man hätte sagen müssen, dass sie eine Quelle unter vielen war", es sei "nicht richtig" gewesen, "dass wir sie zu Autoren gemacht haben". Beziehungsweise: Sie hätten "nicht in der Tagesspiegel-Autorenzeile" stehen sollen. Da ich zu dem Zeitpunkt unter anderem einen Teil der Texte kannte, die die Antischwurbler bei publikum.net veröffentlich hatten, fragte ich mich, wie jemand auf die Idee kommen konnte, fachkundigen Autoren ihren Autorenstatus abzusprechen.
Mir schien es angesichts dessen angezeigt, mal mit jemandem von den Antischwurblern zu sprechen. Seine Reaktion: Die Antischwurbler hätten 40 Prozent des Tagesspiel-Textes geschrieben, und wenn sie nicht in der Autorenzeile gestanden hätten, hätten sie ihr Material zurückgezogen. Mit anderen Worten: Der Text wäre nicht erschienen. Sauerbrey habe die Antischwurbler am Ende des Talks "ohne Not vor den Bus geschubst", sagte mir der Kollege.
Es wird weiterhin viel Detailarbeit brauchen, jene im Blick zu behalten, denen es gelungen ist, sich in den vergangenen 14 Monaten als "Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Maßnahmen" ("Tagesschau"-Jargon) zu Szene zu setzen, die aber dann, wenn Corona an Bedeutung verloren haben wird, auch weiterhin im Debattengeschäft werden mitmischen wollen, nur dann halt mit anderen Themen. Und da braucht man Recherchekollektive wie die ehrenamtlich arbeitenden und vom Tagesspiegel verprellten Antischwurbler. Dafür braucht man zivilgesellschaftliche Organisationen, die nach journalistischen Kriterien arbeiten, aber nicht nach journalistischen Gesetzesmäßigkeiten. Heißt: Sie haben Zeit, sich Monate lang einem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern - oder unter falschem Namen in Telegram-Gruppen der Querdenken zu operieren -, ohne unter dem Druck zu stehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas abliefern zu müssen. Sie können es sich leisten, Geduld zu haben - was Journalist*innen sich aus strukturellen Gründen eben nur selten erlauben können.
Ich erwähne den Umgang der Tagesspiegel-Chefredaktion mit den Antischwurblern auch deshalb, weil es jüngst zumindest entfernt ähnliche Fälle gab. Vor zweieinhalb Wochen löschte Anne Will einen von ihr verbreiteten Thread des Accounts UnionWatch zum Thema Hans-Georg-Maaßen. Das Posting sei ein "Fehler" gewesen - was insofern irreführend war, dass an dem Thread, der eine Zusammenstellung von Links enthielt, nichts Fehlerhaftes war. Die Betroffenen haben darauf damals mit einem Offenen Brief an Will reagiert.
Und dann gab es kürzlich noch die Versuche von Welt-Redakteuren, gegen das Faktencheck-Portal Volksverpetzer anzustinken, das zwar "emotional" und "reißerisch" sein mag (so das Medienmagazin journalist kürzlich), aber trotzdem zuverlässige Arbeit abliefert. Die Angriffe führten u.a. dazu, dass CDU-Politiker den Volksverpetzer verteidigten (der den gesamten Komplex in eigener Sache ausführlich aufdröselte).
Nun unterscheiden sich zwar Antischwurbler, UnionWatch und Volksverpetzer in vielen Details. Was sich aber sagen lässt: Sie liefern allesamt wichtige Impulse für jene, die früher mal Gatekeeper waren - oder vielleicht sogar glauben, dass sie es immer noch sind.
Altpapierkorb (Unwort "indische Mutante", Anti-Biontech-Kampagne, Medienunfreiheit in Belarus, Sportdokumentarfilmgeschichte, MDR-Reihe "exactly")
+++ Warum es "einen Unterschied" gibt zwischen Begriffen wie "chinesisches Virus" und "indische Mutante" einerseits und "britische Variante" andererseits - das erläutert Samira El Ouassil in Ihrer Kolumne für @mediasres: "Dass die eine Formulierung für manche Menschen gefährlich sein kann und für andere nicht, liegt daran, wie Rassismus historisch betrachtet, aber auch praktisch im Alltag funktioniert. Denn Menschen können asiatisch gelesen werden und werden aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale rassistisch diskriminiert. Jemanden jedoch rein phänotypisch als ‚britisch‘ zu lesen und ihn deshalb zu diskriminieren – das ist schwer möglich. Aufgrund der naheliegenden Gefahr, dass solche Benennungen und ihre Assoziationen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit kultiviert, ist es also abzulehnen, die Corona-Mutante B.1.617 zu einer ‚indischen‘ zu erklären."
+++ Wie "eine Scheinfirma mit besten Verbindungen nach Russland" Influencer*innen und auch Journalist*innen für eine Desinformationskampagne gegen den Impfstoff von Biontech/Pfizer zu gewinnen versuchte (und dabei anfangs erfolgreich war) - das haben netzpolitik.org und das ARD-Politikmagazin "Kontraste" recherchiert.
+++ Im Aufmacher der FAZ-Medienseite (75 Cent bei Blendle) gibt Felix Ackermann anlässlich des heute schon erwähnten Kidnappings des Journalisten Roman Protassewitsch einen Überblick über die Unfreiheit der Medien in Belarus: "Lukaschenko lenkt mit seiner eigenen Interpretation von Staatsterrorismus die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die systematische Einschränkung der Menschenrechte und Pressefreiheit in dem von ihm seit 1994 regierten Land. In Belarus sind zum Zeitpunkt der Verhaftung von Protassewitsch schon 34 Journalisten in Haft. Dreizehn von ihnen sind für das führenden Internetportal tut.by tätig, das bis zum 18. Mai die wichtigste Quelle unabhängiger Nachrichten in der Republik Belarus war. Der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigung Unabhängiger Journalisten, Barys Haretski, erklärt über Telegram, dass die systematische Säuberungswelle nun die digitalen Räume mit großer Reichweite erreicht habe."
+++ Dass Leni Riefenstahls Dokumentarfilm "Olympia. Fest der Völker / Fest der Schönheit", also "ein weitgehend von nationalsozialistischer Ideologie durchsetzter Film, das Genre des Sportdokumentarfilms" konstituiert habe, schreibt Dietrich Leder in dem von ihm mit herausgegebenen Buch "Die Entstehung des Mediensports. Zur Geschichte des Sportdokumentarfilms", das ich für die Medienkorrespondenz besprochen habe. Unter anderem die zitierte Passage vermittelt womöglich einen Eindruck davon, dass dieses Buch nicht nur für Sportdokumentarfilmnerds lesenswert ist. Im letzten längeren Altpapier-Part zur, sagen wir mal: Riefenstahl-Debatte kommt ebenfalls ein Leder-Text vor.
+++ Unser MDR hat seit wenigen Wochen so etwas Ähnliches am Start wie "Strg_F". Die Reihe heißt "exactly", und Leser*innen, die mit der MDR-Produktpalette nicht so vertraut sind, sei hier kurz erläutert, dass es sich bei dem Titel um eine Anlehnung an "Exakt" handelt, das hauseigene Politmagazin aus dem Dritten Programm. Paul Fenski schreibt für Übermedien (€) dass die Themen von "exactly" "nicht unüblich für Investigativ-Formate" seien, "die auf ein junges Publikum abzielen. Es überrascht kaum, dass alle Themen so oder so ähnlich schon von den Konkurrenzformaten im funk-Netzwerk aufgegriffen wurden." Ich habe von den bisher fünf "exactly"-Filmen drei gesehen und würde einen empfehlen wollen: "Kampf gegen die Kohle – und dann?"
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.
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