Teasergrafik Altpapier vom 4. Mai 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 4. Mai 2021 Bildungsferne Bildungsbürger

04. Mai 2021, 12:37 Uhr

Warum Thea Dorn die "Politik" eigentlich loben müsste. Warum die Berichterstattung über die Tötung von vier Menschen mit Behinderung in Potsdam fragwürdig ist. Warum Wissenschaftsjournalist*innen keine Aktivist*innen einer naturwissenschaftlichen Agenda sind. Ein Altpapier von René Martens.

Wenn seriöse Medien Party machen

Vor wenigen Tagen hat Markus Pössel für den Scilogs-Blog des Wissenschaftsmagazins Spektrum mal verglichen, in welchem Umfang zwischen dem 18. Dezember 2020 und dem 2. Januar 2021 Spiegel SZ und FAZ online über ein maßgebliches Strategiepapier zur Pandemiebekämpfung, "also den im Lancet veröffentlichten Aufruf zahlreicher Wissenschaftler*innen für eine Strategie der konsequent niedriggehaltenen Infektionszahlen", berichtet haben - und wie viel über #allesdichtmachen in den ersten acht Tagen nach dem Start der Aktion.

Das Ergebnis, zu dem wir im Detail gleich kommen, sei zum Anlass genommen, auf die Wirr- und Querdenker und ihre Bauchrednerpuppen aus dem Schauspielergewerbe heute nur sehr kurz einzugehen - weshalb hier quasi chronistenpflichtartig lediglich erwähnt sei, dass Jan Josef Liefers am Montag versucht hat, die 14,22 Millionen Zuschauer des aktuellen "Tatorts" aus Münster als Gesinnungsgenossen zu vereinnahmen, und dass sein Kampfgefährte Volker Bruch einen Mitgliedsantrag bei der Querdenker-Kleinstpartei "Die Basis" gestellt hat. Auf diese angesichts der Recherchen vom Wochenende (siehe Altpapier) nicht mehr überraschende Neuigkeit geht Daniel Laufer bei netzpolitik.org ein.

Und nun zu den Details von Markus Pössels Artikel-Zählung:

"Ich komme auf 51 Beiträge zu #allesdichtmachen, und auf 5 Beiträge zur Niedriginzidenz-Strategie."

Wobei der Suchzeitaum bei der Schauspieler*innen-Aktion bloß acht Tage umfasste und der beim Strategiepapier 16 Tage.

Pössels Fazit:

"Es ergibt sich: ein trauriges Bild. Zeitungen, die sich bei anderen Themen zugutehalten, nicht an den Oberflächlichkeiten hängenzubleiben und stattdessen Substanz zu bieten – eben im Kontrast zu den Boulevardmedien – (…) schieben (…) eine der damals wichtigsten Diskussionen – wie wollen wir als Gesellschaft die Covid-Pandemie bekämpfen? – zur Seite, ohne näher darauf einzugehen."

Sein Ausblick:

"Und wenn der ganze Pandemieverlauf in ein paar Jahren einmal aufgearbeitet werden wird, dann wird es nicht nur darum gehen, wie aufgrund politischer Weichenstellung zehntausende Menschen starben (…), (s)ondern zumindest in einer Fußnote wird es auch darum gehen, wie dem Selbstverständnis nach seriöse Zeitungen sich bei der Niedriginzidenz-Strategie um ihre mühsamen Hausaufgaben drückten, um stattdessen bei der leichten Kost der #allesdichtmachen-Empörung so richtig Party zu machen."

Ich befürchte: Von den genannten Medien wird diese "Fußnote" niemand formulieren.

Zur Aktualität Francis Bacons

In der Druckausgabe der Zeit ist in der vergangenen Woche ein Gespräch mit Thea Dorn, Daniel Kehlmann und Juli Zeh erschienen, das "wirkt, als habe die Titanic-Redaktion an einem sehr langweiligen Abend ein fiktives Gespräch zwischen Dorn, Zeh und Kehlmann aufgeschrieben und dann alle Pointen gelöscht". So hat es der Soziologe Floris Biskamp bei Twitter formuliert. Damit es trotzdem jemand liest, beginnt der Teaser auf der Titelseite mit den Worten "Sind wir zu wissenschaftsgläubig?"

Zumindest indirekt bezieht sich Ralf Bönt nun in einem Beitrag für Zeit Online auf dieses Gespräch:

"Man könnte leichthin sagen, dass viele es halt nicht besser wüssten, ein Versäumnis der Bildung. Aber auch in den Eliten tobt eine Diskussion über vermeintliche Wissenschaftsgläubigkeit. Die oft gehörte Ansicht, es gebe nicht nur die eine Wissenschaft, man solle alle Meinungen hören, (ist) mindestens äußerst ungenau, viel mehr aber ganz falsch (…) Das heißt nicht, dass naturwissenschaftliche Befunde nicht Anschlussprobleme in anderen Disziplinen erzeugen. Ein klassischer Fehlschluss ist aber, die Befunde mit Verweis auf die Anschlussprobleme zu relativieren und Wissenschaftsgläubigkeit zu unterstellen, wo nur jemand sagt: So ist etwas – und das sind die wahrscheinlichen Folgen. Die Natur der Virusübertragung ist bislang nur teilweise bekannt und muss bei jeder Mutation neu erforscht werden, die Philosophie etwa hat hier aber herzlich wenig beizutragen."

Und "für die Freunde des derzeit gängigen, banalisierten Begriffs von Freiheit, der nicht mal die Faktizität der Welt anerkennen will" - einer der bekannteste dieser "Freunde" dürfte Heribert Prantl sein, auf den sich ja wiederum Jan Josef Liefers bezieht -, zitiert Bönt dann noch 400 Jahre alte Worte Francis Bacons:

"Man besiegt die Natur, indem man ihren Gesetzen gehorcht. Wissen ist Macht."

Ein Zitat aus dem Gespräch, auf das Bönts Zeit-Online-Text Bezug nimmt, ist gerade noch mal viral gegangen, weil die Redaktion auf ihrem Twitter-Account daraus eine Text-Foto-Kachel gebaut hat:

"De facto erleben wir eine Politik, die (…) ein alles dominierendes Ziel verfolgt: Todesverhinderung."

Hier wird es, zumal mit Blick auf 83.000 Tote, dann vollends absurd: Dorn kritisiert die "Politik" für die Verfolgung eines "Ziels", das sie, die Politik, gar nicht verfolgt, denn tatsächlich hat sie ja bisher das gegenteilige Ziel verfolgt. Die Todesverhinderungs-Dooffinderin Dorn müsste die "Politik" also eigentlich loben.

Falsche Gewichtung der Perspektiven

In Potsdam hat am vergangenen Mittwoch eine Mitarbeiterin einer Pflegeeinrichtung vier Menschen mit Behinderung getötet, und die Berichterstattung über die Mehrfachtötung hat mittlerweile einige Kritik auf sich gezogen. Tanja Kollodzieyski (Edition F) geht dabei unter anderem auf den RBB ein:

"In einer (…) Sendung konnte ein Psychologe kontextfrei über die möglichen Tathintergründe spekulieren: War es 'Überforderung', oder wollte die mutmaßliche Täterin vielleicht sogar die Opfer 'erlösen'? (…) Mir als behindertem Menschen zeigte sich medial ein bizarres Bild: Zwischen diskriminierenden Aussagen, sichtbarem Machtgefälle in der Gewichtung der Perspektiven und mehrheitlichem Schweigen bei den überregionalen Medien (…) Immer wieder wurde die Perspektive des Pflegepersonals in den Fokus gerückt, das nach Meinung vieler Menschen 'Außergewöhnliches' leistet. Zweifellos müssen die Bedingungen von Menschen, die in der Pflege arbeiten, verbessert werden. Aber verdammt: Was ist mit der Situation von Menschen mit Behinderung? Wir erleben tägliche Diskriminierungen und Gewalt auf verschiedenen Ebenen, die nicht allein durch den Pflegenotstand zu rechtfertigen sind."

Was Kollodzieyski außerdem vermisst in der Berichterstattung:

"Wie geht es den anderen Bewohner*innen in der Einrichtung? Welche Möglichkeiten bekommen sie, um den Schock und die Trauer zu verarbeiten?"

Lisa Kräher hatte am Wochenende bei Übermedien bereits folgendes Berichterstattungs-"Narrativ" kritisiert:

"Menschen mit Behinderung würden Konflikte verursachen, sie seien anstrengend ('Überforderung') und deshalb irgendwie mitverantwortlich für so eine Tat. Und sie würden an ihrer Behinderung leiden. Das alles schafft Verständnis für die Person, die die Tat begeht (…) Die Gründe 'Überforderung' und 'Erlösung' entsprechen hier sozusagen dem 'Minirock'-Argument. Eine Art von 'Victim Blaming', zu Deutsch: Täter-Opfer-Umkehr."

Und Raul Krauthausen kritisiert für Die Neue Norm:

"Es wird fast ausschließlich über (Menschen mit Behinderung) gesprochen, und nicht mit ihnen (…) Dabei hat unser Mitgefühl den Betroffenen, Angehörigen und Nahestehenden nach dieser schrecklichen Tat zu gelten. Gerade den Betroffenen sollten wir zuhören."

Die Kritik der falschen Gewichtung von Perspektiven bzw. des beinahe vollständigen Ausblendens von Perspektiven; die Kritik daran, dass über Betroffene geredet wird, aber nicht mit ihnen  - das kennen wir so ähnlich ja auch aus anderen medienkritischen Debatten. Wobei ich als Mensch ohne Behinderung mir gar nicht sicher bin, ob es zielführend ist, hier eine allgemeine Ebene einzuziehen, aber ich lasse das mal so stehen.

Journalist*innen und ihr Berufsrisiko

Von den zahlreichen Beiträgen, die anlässlich des gestrigen Tages der Pressefreiheit erschienen sind, seien an dieser Stelle drei unterschiedliche Ansätze ausgewählt. Das gemeinnützige Recherchenetzwerk Correctiv gibt einen "Einblick" in den "Arbeitsalltag" der Redaktion:

"Dazu gehört nicht nur Vandalismus an unseren Büros oder Pöbeleien von ungebetenen Gästen. Sondern auch psychischer Druck, Beleidigungen und Drohungen in Hassmails an uns, die mit Bildern von Erhängten versehen sind."

Ein Mitglied des Faktencheck-Teams sagt zum Beispiel:

"Nachdem ich in einem Faktencheck einen rechten Youtuber als Urheber eines anti-muslimischen Plakates benenne, wird unsere Berliner Redaktion mit den gleichen Plakaten beklebt. Die Stadt weist mein Gesuch nach einer Auskunftssperre im Melderegister zurück, die Gefahr eines Angriffs sei nicht konkret genug. Beleidigungen im Internet gehörten zum normalen Berufsrisiko von Journalistinnen und Journalisten."

Die "Tagesthemen" porträtierten am Montag in ihrer Rubrik "Mittendrin" (Textfassung hier) Alexander Roth, Redakteur beim Zeitungsverlag Waiblingen (Waiblinger Kreiszeitung, Schorndorfer Nachrichten, Winnender Zeitung, Welzheimer Zeitung). Der Beitrag zeigt: Auch Journalisten, die für selten im Blickpunkt medienjournalistischer Berichterstattung stehende Redaktionen arbeiten, kann es passieren, mit der Drohung, sie seien "bereits für die Nürnberger Prozesse 2.0 vorgemerkt", konfrontiert zu werden. Roth sagt:

"Mich (erreichen) Mails, die sind mit Klarnamen unterschrieben oder gar von einer Firmenadresse abgeschickt. Da merkt man, die Menschen haben jegliche Scheu verloren, Journalisten zu beschimpfen oder konkret zu bedrohen."

Samira El Ouassil widmet sich in ihrer "Wochenschau"-Kolumne für Übermedien zivilisierteren Angriffen auf Journalisten:

"Es (gibt) Themen, bei denen gerne so getan wird, als sei das alleinige Berichten darüber schon parteiisch, wie im Falle des Engagements für den Klimaschutz, weil da zufällig eine Partei besonders federführend ist. Dieses ideologische Verschreien tut so, als seien Fakten eine Meinung, die man einnimmt, so wie in 'Ich bin der Meinung, die Erde ist rund', und als wäre die Berichterstattung über Klimaschutz dementsprechend politischer Aktivismus. Das ist natürlich Quatsch. Wissenschaftsjournalist*innen sind keine Aktivist*innen einer naturwissenschaftlichen Agenda. Anders ausgedrückt: Journalist*innen sind natürlich schon immer Aktivist*nnen, wenn es Aktivismus ist, über die Wahrheit zu berichten."

Da der Pressefreiheitstag und das Erscheinen der 100. "Wochenschau"-Kolumne auf einen Tag fallen, wird El Ouassil dann auch noch ein bisschen feierlich:

"Danke (…) für Ihre Arbeit, liebe Journalist*innen! (…) Ich wünschte, unsere Gesellschaft würden Sie und wofür Sie stehen ein bisschen besser schützen."

Angesichts dessen, dass zumindest manche Behörden in Sachen Melderegister nicht auf die dringenden Anliegen von Journalisten in deren eigener Sache reagieren und Menschen Hassmails von ihren beruflichen Accounts verschicken, ist das natürlich ein wichtiger Wunsch - aber vielleicht auch ein frommer.


Altpapierkorb (schwatzhafte Bremer Staatsanwälte, Rastatter Prozesse, Reaction-Videos, Lokalsportjournalismus)

+++ "Überraschende Wendung in der sogenannten Bamf-Affäre", teasert aktuell der Weser-Kurier, und derlei Wendungen gab es in diesem Kontext ja schon einige (siehe zuletzt dieses Altpapier). Die Formulierung des Weser-Kuriers bezieht sich auf einen Bericht Benno Schirrmeisters für die taz. Demnach wird gegen den Leiter der Bremer Staatsanwaltschaft, eine Oberstaatsanwältin, einen Dezernenten und den Pressesprecher der Behörde ermittelt - in einem unrechtmäßigen Gespräch mit einem Journalisten sollen sie falsche Informationen über das Hauptopfer der Medienkampagne, die frühere Bremer Bamf-Außenstellenleiterinn Ulrike B., verbreitet haben.

+++ Die Stuttgarter Zeitung und die FAZ (€) würdigen Judith Voelkers heute bei Arte zu sehende Dokumentation "Die Rastatter Prozesse. Kriegsverbrecher vor Gericht". Tim Schleider schreibt in der StZ: "Nicht nur in Nürnberg wurde gegen NS-Täter verhandelt, auch in Rastatt. Zwischen 1946 und 1954 fanden im Rastatter Schloss insgesamt 235 große und kleine Verfahren statt, durchgeführt vom Tribunal général der Militärverwaltung der französischen Besatzungszone. Die Rastatter Prozesse waren öffentlich, Zeitungen und Rundfunk berichteten ausführlich. Dass die Verfahren im Gegensatz zu den Nürnberger oder auch den Dachauer Prozessen dennoch fast ganz in Vergessenheit gerieten, lag vor allem an einer hundertjährigen Sperrfrist, denen nach französischem Recht alle Akten von Militärprozessen unterliegen. Diese Sperrfrist wurde vor einigen Jahren vorzeitig aufgehoben." Der SWR-Dokumentarfilm sei "nun der erste Versuch, die dramatischen Geschehnisse im Südwesten einem größeren Publikum neu bewusst zu machen". Und FAZ-Kollege Oliver Jungen meint: "Inhaltlich gibt der Film einen von Historikern nachvollziehbar eingeordneten Überblick über die engagierte, kleinteilige Arbeitsweise dieses Gerichts und die vor ihm verhandelten Angelegenheiten, bei denen es sich nur selten um 'Kriegsverbrechen' im engeren Sinne handelte."

+++ In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik beschäftigt sich Annekathrin Kohout mit dem Genre der Reaction-Videos: "Es gibt ganze Profile, die sich nur dem Format der Reaction-Videos widmen und diese ungewöhnlichen Konstellationen eigens produzieren, und YouTuber, die sich auf bestimmte Reaction-Videos spezialisiert haben – insbesondere Reaktionen auf Games (z.B. Gronkh), aber auch auf Nachrichten oder Memes. Bei aller Vielfalt lässt sich dennoch eine einfache Klassifikation vornehmen. Es gibt zwei Grundformen oder Genres von Reaction-Videos: Zum einen Videos, in denen die laienhafte Reaktion auf etwas für die Person bislang Unbekanntes im Mittelpunkt steht – zum Beispiel Kinder, die auf technische Geräte vor ihrer Zeit reagieren wie z.B. den Walkman. Zum anderen professionelle Reaktionen – etwa wenn Berufstänzer auf TikTok-Choreografien oder Ärzte auf medizinische Filmszenen reagieren."

+++ Wie gehen Lokalsportjournalisten damit um, dass kaum Sportereignisse stattfinden, über die sie berichten können? Die Drehscheibe befasst sich damit in einer Themenwoche, ich habe einen Text beigesteuert. Vor einem Jahr habe ich hier nebenan bereits darüber geschrieben.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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