Das Altpapier am 26. April 2021 Wenn Schauspieler einer Rolle nicht gewachsen sind
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26. April 2021, 13:47 Uhr
Einer der vermeintlichen "Drahtzieher" von #allesdichtmachen ist ein Hardcore-Querdenker. Der Mann hat aber auch einen der am euphorischsten besprochenen "Tatort"-Filme der vergangenen Jahre gedreht. Außerdem: Inwiefern Medien aufgrund ihrer Jahre langen Überhöhung von Schauspieler*innen für #allesdichtmachen mitverantwortlich sind. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Sterben fast in Echtzeit
- Die Männer im Hintergrund
- Der Promi-Faktor
- Die Humorqualität
- Schauspielkunst und Intellekt
- Die Folgen des Personality-Journalismus
- Muss man sich um Georg Restle Sorgen machen?
- Altpapierkorb (die Forderung nach einer neuen Sprache für die Berichterstattung über Verkehrsunfälle, die Würdigung einer Behördenleiterin, die politikjournalistischen Ambitionen von RTL und Pro Sieben, "Freitagnacht Jews")
Sterben fast in Echtzeit
Wer nicht Jan Josef Liefers heißt, hat möglicherweise mitbekommen, wie viel Menschen derzeit in Indien der Corona-Pandemie zum Opfer fallen. Einer davon ist der Journalist Vinay Srivastava.
"A journalist in India live-tweeted his worsening COVID-19 symptoms, then died before he could get help",
schreibt Business Insider über ihn. Das unter anderem auf Medienkritik spezialisierte Portal News Laundry schreibt über seinen "beinahe live getwitterten Tod":
"In a series of tweets, Vinay, 65, a journalist of 35 years, noted that his oxygen level was falling precipitously and begged for help to get admitted in a hospital (...) The help never came and he soon died."
Wir widmen unsere Kolumnen ja in der Regel niemandem, aber heute machen wir eine Ausnahme: Diese Kolumne ist Vinay Srivastava gewidmet.
Die Männer im Hintergrund
Das Hauptgesicht von #allesdichtmachen war anfangs Jan Josef Liefers (siehe Altpapier von Freitag), aber so langsam kristallisiert sich heraus, wer hier noch eine entscheidende Rolle spielt. Besonders verdienstvoll ist diesbezüglich ein Text, den Daniel Laufer für netzpolitik.org geschrieben hat. "Einer der Drahtzieher" sei der Regisseur Dietrich Brüggemann:
"(Er) (ist) durchaus erfahren darin, die Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus zu kritisieren. "#allesdichtmachen" ist nur eine Form, die seine Pauschalkritik in den vergangenen Monaten angenommen hat. Er hat noch weitaus mehr geschrieben als Texte für Videos, die nun einen Shitstorm ausgelöst haben."
Zum Beispiel hat Brüggemann unter dem Namen Noisy Nancy - Musik macht der Mann nämlich auch - eine Coverversion eines bei rechtsextremen Demos gern gespieltes Liedes produziert, in dem es heißt:
"Steckt euch euren Polizeistaat in den Arsch, steckt euch eure Maskenpflicht in den Arsch, steckt eure Abstandsregeln in den Arsch, steckt euch eure Hygienemaßnahmen in den Arsch."
Viel Meinung hat der Mann auch zur deutschen Geschichte und zu ihrer öffentlich-rechtlichen Aufarbeitung:
"Man kann sich (…) daran erinnern, dass die NS-Zeit ja wirklich oft herhalten muss für Filme jedweder Qualität (…) Sollte die ARD vielleicht mal ihre Stoffe woanders finden? Vielleicht brauchen wir gar nicht so viele historische Schmonzetten."
Nun hat der Hardcore-Querdenker Brüggemann aber auch - und da wird das Ganze kompliziert - Regie geführt bei dem "Tatort"-Film "Murot und das Murmeltier", der nach meinem Bauchgefühl zu den in der jüngeren Vergangenheit am euphorischsten besprochenen Filmen der Reihe gehört (und für den Grimme-Preis nominiert wurde).
Beispiele dafür, was Brüggemann in der jüngeren Vergangenheit alles so getwittert und was er jetzt twittert, finden sich zum Beispiel bei Mela Eckenfels.
Aber wie stark war Brüggemann denn nun an #allesdichtmachen beteiligt? Er habe nicht Buch darüber geführt, welchen Text er geschrieben habe und welchen nicht, sagt er gegenüber netzpolitik.org. Das muss man natürlich nicht glauben.
Ein anderer Mann im Hintergrund ist der FDP-Lokalpolitiker Thomas "Tom" Bohn, ebenfalls "Tatort"-Regisseur. In einem Interview mit Springers Nachrichtensender sagt er (Timecode 1:05):
"Ich halte (Corona) für eine gefährliche Krankheit für jemanden, der da anfällig oder auch vorerkrankt ist."
Gefährlich für "Anfällige" und "Vorerkrankte"? Vielleicht sollte er das mal den Eltern dieser Kinder erzählen. Mein Name ist nicht Danger Dan, und auf die Kunstfreiheit kann ich mich auch nicht berufen, weshalb ich über Tom Bohn keine weitere Worte verlieren möchte - abgesehen von einem Hinweis auf die, sagen wir mal: politische Qualität seiner künstlerischen Arbeit (auf den Text aufmerksam gemacht hat mich @momorulez)
Der Promi-Faktor
Im Übermedien-Podcast "Holger ruft an" beschreibt Samira El Ouassil, was für Folgen insbesondere Liefers’ Statement in ihrem unmittelbaren Umfeld hat. Sie habe viel Zeit für Überzeugungsarbeit bei ihr nahe stehenden älteren Menschen aufgewendet - "und dann kommt ein Jan Josef Liefers, und (…) die Personen in meinem Umfeld, die ein bisschen älter sind, die mögen den 'Tatort‘ und den lustigen Pathologen, der ja so ein bisschen lakonisch ist".
Wenn der jetzt "um die Ecke" komme, und - "indirekt mit seiner sardonischer Art" - sage, das alles schlecht gelaufen sei (…) , "dann ist meine Überzeugungsarbeit von Monaten sofort unterminiert, weil sie dem Mann aus (dem) öffentlich-rechtlichen (…) 'Tatort‘ natürlich Glauben schenken, weil sie sagen, das ist doch kein Idiot, der weiß doch, wovon er redet".
Einen ähnlichen Effekt könnte das haben, was Ulrich Tukur sagt.
"Am boshafteten ist Tukurs Todestext, der ja nichts anderes sagt, als 'auf, auf zum fröhlichen Sterben'. Welch ein perfider Zynismus",
meint Leander Sukov, der stellvertretende Bundesvorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Und Jörg Thomann schreibt in der FAS (€):
"Ulrich Tukur will Lebensmittelläden schließen, weil wir nur tot vor dem Virus sicher seien."
Die Humorqualität
Wir wissen nicht genau, wann der eben erwähnte von Tukur vorgetragene Text geschrieben oder eingesprochen wurde, aber die ironische Forderung, Lebensmittelläden zu schließen, könnte der Verfasser sich bei Franziska Augstein abgeschaut haben (auf deren "Absturz" wir hier bereits Ende Januar eingegangen sind). Sie versuchte sich vor etwas mehr als zwei Wochen in ihrer Spiegel-Kolumne als Satirikerin:
"Alle Tankstellen müssen schließen. Das hätte enorme Vorzüge. Einreisende – quasi alle gelten als gefährlich – könnten per Auto bloß wenige Kilometer ins Bundesgebiet eindringen, eben so weit die Tankfüllung reicht. Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern müssten Feriengästen die Einreise nicht mehr verweigern: Ohne Benzin schaffen selbst Anrainer aus Brandenburg es kaum nach Mecklenburg-Vorpommern hin und zurück."
Und:
"Was die Lebensmittelversorgung angeht: Im Rahmen der Schließung aller Tankstellen sollten auch sämtliche Geschäfte geschlossen werden (…) Der (Onlinehandel) kann ohne die Tankstellen und ihr Benzin laufen: Die diversen Onlinegiganten werden ihre Lieferanten mühelos danach auswählen können, ob sie E-Autos zur Verfügung haben. Die Versorgung der Bevölkerung mit Kalorien wäre also gesichert."
Einen Eindruck von Dietrich Brüggemanns Humorqualitäten hätten sich alle Beteiligten übrigens bereits im März verschaffen können, als er in seinem Blog ein "Wie es jetzt weitergeht"-Szenario veröffentlichte, das man nicht einmal amateurhaft nennen möchte. Das ist User Generated Content, dem man keine Sekunde lang anmerkt, dass der Verfasser irgendwas mit Kultur macht.
Schauspielkunst und Intellekt
19 der zunächst Beteiligten 53 Schauspieler*innen (laut SZ-Medienseite von heute) haben sich inzwischen von sich selbst distanziert und/oder ihr Video zurückgezogen (die eine oder andere Begründung findet sich etwa bei stern.de). Wenn Leute Fehler eingestehen, muss man das anerkennen, es bleibt aber die Frage, wie es sein kann, dass Menschen, die von Berufs wegen wissen, wie Sprache und rhetorische Mittel wirken, wie man Sprechakte in Szene setzt und wie man Wörtern Wirkung verleiht - und die das möglicherweise alles noch ein bisschen besser wissen als zum Beispiel Politiker - das von ihnen im Rahmen von #allesdichtmachen Performte falsch eingeschätzt haben.
Kann man von Naivität sprechen? Nein, sagt Samira El Ouassil im Übermedien-Podcast, eher von "einer mangelnden Selbstreflexion der eigenen schon eingeschriebenen Wahrnehmungen in Bezug auf das Thema". Worauf El Ouassil auch hinweist, und zwar mit Bezug auf Pia Lambertys und Katharina Nocuns Buch "Fake Facts": Auch Intellekt schützt nicht davor, auf Verschwörungsmythisches reinzufallen.
Andererseits drängen sich angesichts der erschreckenden künstlerischen Qualität der Videos auch folgende Fragen auf: Haben wir die schauspielerischen Leistungen mancher dieser Leute bisher überschätzt, haben wir uns dabei an quasi-kanonischen Wahrnehmungs-Frames und vorgefertigten Interpretationsmustern orientiert? Ist Ulrich Tukur vielleicht doch nur ein "Heinz Rühmann des Experimental-'Tatorts‘" (wie es Klaus Walter formuliert)?
Anne Fritsch kritisiert bei 54books derweil,
"dieses sich selbst als Maßstab aller Dinge Nehmen, eine weltweite Katastrophe als Angriff auf die persönliche Entfaltung Interpretieren – und vor allem dieses Implizieren, dass dahinter eine irgendwie geartete Absicht stehe: Das ist ein Aushöhlen der Demokratie unter dem Deckmantel, ein kritischer Geist zu sein".
Die Folgen des Personality-Journalismus
Jörg Thomann kritisiert in seinem bereits zitierten FAS-Artikel nicht nur das Quergedenke der Schauspieler und die künstlerische Qualität der Videos, sondern wirft auch die Frage auf, wie es so weit kommen konnte:
"Ganz sicher haben auch die Medien in der Pandemie Fehler gemacht. Einen großen Fehler aber haben wir, die Journalisten, schon vorher begangen: Wir haben die Schauspieler darin bestärkt, sich als Welterklärer zu fühlen – eine Rolle, der manche von ihnen nicht gewachsen sind. Wir haben sie nicht nur nach ihren Filmen gefragt, sondern nach Werten, nach Weltanschauung, nach dem richtigen Leben."
Welche Mechanismen haben dazu beigetragen? Ein Hang zum Personality-Journalismus. Die Marginalisierung von Rezensionen beziehungsweise, um ein etwas größeres Fass aufzumachen, die Vernachlässigung der klassischen Kulturkritik. Der Trend, statt einer Filmbesprechung lieber ein Porträt oder ein Interview mit einem Schauspieler zu bringen, der in dem Film mitwirkt. Ich beziehe mich jetzt vor allem auf das Schreiben übers Fernsehen; die Filmberichterstattung im Feuilleton verfolge ich etwas weniger systematisch.
Muss man sich um Georg Restle Sorgen machen?
Am Freitag hat Georg Restle in den "Tagesthemen" einen Kommentar gesprochen, in dem kaum ein Satz stimmt, was insofern irritierend ist, als bisher kaum ein Satz von Georg Restle nicht stimmte. Am wenigsten stimmt dieser:
"Man darf sich auch über einen neuen Untertanengeist lustig machen, der selbst überbordende Corona-Regeln nicht mehr kritisch hinterfragt – ohne, dass man dafür einen Kopf kürzer gemacht wird."
Antje Schrupp hat bei Twitter dazu alles Nötige gesagt:
"Apropos 'Untertanengeist'. Mal abgesehen von allem anderen ist das auch eine letztliche Zurückweisung historischer Schuld, wenn unterstellt wird, das Problem oder der Fehler der Deutschen wäre in der Vergangenheit zu viel 'Gehorsam' gegenüber der Obrigkeit gewesen. Die Deutschen haben (in ihrer Mehrheit) nicht deshalb Hitler und die Nazis unterstützt, weil sie 'gehorsame Untertanen' waren, sondern weil sie deren Politik richtig fanden. Davon wird mit der Untertanen-Rhetorik gezielt abgelenkt."
Und:
"Regierungspolitik zu unterstützen ist nicht per se problematisch, sondern das hängt von der Politik ab. Es ist was anderes, ob man der Einrichtung von KZs zur systematischen Ermordung von Menschen nicht widerspricht, oder ob man der Einführung einer Maskenpflicht oder meinetwegen auch einer Ausgangssperre zur Eindämmung einer Pandemie nicht widerspricht."
Bei "Untertanengeist" handelt es sich also in zweifacher Hinsicht um eine, vorsichtig formuliert: problematische Denkfigur. Aktuell dient sie einer grotesken Überzeichnung und historisch einer Weichzeichnung einer politischen Haltung.
Wie auch immer: Auf jene 43 Prozent der Bürger, die der Meinung sind, dass die Pandemie-Bekämpfungs-Maßnahmen "härter ausfallen müssten", kann sich Restle mit der Formulierung "Untertanengeist" kaum beziehen. Diese große Gruppe ist im öffentlichen Diskurs ja ohnehin verhältnismäßig schwach repräsentiert, und es gehört zu den Kollateralschäden der Debatte über die Brüggemann/Bohn/Liefers-Chose, dass die Befürworter härterer Maßnahmen nun noch stärker ins Hintertreffen geraten.
Altpapierkorb (die Forderung nach einer neuen Sprache für die Berichterstattung über Verkehrsunfälle, die Würdigung einer Behördenleiterin, die politikjournalistischen Ambitionen von RTL und Pro Sieben, "Freitagnacht Jews")
+++ Dass Journalisten Meldungen der Polizei nicht eins zu eins übernehmen sollten - dafür gibt es viele Gründe, die im Altpapier immer mal wieder aufpoppen. Einen weniger bekannten Grund nennt nun Dirk von Schneidemesser in einem Blogbeitrag für das Institute for Advanced Sustainability Studies, in dem er unter anderem einen "Zapp"-Film aus dem vergangenen Jahr aufgreift. "Wir brauchen eine neue Sprache für die Verkehrsberichterstattung", lautet seine Forderung, und sie bezieht sich auf geläufige, Autofahrern "passive Rollen" zuweisende Polizeimeldungsformulierungen à la "Radfahrerin prallt gegen Autotür und zieht sich schwere Kopfverletzungen zu." Solche Formulierungen hielten "die Schuld für Verkehrsgewalt vom Auto und Autofahrer:innen fern. Und Polizeimeldungen werden oft direkt in die journalistische Berichterstattung übernommen. Ihre Darstellung von Ereignissen formt dann unser Bewusstsein und prägt unser Handeln." Den Hinweis auf den Text verdanke ich dem DIMBB.
+++ Benno Schirrmeister würdigt in der taz die "außerordentlich gute Arbeit" von Ulrike B., der früheren Leiterin der Bamf-Außenstelle in Bremen, die der Spiegel "2018 (…) in Abwandlung des rechtsextremen Gutmenschenbegriffs (als) 'Mutter Teresa von der Weser' verhöhnte und (…) zur Protagonistin des sogenannten Bamf-Skandals (machte)". Zu diesem Skandal siehe zuletzt das Altpapier von Mittwoch.
+++ In seiner Kolumne für dwdl.de schreibt Peer Schader angesichts der neuen politikjournalistischen Ambitionen von RTL und Pro Sieben, was die Privaten besser machen könnten als die Öffentlich-Rechtlichen: "Warum … kommentieren in den ‚Tagesthemen’ nicht etwa regelmäßig Redakteurinnen und Redakteure (…), die diese spezielle journalistische Form besonders gut beherrschen – sondern scheinbar jede und jeder, der sich im Senderverbund dazu berufen fühlt und schon mal ausreichend tief in die Kiste mit den abgewetzten Sprachbildern gefallen ist. Und wer hat eigentlich festgelegt, dass Menschen in hochrangigen Staats- oder Parteiämtern so oft von Studioleiterinnen und Chefredakteuren interviewt werden müssen? All das könnten RTL, ProSieben & Co. anders machen. Dafür müssten die Sender aber langsam mal aus dem Übungsmodus herauskommen und die bekräftigte Ernsthaftigkeit ein Stück weit systematisieren."
+++ Neue Sendungen sind ja nur selten neuartig, aber "Freitagnacht Jews" - verantwortet vom WDR, der in dieser Kolumne ja nicht nur gelobt wird - scheint es tatsächlich zu sein: Erica Zingher schreibt für die taz: "Es ist wahrscheinlich das erste Mal im deutschen Fernsehen, dass gegenwärtige jüdische Menschen in einer Sendung zusammenkommen und sich über das Leben als Jüdinnen und Juden in Deutschland austauschen." Und Andrea Hanna Hünniger (Die Welt) lobt der Premiere-Talk von vergangenem Freitag sei "wahrscheinlich (…) einer der intelligentesten Beiträge zu den Feierlichkeiten zum Jubiläumsjahr '1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland'. Und gleichzeitig einer, der gehörig die Festsuppe versalzt."
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.
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