Das Altpapier am 19. Mai 2021 There’s No Business Like Fake Business
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19. Mai 2021, 13:15 Uhr
Die gedanklichen Verrenkungen Armin Laschets in Sachen Hans-Georg Maaßen sind spektakulär. Die Welt gewinnt dank Falschdarstellungen neue Abonnenten. Die Kulturreportage erlebt (im Netz!) eine Renaissance. Ein Altpapier von René Martens.
Laschets magische Kräfte
Armin Laschets Satz "Mir sagen nicht Virologen, welche Entscheidungen ich zu treffen habe", ist jetzt etwas mehr als ein Jahr alt. Aus aktuellem Anlass könnte man ihn etwas abwandeln:
"Mir sagen nicht Antisemitismusforscher, was antisemitische Äußerungen sind."
So ließe sich zusammenfassen, was der Kanzlerkandidat der CDU über den Fall Maaßen sagt (oder besser: den derzeit meist diskutierten Unterfall des Falls Maaßen, es werden bis zur Bundestagswahl ja noch zig Unterfälle dazu kommen). Die diesbezüglichen Äußerungen Laschets bei Pro Sieben (Altpapier von Dienstag) sind weiterhin Gegenstand ausführlicher Kritik. Jonas Schaible kommentiert für den Spiegel
"Laschets Argumentation geht (…) im Kern so: Würde Maaßen antisemitische Codes verbreiten, wäre er Antisemit, und wäre er Antisemit, müsste er die CDU verlassen, aber er muss die CDU nicht verlassen, also kann er kein Antisemit sein, demnach kann er auch keine antisemitischen Codes verbreiten. So etwas nennt man Zirkelschluss. Nun könnte man spekulieren, ob Laschet weiß, was er tut und warum er es tut, ob er begriffsstutzig ist oder strategisch. Das ist aber unerheblich."
Das Ergebnis, so Schaible, sei nämlich unter anderem, dass Antisemitismus nun "schwerer zu kritisieren (ist), weil es auf einmal um innere Überzeugungen geht, die niemand von außen erkennen kann".
Es sei "schon spektakulär, welche gedanklichen Verrenkungen er an den Tag legte", schreibt Samira El Ouassil in ihrer Übermedien-Kolumne (€) über Laschet.
"(Seine) offensive Loyalität erinnert mich an die Verteidigung des Fleischbarons Clemens Tönnies durch Kolleg*innen und Verbände, nachdem dieser öffentlich verkündet hatte, dass man in Afrika Kraftwerke bauen sollte, damit afrikanische Kinder nachts keine Bäume mehr pflanzten – oder so ähnlich. Sofort sprangen sie Tönnies zur Seite, um eifrig zu beteuern, dass er doch deshalb kein Rassist sei, nur weil er etwas Rassistisches gesagt habe. Das war vor zwei Jahren und wir drehen tatsächlich bis heute immer noch diese diskursiven Schleifen und Ablenkungsmanöver: Dieser Essentialismus, der behauptet, die gesamte Existenz einer Person werde auf ein Schlagwort wie 'Sexist', 'Rassist' oder 'Antisemit' reduziert, sobald man in die Richtung gehendes Verhalten thematisiert."
Die Folgen dieser "Ablenkungsmanöver":
"(Das) führt dazu, dass man sich mit den Details (der Kritik) nicht weiter beschäftigt – und vielleicht ist genau das die Intention.
Denn so werden wir uns nie auf die tatsächlichen Vorwürfe konzentrieren.
El Ouassil geht dann auch auf den von Schaible schon benannten Aspekt "innere Überzeugungen" ein:
"Wie in aller Welt könnte man beweisen, dass eine Person etwas nicht ist? Dass sie eine bestimmte Haltung, Einstellung oder Meinung nicht mit sich herumträgt? Es ist ja zauberhaft, dass Laschet auf magische Art weiß, dass Maaßen 'innerlich' kein Antisemit ist. Aber diese Aussage führt zu einer Unauflöslichkeit der ganzen Debatte und zu einer fast schon dadaistischen Kritikresistenz: Er kann keine antisemitischen Inhalte verbreitet haben, denn Laschet weiß einfach, dass Maaßen tief in seinem Innern kein Antisemit ist, und weil Maaßen kein Antisemit ist, kann er ja keine antisemitischen Inhalte verbreitet haben – und die problematischen Begriffe, die er verwendet hat, auch nicht bewusst verwendet haben, so die tautologische Argumentation. Aber es führt nicht weiter, zu versuchen, irgendwie das vermeintliche innere Wesen einer Person zu verhandeln. Eine Lösung kann nur sein, die Handlungen und Taten einer Person öffentlich zu bewerten.
Wobei es daran auch in vielen anderen Kontexten mangelt: All zu viele Journalist*innen und Politiker*innen verlassen sich gern auf die Selbstauskünfte von Personen. Wenn sie oder er sagt: "Ich bin doch kein …" oder "Ich bin doch nicht …" oder "In meinem Freundeskreis sind viele …" oder andere Personen über den Kritisierten sagen: "Er hat noch nie …" oder "Ich kenne ihn seit Jahren als …" - dann ist für viele Meinungsmultiplikatoren die Sache schon erledigt, dann spielt plötzlich keine Rolle mehr, wie jemand handelt und in welchen Strukturen er agiert. Das erklärt zumindest zum Teil, warum Laschet bei dem oder anderen Journalisten mit seiner Strategie durchkommt.
Augsteins Anekdoten
Das Schreiben dieser Kolumne ist eine sehr angenehme Arbeit, aber einige wenige unangenehmen Begleiterscheinungen gibt es dann doch. Zum Beispiel, dass man gelegentlich einen Blick werfen muss auf die bestenfalls erratischen Kolumnen, die Franziska Augstein seit Anfang des Jahres für den Spiegel schreibt. Ich hatte im Januar an dieser Stelle eine erwähnt - und im April auf eine Art #allesdichtmachen-avant-la-lettre-Humor hingewiesen, der eine andere Kolumne von ihr geprägt hatte.
Stefan Niggemeier erwähnt bei Übermedien (€) nun einen der "Umwege", die Augstein in ihrer aktuellen Kolumne geht (und übrigens auch in anderen). Er fasst diesen "Umweg" zusammen, ich zitiere hier mal Augstein pur:
"In den Neunzigerjahren hatte ich gedacht, Neonazis seien gegen den Rechtsstaat und gegen die bundesdeutsche Demokratie und ihre Gesetze, mit einem Wort: gegen unseren Staat. Dann erhielt ich eine Lektion. Das sei so nicht richtig: Neonazis hielten korrekte, staatliche Ordnung für sehr wichtig, weshalb sie sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Straßen halten würden. Später war ich bei Freunden auf dem Land eingeladen. Einer warnte mich telefonisch, bevor ich mich ins Auto setzte: Aufpassen möge ich, es gebe einige Blitzanlagen auf dem Weg. Meine Antwort: Er müsse sich keine Sorgen machen, ich würde fahren wie ein Neonazi. Davon abgesehen, dass der Mann verblüfft war, das zu hören: Was hatte ich damit gesagt? Hatte ich mich mit Neonazis gemein gemacht? Nein. Denn: Es ist möglich, sich an die Regeln der Straßenverkehrsordnung zu halten, ohne dass man ein Neonazi ist. Ebenso sollte es möglich sein, die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu kritisieren, ohne rechtsradikal oder ein entgeisterter Idiot zu sein. Leider haben sehr viele in unserem Land das nicht begriffen."
Mit bewundernswerter Freundlichkeit nennt Niggemeier das eine "erstaunliche Anekdote" - und weist noch schnippisch darauf hin, dass Augstein nicht "ohne rechtsradikal oder ein entgeisterter Idiot zu sein", sondern "ohne als rechtsradikal oder Idiot abgestempelt zu werden" gemeint haben dürfte.
Um es mit Kristof Schreuf zu sagen: Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarettenfabrik. Nur so viel (und Augsteins Ideologie mal außen vor gelassen): Unter anderem mit Blick auf die private, ziemlich krude Anekdote aus "den Neunzigerjahren", die hier als Basis dient für einen sich durch missglückte Launigkeit auszeichnenden Einstieg, würde ich ganz altmodisch anmerken, dass die Kolumne formale Qualitätsstandards unterschreitet, die beim Spiegel nicht unterschritten werden sollten.
Zum Teil schief, zum Teil falsch, zum Teil nicht belegt
#WeltGate, nächste Runde: Irene Berres und Nina Weber haben für den Spiegel eine ausgeruhte und ausführliche Kritik zu den Vorwürfen verfasst, die ein Forscherteam um Matthias Schrappe und Letzterer in einem Welt-Interview an die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) gerichtet haben (Altpapier). Berres/Weber kritisieren "zum Teil schiefe, zum Teil falsche, zum Teil auch nicht belegte Theorien dazu, dass die Lage auf den Intensivstationen nie auch nur annähernd so dramatisch war, wie medizinisches Personal sie darstellte". Zu anderen Passagen finden sie noch halbwegs nette Worte ("inhaltlich nicht falsch, aber schlecht eingeordnet").
Berres/Weber gehen auch darauf ein, wie die Falschdarstellungsverbreiter auf die Kritik reagiert haben:
"Die aktualisierte Version (des Thesenpapiers) beginnt nun mit einer längeren Anmerkung zu den Nachbesserungen. Die Gruppe, die anderen Personen Zahlenmanipulationen unterstellt, hat es selbst mit den Zahlen nicht so genau genommen. Sie schreibt dazu lapidar: 'Vielen Dank! – Für weitere Anregungen sind wir sehr dankbar.'"
Und taz-Redakteur Malte Kreutzfeldt schreibt bei Twitter:
"Immerhin: Nach dem #Schrappe-Interview mit den zahlreichen falschen Aussagen hat die @welt jetzt einen Faktencheck veröffentlicht, in dem sie seine zentralen Vorwürfe zum Großteil als unberechtigt einstuft."
Als in einem anderen Zusammenhang - aber um Corona ging es auch -, der HR und unser MDR einen Beitrag erst nachträglich einem Faktencheck unterzogen, habe ich an dieser Stelle geschrieben:
"HR und MDR wirken hier wie eine Werkstatt, die bei einer Inspektion schwerwiegende Mängel an einem Auto übersieht und sich dann kurz nach einem schweren Unfall zur Reparatur des Fahrzeugs entschließt."
Während für seriöse Medien wie den HR und MDR Falschberichterstattung ein "Unfall" ist es, ist es das für Die Welt aber eben nicht. Im Gegenteil: Für sie hat sich die Falschberichterstattung in Sachen Intensivmedizin gelohnt. Der Medieninsider (€) jedenfalls meldet:
"Fact-Checker und Nutzer sozialer Netzwerke wittern bei Ulf Poschardts Welt ein Kalkül, mit verschwörungstheoretischen Ansätzen auf Abonnentenfang am rechten Rand zu gehen. Aktueller Aufhänger ist die Berichterstattung über ein Thesenpapier zur Auslastung von Intensivbetten, das laut dem Fact-Checking-Portal Volksverpetzer 'grundlegend fehlerhaft und unvollständig‘ sei. Kalkül hin oder her, nach Medieninsider-Recherchen lässt sich sagen: Die Berichterstattung, die bei Twitter zum #WeltGate führte, stellte hinsichtlich der Abo-Abschlüsse neue Rekorde auf."
Wahrscheinlich singen die Redakteure der Welt jetzt zu Beginn ihrer Zoom-Konferenzen immer: "There’s no Business like Fake Business."
Aus dem Leistungschutzrecht Limonade gemacht
Am gestrigen Dienstag ist in Deutschland Facebook News gestartet, offiziell zumindest, denn, so Jannis Brühl auf der heutigen Medienseite der SZ:
"Das Ausrollen der Funktion auf alle Handys und Computer wird sich über Wochen ziehen."
Es handelt sich hier um einen separaten Feed, der journalistische Inhalte bietet, obwohl ja auch der normale Feed schon journalistische Inhalte liefert, es sei denn, man hat sein eigenes Freundschafts- und Abonnierverhalten konsequent darauf ausgerichtet, dass man keine journalistischen Inhalte zu sehen bekommt.
Wenn das "Ausrollen" abgeschlossen sei, werde, so Brühl, für alle Facebook-Nutzer
"ein neues Symbol am Bildrand (zu sehen sein): eine kleine Zeitung, die beim Antippen blau wird (…) Die Artikel werden vor allem von einem Algorithmus ausgewählt. Er soll lernen, welche Themen Leser besonders interessieren. Ganz oben in 'News' stehen allerdings zwei bis drei 'Themen des Tages', die Journalisten auswählen. Dabei kommt Springer eine Schlüsselrolle zu. Denn die Journalisten, die die Texte kuratieren, arbeiten in einem speziellen Team der Springer-Tochter Upday. Deren Hauptprodukt ist eine Nachrichten-App, die auf Samsung-Smartphones vorinstalliert ist. Was bedeutet, dass Springer-Mitarbeiter über die Präsentation von Artikeln anderer deutscher Verlage entscheiden."
Alexander Fanta schreibt für netzpolitik.org unter der Überschrift "Tanz den Axel Springer":
"Facebook (schafft) für journalistische Inhalte (…) ein eigenes Silo. Die Presseverlage, die dort Content anbieten, erhalten ihr Geld unabhängig davon, ob dieses Feature bei den Nutzenden tatsächlich beliebt ist. Die Strategie teilt Facebook mit Google, das mit News Showcase im Vorjahr ein ähnliches Programm startete."
Auf die politischen Dimensionen geht Fanta mit folgenden Worten ein:
"Rein geschäftlich mag es sich für Konzerne wie Google oder Facebook nicht lohnen, Verlagen Milliarden für Inhalte zu zahlen, die sie auch so verlinken könnten. Doch durch die Deals mit ausgewählten Medien in einigen Ländern können die Konzerne rechtlichen Forderungen auf Lizenzzahlungen entgehen, wie sie das australische Mediengesetz und das EU-Leistungsschutzrecht schaffen. Statt Pflichtzahlungen abzudrücken, haben Google und Facebook die Initiative ergriffen und aus der Zitrone Leistungsschutzrecht Limonade gemacht, indem sie sich kuratierte Inhalte sicherten."
Die Metapher der Woche hätten wir damit dann immerhin schon mal.
Und Peter Weissenburger zieht für die taz folgendes Fazit:
"Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise des Journalismus sind diese Ansätze wenig visionär: Eine Art journalistischer Mini-'New Deal' nach den Bedingungen der Plattformen, sowie mit dem Leistungsschutzrecht eine Art altbackene Kopiergebühr. Eine Presseförderung, die den Anforderungen einer digitalisierten Welt gerecht würde, ist dagegen nicht in Sicht. Eine solche würde – staatsfern und unabhängig von den größten Playern – einen Fonds einrichten, in den einzuzahlen man auch Profiteure wie Facebook verpflichten könnte."
Angesichts von #WeltGate kann man im Zusammenhang mit Facebook News und Springer natürlich noch mal kurz erwähnen, was Sheryl Sandberg, die Co-Geschäftsführerin des US-Unternehmens gerade gesagt hat:
"Durch die Einführung von Facebook News und die globale Partnerschaft mit Axel Springer können wir den Menschen eine noch größere Auswahl an verlässlichen journalistischen Inhalten von einer Vielzahl an Medienmarken bieten."
Verlässliche Inhalte? Bitte jetzt diesen Tusch besonders laut abspielen!
Altpapierkorb (Renaissance der Kulturreportage, True Crime sucks, 35 Jahre "Großstadtrevier")
+++ Warum die Kulturreportage - ein Genre, das im linearen Fernsehen keine nennenswerte Rolle mehr spielt - online nun eine Art Renaissance erlebt, beschreibe ich heute in der taz. Es geht unter anderem um die vom "Kulturjornal" des NDR produzierten Filme "Koloniales Erbe und Raubkunst: Was tun?" Und "'Nie mehr leise': Für mehr Sichtbarkeit und Vielfalt in der Kultur"
+++ Margarete Stokowski argumentiert in ihrer aktuellen Spiegel-Kolumne, dass True Crime lediglich "Boulevard für Besserverdienende" sei - egal, ob dieser nun in Zeitschriftenform oder in Podcasts präsentiert werde. Sie greift in dem Zusammenhang folgendes Beispiel auf: Das Magazin Stern Crime zeigt auf der Titelseite eine nackte Frau, die sich die Hände vors Gesicht hält, dazu die Worte: 'Die Sklavin'. Die Titelstory handelt von einem Professor, der eine drogenabhängige Frau entführt und foltert. Im Heft: Weitere Fotos des nackten Models vom Titel, Brüste, Hintern, na klar, Bildtyp 'Kunstfilm-Porno'. Aus dem Text: 'Sie ist 22 und keine klassische Schönheit. (...) Sie ist ungebildet. Er ist schlau, schlauer als alle, die er kennt. (...) Es ist, als hätte der Englischprofessor Bill Cathey ein Stück Literatur zur Realität werden lassen.'"
+++ Mit dem Film "Großstadtrevier – St. Pauli 06:07 Uhr" feiert die ARD heute auf Ihren Spielfilm-Sendeplatz den 35. Geburtstag der Vorabendserie "Großstadtrevier". Axel Weidemann nimmt das in der FAZ (75 Cent bei Blendle) zum Anlass für eine Würdigung: "Stets schimmerte etwas Provinzielles im 'Großstadtrevier' durch, ins Positive gewendet: Der Kiez, nicht als Modebegriff für den noch nicht gentrifizierten Einzugsbereich übersättigter Städter, sondern als Verweis auf die Stadt als zusammengeschobener Haufen aus Dörfern, in denen man sich und seinen Schutzmann, respektive seine Schutzfrau kennt. Das garantiert der Serie ihre große Beliebtheit."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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