Das Altpapier am 21. September 2020 Superspreaderin vs. Catwoman
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21. September 2020, 11:42 Uhr
Über Feinheiten der Sprache bei tendenziöser Berichterstattung, und die Sache mit der Rassismus-Studie bei der Polizei. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Können Supermodels fliegen?
Superheld*innen sind Wesen mit besonderen Kräften, die sie entweder durch Experimente, Unfälle, Mutationen, nicht-menschliche Herkunft oder außergewöhnliche technische Raffinesse erlangt haben. Die klassischen Superheld*innen leben seit dem so genannten "Goldenen Zeitalter" der Comicbooks unter anderem im Marvel- und DC-Universum, und sind absolut unterhaltsam. (Hier kann man sich zum Beispiel die Geschichte von Wonder Woman durchlesen, die 1941 von einem BDSM-praktizierenden Feministen, Psychologen und Erfinder des Lügendetektors erdacht wurde, allein das ist schon herrlich. Und Patty Jenkins’ Verfilmung, deren Fortsetzung bereits in den Startlöchern steht, ist ebenfalls gelungen – sogar das T-Shirt dazu sieht spitze aus.)
Vor Jahren musste ich darum schon sehr über den Gag eines britischen Comedians lachen, der das Präfix "Super" in Kombination mit "Model" kritisierte: Was denn bitte diese so genannten "Supermodels" Besonderes könnten - Fliegen? Aus ihren hübsch geschminkten Augen Laserstrahlen schießen? Sich in große grüne Monster verwandeln?!
Ich glaube, dass der Begriff "Superspreader", der bereits hier kurz im Altpapier vom Freitag auftauchte, unter anderem darum diesen merkwürdigen Beiklang hat: Man verbindet jene lateinische Worterweiterung, genau wie das Adjektiv "super" prinzipiell mit etwas Positivem. Die Berichterstattung über die "Superspreaderin" von Garmisch hatte auch darum einen ambivalenten Unterton, der sich bis in die Berichte der öffentlich-rechtlichen Medien weitertrug: Der Bayerische Rundfunk titelte "Ein Superspreader macht Party", und behauptete am 12.9.:
"Die hoch infektiöse 26-jährige US-Amerikanerin war in mehreren Lokalitäten in Garmisch-Partenkirchen unterwegs. Sie und weitere Infizierte seien gleich mehrmals rund um das vergangene Wochenende sowie am vergangenen Dienstag vermutlich in einer Cocktailbar am Marienplatz und in einer irischen Kneipe am Rathausplatz mit zahlreichen weiteren Personen in Kontakt gewesen."
Und dann ziehen wir mit Gesang / in das nächste Restaurant
Mit anderen Worten:
"Drum lasst uns einen geben / wir trinken auf das Leben / Und dann ziehen wir mit Gesang / in das nächste Restaurant / Arm in Arm / das wird warm!"
wie es der Trinklieder-Autor Kurt-Adolf Thelen einst vorschlug, aus dessen zittriger Feder auch die Hits "Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein", "Humbta Rucki Zucki" und "Schau dir die Frauen durchs Weinglas an" stammen. Die Superspreaderin erwies sich quasi als Superpartygirl und gleichzeitig als Superignorantin – vor allem die Bildzeitung malte das in den empörtesten Farben aus, und behauptete, dass sogar die US-Streitkräfte der "unverantwortlichen Frau" drohten.
"Sie wusste, dass sie krank sein könnte. Sie ging sogar zum Corona-Test. Doch das Ergebnis wartete sie nicht ab – und ging lieber auf Kneipentour!"
zürnte die gleiche Zeitung ein paar Tage zuvor. Und das auch noch an einem Dienstag, Herrschaftszeiten. Wo anständige Bürger nach der Tagesschau ins Bett gehen, denn am nächsten Morgen kräht früh um 6 Uhr der Hahn, weil Zeit für die Morgenmette ist.
Abgesehen davon, dass mir ehrlich gesagt die Idee einer amtlichen Kneipensause im Zusammenhang mit Garmisch-Patenkirchen noch gar nicht gekommen war (wer hätte gedacht, dass es dort überhaupt eine Bar gibt, die länger als 22 Uhr geöffnet ist....?) abgesehen davon stellte sich die gesamte Geschichte mit der Frau, deren Superkraft das Verteilen des Coronavirus ist, als Quatsch heraus, wie es ein paar Tage später auf der Homepage der Tagesschau zu lesen war:
"Bekannt wurde außerdem, dass die Frau am Dienstagabend keineswegs auf "Kneipentour" war, wie Behörden, Politiker und Medien bis heute schreiben, sondern in einem Lokal. Zudem dürfen reine Bars, Kneipen und Betriebe des Nachtlebens in Bayern noch gar nicht öffnen. Streng genommen handelt es sich bei den Lokalitäten daher um Speiselokale. Einen anderen Betrieb besuchte die Frau vor ihrem Test - und damit auch vor einer möglichen Quarantäne."
Nur ein Dinner
Die Frau war also einfach nur etwas essen. Zudem: von 700 im Zusammenhang mit diesem Fall durchgeführten Coronatests kamen drei positiv zurück, und bei denen sind die Ansteckungswege nicht erwiesen.
Die Phantasien von der großen Garmisch-Wochenend-Party-Orgie können sich die genannten Nachrichtenredaktionen demnach abschminken, und über den Begriff des "Superspreaders" muss man auch noch einmal nachdenken: Einen oder auch mehrere Menschen anzustecken ist immer ein Versehen, und sollte darum vielleicht lieber mit einem sachlicheren Wort bezeichnet werden, nicht mit einem, das durch seinen aktiven und positiven Marvel-Klang die falsche Assoziation impliziert. Wie wäre es denn mit "unwissend infizierte Person"?
Antisemitismus bei der Polizei "Alltag"
Sprache spielt auch bei diesem Thema eine Rolle: In Bezug auf die Fälle von Rassismus bei der Polizei benutzte der Presseclub-Moderator Jörg Schönenborn am Sonntag klare Worte:
"Es ist beängstigend sich vorzustellen, dass Polizisten sich Bilder von Adolf Hitler oder antisemitische Witze oder schicken. Aber dass das passiert, ist vermutlich Alltag."
Auch der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Reul geht nicht mehr von Einzelfällen aus. Die anwesenden Journalist*innen plädierten zum Teil für umfassende Untersuchungen, um eine "bessere empirische Basis" zu bekommen, standen also hinter der Idee des "strukturellen Problems", die Horst Seehofer konsequent verneint, indem er eine unabhängige Studie zur Stimmung in der Polizei ablehnt, und stattdessen eine "gesamtgesellschaftliche Studie" in Auftrag geben will. Nur der Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung warb um "Augenmaß", und kam mit der Metapher um die Ecke, man glaube ja auch nicht, dass
"die Herausgeber deutscher Tageszeitungen einen Drall nach rechts haben, nur weil Alexander Gauland mal Herausgeber der märkischen Allgemeinen war".
Verfassungstreue Polizist*innen
Was als Vergleich insofern enorm hinkt, als dass eine Zeitung schlichtweg keine Polizeibehörde ist, und Gauland zudem nur ein Mensch, und nicht (bis jetzt) mehrere Hundert in verschiedenen Bundesländern, die teilweise untereinander vernetzt sind. Es ging noch ein wenig um die Frage "Studie – ja oder nein?", könnte man nicht einfach die Fälle aufklären und damit hat es sich, fragte Schönenborn bewusst provokativ. Aber er weiß natürlich, dass es sich damit nicht hat, denn, wie die Zeit-Journalistin Astrid Geisler betonte:
"es ist etwas anderes, ob ein Polizist rassistische Einstellungen hat, oder ob das mein Automechaniker ist, oder ein Gärtner. Ein Polizist hat (...) unter anderem Zugang zu Waffen, der hat Zugang zu sensiblen Informationen."
Das stimmt alles – und dazu kommt, dass Polizist*innen absolut dazu verpflichtet sind, die demokratischen Grundwerte zu achten und die daraus resultierenden Gesetze zu befolgen. Wer soll denn sonst verfassungstreu sein, wenn nicht die?!
Altpapierkorb ( ...mit TV-Ausfallfonds, Serdar Somuncu und den Emmys)
+++ Die FAZ berichtet über die geplanten Ausfallfonds für Fernsehproduktionen – schwierige Geschichte, denn die Finanzierung von Fernsehinhalten und Kinofilmen ist einerseits anders, und andererseits miteinander verbandelt, wenn etwas Sender Produktionen mitfinanzieren. Der Bereich Fernseh- und Auftragsproduktionen "warte weiterhin sehnlichst auf eine Ausfallsicherung für Covid-19-bedingte Drehausfälle und sehe sich kontinuierlich einem enormen unternehmerischen Risiko ausgesetzt."
+++ Im Tagesspiegel konstatiert Hatice Akyün mit Verwunderung, dass Serdar Somuncus dumpf-sexistische Sprüche (Donnerstag kurz im Altpapier), die er selbst satirisch gemeint haben will, nicht längst zu einem lauteren Aufschrei geführt hat, und sagt: "Wenn Männer gegenüber Frauen sexualisierte Sprache verwenden, geht es ihnen nie um Sex. Es geht ihnen um Macht, darum, uns Frauen in Angst und Schrecken zu versetzen." Der Aufschrei bislang hält sich erstaunlicherweise wirklich in Grenzen – der inkriminierte Podcast ist mit Kürzungen weiter abrufbar, und man sendet auch in Zukunft weiter.
+++ Und nun schnell noch zu etwas Schönem: Die Emmys sind in dieser Nacht vergeben worden, in feinstem coronaabweisenden Schutzanzug. Den Gewinner*innen, die live aus ihren Wohn- und Schlafzimmern zum Moderator Jimmy Kimmel geschaltet waren, wurde die Trophäe mit Glück von einem Menschen in einer Mischung aus Smoking und Astronautenuniform überreicht. Es freute sich unter anderem Regisseurin Maria Schrader, die einen der US-Fernsehpreise für ihre atmosphärische Mini-Serie "Unorthodox" verliehen bekam, eine freie Adaption des gleichnamigen Buchs von Deborah Feldman. Masel tov!!! Trump-Bashing gab es bei der Show übrigens massenhaft – die Unterhaltungsbranche hat die Faxen dicke.
Neues Altpapier gibt es am Dienstag!
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