Teasergrafik Altpapier vom 5. November 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 5. November 2020 Lüge zwischen zwei Stullen

05. November 2020, 12:31 Uhr

Nach der Wahlnacht stellen sich mal wieder die Fragen: Welcher Nachrichtenwert sollte Falschaussagen beigemessen werden? Und wie sollten solche Behauptungen vermeldet werden? Brot und Demokratiesoße spielen dabei eine Rolle. Außerdem gibt‘s einen Blick auf Berichterstattung in den USA, auf Diskussionen um Meinungsforschung und ein Geschenkpapier von Alice Hasters. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Steno ≠ Journalismus

So, raus damit: Wer hat es sich tatsächlich angetan, eine zweite Nacht durchzumachen? Dann hatten Sie vielleicht zwischendurch Zeit, ihre Brotschmier-Skills etwas auszufeilen. In einigen Redaktionen wäre das jedenfalls nicht verkehrt. Denn deutsche Medien

"sollten sich deutlich mehr in der Kunst der Zubereitung von Wahrheits-Sandwiches üben – und weniger im schlichten Zubereiten von Trump-Burgern mit Freedom-Lies."

mahnt Samira El Ouassil bei Übermedien (€) nach der Beobachtung der Wahlberichterstattung hierzulande. Nach der ersten Wahlnacht am Mittwochmorgen konnten Schlagzeilen-Leser:innen den Eindruck haben, als sei die US-Wahl bereits entschieden.

Um den Umgang mit Trumps verbalen Siegesposen und seinen unheilschwangeren, teilweise auf Lügen basierenden Tweets wurde viel diskutiert. Nachdem Trump sich gestern morgen zum Sieger erklärte, bevor die Briefwahlstimmen überhaupt ansatzweise fertig ausgezählt waren twitterten etwa

die Tagesschau: "Trump zur Präsidentenwahl: 'Wir haben gewonnen'"

und Focus Eilmeldungen: "Erstes Statement des Präsidenten: Trump behauptet: 'Das ist Betrug, wir haben diese Wahl bereits gewonnen'"

Bei den Stuttgarter Nachrichten hieß es in der Überschrift: "Trump spricht im Weißen Haus: Wir haben diese Wahl gewonnen'"

und beim Gießener Anzeiger: "Donald Trump: Wir haben die Wahl gewonnen"

Bei der taz mahnt Carolina Schwarz geduldig, bei Falschbehauptungen sei es nicht genug, Zitate zu zu stenografieren und in die Welt hinaus zu pushen. Stattdessen müsse eingeordnet werden:

"Und das nicht erst im Fließtext. Sonst macht man eine Lüge zur Schlagzeile. Ausreichend ist auch nicht, Trumps Aussage der Rede seines Herausforderers Joe Biden gegenüberzustellen. Denn ohne Einordnung suggeriert [das], es handele sich um zwei gleichwertige Behauptungen. Dabei ist das eine ein Fakt (Biden: 'Die Stimmen werden noch ausgezählt'), das andere eine Lüge (Trump: 'Ich habe gewonnen')."

Nach Kritik, vor allem bei Twitter, änderten dann aber doch einige Portale ihre Überschriften und Teaser. Beim Spiegel z.B. hieß es Schwarz zufolge ab dem späten Mittwochnachmittag:

"Trump reklamiert Wahlsieg – obwohl das Ergebnis nicht feststeht".

Nachrichtenwert in den Sandwich-Maker

Und da kommen wir zur Brotschmier-Kunst. Die kann ein gutes Hilfsmittel sein, um Falschbehauptungen einzuordnen und so ihren Schaden für die Demokratie zu begrenzen. Der Linguist und Philosoph George Lakoff prägte den Begriff truth sandwich: Statt brav alle Zitate 1:1 mit zu tippen und direkt auf die Smartphone hinaus zu pushen, sie als Überschrift raus zu hauen oder bei Twitter unter die Leute zu bringen, schlägt der emeritierte Berkeley-Prof einen anderen Fokus vor.

Statt jeder falschen Behauptung automatisch durch die Prominenz des Sprechers oder der Sprecherin einen Nachrichtenwert beizumessen, empfiehlt er eine dezidierte Einbettung der Aussage. Das Ganze wird turth sandwich genannt– Wahrheitssandwich. El Ouassil erklärt bei Übermedien in ihrer lesenswerten Kolumne (in der sie noch genauer auf die Probleme und Dynamiken von "Lügen-Loops" und deren Gefahren für die Demokratie eingeht):

"Erst fängt man mit etwas Zutreffendem an, dann berichtet man, was Trump behauptet, um es dann im selben Stück oder Tweet sofort zu widerlegen, wenn es falsch ist. Daraus entsteht ein delikat geschichtetes WLW, mit doppelt Demokratie: Wahrheit – Lüge – Wahrheit."

Ein detailliertes Rezept dafür hat im Sommer auch Roy Peter Clarke beim Poynter Institute for Media Studies in Florida veröffentlicht. Bereits im Juni 2018 beschäftigte sich die US-Medienkolumnistin Margaret Sullivan bei der Washington Post mit dem Begriff.

Und die US-Berichterstattung?

In Aktion trat gestern damit u.a. der New Yorker Journalismusforscher Jay Rosen. Zu Trumps Vorwürfen der Wahlmanipulation von Mittwoch - die er schon seit Monaten kultiviert und für die es bisher keine begründeten Anzeichen gibt – schlug er bei Twitter diese Sandwich-Komposition vor:

"The counting continues in many states without major incident. The president just used his Twitter feed to make shadowy and unfounded accusations of a stolen election. The reality is state officials planned for this, and they are unperturbed."

In der US-Medienlandschaft scheint das mit der Einordnung von Trumps unbegründeter Sieges-Rhetorik und Manipulationsvorwürfen gar nicht so schlecht geklappt zu haben. Bei Poynter beobachtet Harrison Mantas, am Mittwochmorgen seien viele Redaktionen recht fix gewesen mit der Einordnung:

"news organizations were quick to rebut the president’s falsehoods about the outcome of the race. NPR’s Steve Inskeep and Rachel Martin quickly and unequivocally said in the morning news roundup podcast "Up First” that claims by the president were false. The New York Times and Washington Post were also hasty in correcting the president. FiveThiryEight’s election podcast was also quick to note that this pronouncement by the president was expected, as the hosts put the remaining undecided contests into context. We have a long way to go before the winner of the presidential election is decided, and in an effort to prevent harm, news organizations were quick to remind the public of that fact."

MSNBS habe Trumps Rede nicht bis zum Ende übertragen und mit dem Hinweis unterbrochen, dass noch Millionen von Stimmen ausgezählt werden müssten, beobachtete Sinje Stadtlich bei Deutschlandfunks @mediasres. Auch Fox News habe eingeordnet, dass Trumps Siegeserklärung für die Staaten Georgia und North Carolina verfrüht sei. Für weitere Überblicke, wie die US-News-Anchors im TV mit dem Wahlabend und Trumps Lügen umgegangen sind, empfiehlt es sich, durch die Überblicke der New York Times, CNN, beim Nieman Lab oder der Columbia Journalism Review zu stromern. 

Bei netzpolitik.org beobachteten Daniel Laufer und Thomas Rudl allerdings auch:

"Der TV-Sender ABC hingegen übertrug gegen zwei Uhr früh Ortszeit zunächst ein leeres Podium im Weißen Haus und anschließend die Rede des US-Präsidenten. Ungestört konnte er einem Millionenpublikum mitteilen, dass er "zumindest aus meiner Sicht" die Wahl gewonnen hätte und keine Stimmzettel mehr ausgezählt werden sollten."

Mit Blick auf eventuelle Anfechtungen der Wahl, wie Trump es ja bereits angekündigt hat, fordert der Oxforder Journalismus-Prof Rasmus Kleis Nielsen beim Nieman Lab eine transparent kommunizierte Berichterstattungs-Strategie der großen Nachrichtensender FOX und CNN. Die Agentur Associated Press im Vorfeld der Wahl z.B. genau erklärt, wie die Redaktion mithilfe von Stringern und Technologie Informationen sammelt und verarbeitet und welche Kriterien angelegt werden, um die Gewinner zu verkünden. Nielsen:

"Such explanations may help at least some people understand the reasoning behind editorial decisions over how to deal with unsubstantiated allegations about voter fraud, charges that the election has been 'stolen' or candidates declaring themselves winners without hard evidence to back it up. As Facebook and the rest of Silicon Valley has learned in recent years, when you’re intertwined with high-stakes political battles, it’s not just what you do and don’t do that matters. It’s also explaining how and why you do what you do."

Fehleinschätzungen der Meinungsforschung?

Gewonnen hätte den vorherigen Umfragewerten zufolge Biden mit einigem Vorsprung. Sascha Lobo‘s Bestandsaufnahme dazu beim Spiegel:

"der von vielen erhoffte 'Erdrutschsieg' von Joe Biden hat nicht stattgefunden. So gar nicht stattgefunden. Die Umfragen der letzten Wochen waren, was bitter ist für die Demokraten und erst recht für die Umfrageinstitute, ungefähr so falsch oder zumindest irreführend, wie Donald Trump es immer behauptet hat."

Nach ähnlichen Erfahrungen wie bei der Wahl vor vier Jahren warnt die oben schon mal erwähnte Medienkolumnistin Margaret Sullivan bei der Washington Post:

"we should never again put as much stock in public opinion polls, and those who interpret them, as we’ve grown accustomed to doing. Polling seems to be irrevocably broken, or at least our understanding of how seriously to take it is."

Ebenfalls beim Spiegel gibt es eine gute Übersicht zu den Umfragewerten (via Fivethirtyeight) und bisherigen Ergebnissen der Wahl in den Swing States. Dort warnt Holger Dambeck vor vorschnellen Urteilen – nicht nur über den Ausgang der Wahl, sondern auch über die Bewertung der Meinungsforschung:

"Vor allem in Staaten, für die ein knapper Wahlausgang prognostiziert wurde, sind Abweichungen von wenigen Prozenten immer möglich. Denn Umfragen sind generell fehlerbehaftet. Sie beruhen ja auf der Befragung einer Stichprobe, die nicht zwingend das tatsächliche Wahlverhalten der Bevölkerung widerspiegelt."

Denn bei der Bewertung dürfen hyperventilierende Redaktionen auch die angegebene Fehlertoleranz der Umfragen im Blick behalten und dem Publikum das Kleingedruckte etwas genauer erklären. CNN gab bei einer Landesweiten Umfrage z.B. +/- 2,5 Prozent an und eine Aspiration-Umfrage aus Florida +/- 3,7 Prozent, wie Dambeck herausgesucht hat. Und wenn eine Wahl so knapp ist wie der Klopapierbestand in Kölner Drogerien, macht das auf einmal einen großen Unterschied...


Altpapierkorb (Plattformen, Lügen & die US-Wahl; Presseförderung; Verlage in der Corona-Krise)

+++ Trotz US-Wahl feiern wir natürlich weiter unser Jubiläum. Im Laufe des Nachmittags geht ein Geschenk-Papier von Alice Hasters online. Vielen, vielen Dank dafür! "Es ist gleichermaßen gut wie frustrierend, dass 2020 das Jahr ist, in dem das Thema Vielfalt in den Medien ernst genommen wird", schreibt die Journalistin und Buchautorin unter anderem und fragt: "Wie kann es sein, dass gerade dort, wo das Interesse nach neuen Geschichten und Perspektiven besonders hoch sein sollte, so lange wenig bis nichts passiert ist?"

+++ Wie Social-Media-Plattformen mit Trumps Unterstellungen und Falschbehauptungen bei der US-Wahl umgehen hat Poynter zusammengefasst. Der Spiegel zeichnet währenddessen die Entstehung und den Weg von Falschnachrichten über die Wahl im Swing State Pennsylvania nach. Und t3n berichtet von dem durch die Wahl und Corona verursachten Rekord beim Datenverkehr am Frankfurter Intenetknoten.

+++ Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Verlagshäuser beleuchtet Ulrike Simon bei Horizont+.

+++ Nach der Veröffentlichung des Konzepts zur Presseförderung in Deutschland ist der Blick von Tonia Koch bei @mediasres auf die Presselandschaft in Luxemburg interessant. Öffentliche Subventionen gibt es dort schon länger. Jetzt sollen sie neu organisiert werden.

+++ Wie es mit der EJS (Evangelische Journalsistenschule) weitergeht ist noch immer nicht klar, berichtet die Süddeutsche. Ein neuer Jahrgang wurde nicht ausgeschrieben.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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