Teasergrafik Altpapier vom 20. April: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 20. April 2021 Schwarz zu grün? Weiß zu gelb

20. April 2021, 09:58 Uhr

Die neue Weltkarte der Medienfreiheit der "Reporter ohne Grenzen" verzeichnet Lichtblicke allenfalls "südlich der Sahara". Und ein großes Land in der Mitte Europas wechselt die Farbe. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gab am Abend ihrer Kür vier Fernsehinterviews. Pro Sieben hatte den Vortritt und die meiste Zeit und bekommt verheerende Kritiken... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Medienfreiheits-Absteiger Deutschland

Seit den frühen Morgenstunden ist die "Rangliste der Pressefreiheit 2021" (PDF) veröffentlicht. Das Charts-Prinzip, das anhand einer Punktzahl mit zwei Nachkommastellen Platzierungen von 1 bis 180 an Staaten vergibt und so "Aufsteiger und Absteiger" erzeugt, ist natürlich ein in diversen Details anfechtbares Zugeständnis an die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien. Aber eines, das in der Medienpraxis funktioniert. Es sind ebend (neues Trendadverb!) superlativ-artige Aussagen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und verdienen. Im ausführlichen Charts-Kommentar der Reporter ohne Grenzen z.B.:

"Noch nie seit Einführung der aktuellen Methodik im Jahr 2013 gab es so wenige Länder, in denen RSF die Lage der Pressefreiheit als 'gut' bewertete."

Wobei die leicht, um eins, gesunkene Zahl der auf der praktischen "Weltkarte der Pressefreiheit" weiß erscheinenden Länder aus deutscher Sicht beinahe gleichgültig sein könnte. Aber nur beinahe, denn ein aus hiesiger Sicht wichtiges Land ist es, das sich verfärbt:

"Deutschland verschlechtert sich in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit um zwei Plätze vom 11. auf den 13. Rang. Seine Punktzahl rutscht von 12,16 auf 15,24 ab und überschreitet damit die Marke von 15 Punkten, ab der RSF die Situation in einem Land als 'zufriedenstellend' einstuft und nicht mehr als 'gut'. Die Farbe Deutschlands auf der Weltkarte der Pressefreiheit wechselt entsprechend von weiß auf gelb. Hauptgrund dieser Bewertung ist, dass Gewalt gegen Medienschaffende in Deutschland im Jahr 2020 eine noch nie dagewesene Dimension erreicht hat ..."

Die Reporter ohne Grenzen, die sich neuerdings ja französischsprachig RSF abkürzen, zählten im Jahr 2020 "mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten" in Deutschland:

"Die Mehrheit der körperlichen und verbalen Angriffe ereignete sich auf oder am Rande von Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Journalistinnen und Journalisten wurden geschlagen, getreten und zu Boden gestoßen, sie wurden bespuckt und bedrängt, beleidigt, bedroht und an der Arbeit gehindert. Mehr als drei Viertel aller körperlichen Angriffe ereigneten sich auf oder am Rande von Demonstrationen, darunter neben den Corona-Protesten zum Beispiel auch auf Demos gegen das Verbot der linken Internetplattform linksunten.indymedia.org und auf Demos zum 1. Mai."

Ausführlich und mit zahlreichen Beleg-Links aufgelistet sind diese Vorfälle in der "Nahaufnahme Deutschland". Wobei Deutschland dennoch kein Brennpunkt ist, wie der in seiner ganzen Breite lesenswerte Rundumschlag der RSF zeigt.

Brennpunkte (u.v.a.): Kosovo, Bulgarien, Iran, China

Im Welt-Maßstab sind Lichtblicke rar und vor allem "südlich der Sahara", zu finden. Dort finden sich die, rein ranglisten-rechnerisch, "größten Aufsteiger" wie etwa Burundi, das davon profitiert, dass "vier inhaftierte Mitarbeitende des Senders IWACU nach mehr als einem Jahr Willkürhaft freigelassen" wurden, und um dreizehn Positionen auf Platz 147 klettert. Finster sieht es vielerorts in Europa aus. "In Serbien wie auch im Kosovo (78, -8) wurden Medienschaffende wegen ihrer Corona-Berichterstattung festgenommen". Das bezieht sich alles aufs Jahr 2020. Aktuell berichtet der Standard, dass im Kosovo dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Schließung drohe und in Parlamentsdebatten dort von "Medienverbrechen" die Rede sei. Wobei der junge (und von fünf EU-Mitgliedsstaaten diplomatisch gar nicht anerkannte) Balkanstaat andererseits in der Rangliste immer noch klar besser dasteht als das schlechtestplatzierte EU-Mitglied, Bulgarien auf Platz 112.

Viel weiter unten konnte etwa Syrien einen Rang gut machen und auf Platz 173 steigen, jedoch nicht wegen positiver Entwicklungen, sondern wegen noch schlimmerer in einem Nachbarland. Es überholte es die Islamische Republik Iran, die "mit der weltweit ersten staatlichen Hinrichtung eines Journalisten seit 30 Jahren", des Bloggers Ruhollah Sam (Altpapier), ihre Stellung als "einer der schlimmsten Unterdrücker der Pressefreiheit" bekräftigte.

Turkmenistan, Nordkorea und, neu auf der untersten Position: Eritrea sind es, die China den Rang des allerschlimmsten Unterdrückers nahmen. Ob in solchen Fälle  eine Charts-artige Reihenfolge sinnvoll ist, darüber ließe sich lange streiten. Doch das Thema verdient Aufmerksamkeit, auch dort, wohin selten jemand schaut.

Claqueurtum? Cringe? Kritiken zu ProSiebens Baerbock-Interview

Jetzt aber zum Nabel der Welt (aus deutscher Sicht). Was war das für ein Tag im Hauptstadtjournalismus! Die beiden aussichtsreichsten KanzlerkandidatInnen wurden unter maximal unterschiedlichen Umständen gekürt.

Der glücklichere der beiden schwarzen Sidekicks in einer circa halb-medienöffentlichen CDU-Chefetagen-Videokonferenz, die so lange dauerte, dass er auch noch die spätesten Fernseh-Primetimes verpasste. Am heutigen Dienstag wird Armin Laschet dann zweifellos bereitstehen. Er hat aber viel aufzuholen, denn die grüne Rivalin Annalena Baerbock gab am gestrigen Montag vier Fernseh-Interviews (wenn wir keins übersehen haben), also in den ARD-"Tagesthemen", davor im ZDF-"heute journal", davor das "erste Interview der Grünen-Kanzlerkandidatin" (RTL) und davor das allererste und mit 45 Minuten längste in der klassischen 20.15-Uhr-Primetime bei Pro Sieben. Hier wäre es nachzuschauen. Wie war's, und waren die Fragesteller noch freundlicher als der graumelierter Herr bei RTL?

Nun ja, Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke bekommen recht verheerende Kritiken zu lesen. Es habe geschienen, "als interessierten sich die Moderatoren eher für ihre Fragen als für die Antworten Baerbocks. Als wollten sie Themen einfach nur ansprechen, so wie man in China als Politikerin immer 'die Menschenrechte ansprechen' soll" schreibt Cornelius Pollmer bei sueddeutsche.de (der sich allerdings mit unnötigen Stefan-Raab-Vergleichen selbst etwas verzettelt). "Dass man ein Interview mit einer gerade ausgerufenen Kanzlerkandidatin sogar ohne jeden Anschein des Denkens führen kann", ätzt Frank Lübberding bei faz.net, wo er das ProSieben-Interview im Rahmen einer "hart aber fair"-Talkshowkritik verarztet (was möglich war, da die ARD nach der "Tagesschau" keinen "Brennpunkt", sondern gleich den angekündigten Tierfilm sendete). Etwas freundlicher sieht es wie oft Joachim Huber im Tagesspiegel: Bauerfeind und Mischke "waren von der Herausforderung nicht überwältigt, zugleich hatten sie offenbar das Ziel, der ersten Kanzlerkandidatin der Grünen einen freundlichen Abend zu bereiten. Das hatte was von telegenem Claqueurtum." Bei welt.de wählte Claus Christian Malzahn die in den sog. soz. Medien (z.B. Twitter) vielbeachtete Bauerfeind-Frage "Braucht man da Eier oder – in Ihrem Fall – Eierstöcke?" als Überschrift und zählt erst mal auf, wer alles im zwischengeschalteten Werbeblock warb. Die Welt betreibt ja auch einen gleichnamigen Fernsehsender, in dem Werbung buchbar ist.

Positiver sahen Rezensentinnen das Kanzlerkandidatin-Interview. Bei zeit.de wundert sich Katharina Schuler zwar, dass "die ein oder andere Frage  ... so liebdienerisch gerät, dass Baerbock fast schon erstaunt über die Steilvorlage erscheint", achtete aber mehr auf Baerbocks Auftreten. Und bei spiegel.de (€) kritisiert Hannah Pilarczyk zwar Bauerfeind ("ihre Fragen waren zu lang und diffus, dabei so krampfhaft lässig formuliert ... , dass es sofort, um im Duktus zu bleiben, in super-cringe umkippte"), zieht dann aber den Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Sondersendungen, die wegen der Grünen-ProSieben-Vereinbarung nicht zustande kamen:

"Wäre das alles in einer regulären Polit-Sendung mit einem perfekt aufeinander eingestellten Moderatorenduo so klar geworden? Wahrscheinlich nicht, denn Tina Hassel/Peter Frey/Bettina Schausten/Rainald Becker hätten Baerbock nach zehn Minuten zu Koalitionsaussagen zu drängen versucht, auf die sie sich nicht eingelassen hätte. Das Reflexhafte solcher Gespräche wäre in den Vordergrund getreten und hätte die Hoffnung auf Erkenntnis, so sie denn noch jemand an diese Formate hat, im Keim erstickt. Bei Mischke/Bauerfeind war hingegen viel Raum zum Zuhören. Und das Ungekonnte schärfte das Ohr, weil es Routinen entgegenwirkte."

Fast könnte man sagen, dass ProSieben in der Landschaft der Fernsehinterviews, wie sie nun mal sind, und in der es sowieso niemals (außer vielleicht bei Markus Lanz in seiner aktuellen Form) darum  geht, Politiker aus Parteien in Regierungsnähe auch nur ansatzweise in eine Bredouille zu bringen,  durchaus ein paar frische Akzente gesetzt hätte. Aber nur fast, denn zum bodentief peinlichen Abschluss des Interviews machte das Pro Sieben-Personal sein zuvor bloß fühlbares "Claqueurtum" (Joachim Huber) auch noch performativ deutlich, indem es Baerbock allen Ernstes applaudierte – und vergrub damit die zuvor in Kniehöhe halbwegs souverän übersprungene Meßlatte doch noch ein paar Meter tief im Boden.

Der bevorstehende Wahlkampf könnte für die und in den Medien sehr spannend werden. Aber nur, wenn sie nun nicht darum wetteifern, wo denn die allergrößten Grünen-Fans arbeiten.

Altpapierkorb (NDR-Intendant. "Narrenfreiheit" & Medienkritik, die wirkt. Staatsvertrags-Streit. Zinsgewinne trotz Bankpleite. Shitstorm anno 1951.)

+++ "Die Pandemie ist für uns Bewährungsprobe und Bestätigung gleichermaßen". Sagt kein Vertreter einer politischen Partei, sondern NDR-Intendant Joachim Knuth, der damit auch für ARD-aktuell und die "Tagesschau" sprechen will, im FAZ-Interview (Blendle). Viele Sätze könnten direkt in künftige "Qualität und Quote"-Publikationen einfließen, falls sie nicht daraus kommen. Interessanter wird Helmut Hartungs Interview später, wenn Knuth recht deutliche Worte zur Kultur ("Die Pflege der Kultur ist Teil unseres Auftrages") findet und über Plattform-Fragen spricht: "Der NDR ist gegenwärtig auch mit Verlagen im Gespräch, um sich mit ihnen zu vernetzen und ihnen Bewegtbildinhalte – mit klarer Absenderkennung – anzubieten. Das könnte ein erster Schritt zu einem Kommunikationsnetzwerk sein."

+++ "Die Geschichten eines Komödianten werden wir nicht kommentieren", teilte Burda wegen Jan Böhmermanns ZDF-Yellow-Zeitschrift (Altpapier gestern) anfragenden Agenturen mit und sprach von "Narrenfreiheit". Wie immer man sonst zu Burda-Publikationen steht: Das hat Stil. Dagegen wolle die Bauer Media Group problematisieren, "dass das ZDF offensichtlich die rechtlichen Grenzen seines Rundfunkauftrags verlassen hat, indem es mit Rundfunkgebühren eine neue Print-Zeitschrift publiziert", berichtet dwdl.de. +++ Derweil schildert Böhmermanns aktueller Projekt-Partner, der topfvollgold.de-Macher Mats Schönauer, im großen SZ-Interview (€) seinen Eindruck, dass seine Yellowpress-Kritik funktioniert: "Früher waren in diesen Heften noch viel mehr vollkommen ausgedachte Reportagen – heute begnügen sie sich meist damit, die Wahrheit so weit wie möglich zu dehnen."

+++ Der RBB hat sein Jahres-Pressegespräch abgehalten und Fragen, ob er tatsächlich aus dem klassischen Rundfunk raus will, beantwortet. "Solange es UKW und DAB+ gibt, bleiben wir auch dort", zitiert der Tagesspiegel Intendantin Patricia Schlesinger. +++ Den nun offenbar in Berlin und Brandenburg ausgebrochenen Streit über den neuen RBB-Staatsvertrag sieht mmm.verdi.de vor allem wegen des weiter bestehenden "Ausschlusses der rund 1.500 arbeitnehmerähnlichen festen Freien von der betrieblichen Mitbestimmung" kritisch.

+++ NDR, SWR und SR haben die rund 105 Millionen Euro, die sie bei der Greensill Bank angelegt hatten, zurück , nachdem die Bank geschlossen wurde, meldet medienkorrespondenz.de und, dass "die vom Saarländischen Rundfunk ... angelegten Gelder sogar samt Zinsen an den Sender zurückgezahlt worden seien".

+++ An einen Shitstorm vor 70 Jahren, als beim NWDR telefonisch Beschimpfungen à la "Sagen Sie mal, was für'n Mist verzapfen sie heute Abend schon wieder im Rundfunk? Das ist zum Kotzen! Hängen Sie sich Ihre ganzen Hörspiele an'n Nagel, wissen Sie. Schweinemäßig ist das..." eingingen, erinnert Diemut Roether in epd medien. Auslöser war Günter Eichs Hörspiel "Träume" anno 1951. Bevor das jemand für vorgestrig hält: Anstoß habe vor allem ein Traum erregt, "in dem ein Kind verkauft wird, damit mit seinem Blut ein kranker alter Mann therapiert werden kann".

+++ Gäbe es eine nationale Rangliste der streitbarsten Journalisten, würden Stefan Niggemeier und Boris Rosenkranz von uebermedien.de und Katapult-Gründer Benjamin Fredrich um höchste Platzierungen wetteifern. Jetzt haben sie bzw. ihre Medien sich ineinander verbissen, und zwar kräftig. Hier geht's zur neulich im Altpapier angekündigten Stellungnahme, hier zur Gegen-Stellungnahme.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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