Das Altpapier am 10. September 2020 Brandaktuelles Versagen
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10. September 2020, 10:18 Uhr
Die Brandkatastrophe in Moria war abzusehen, aber die richtigen Fragen werden noch nicht gestellt. Und Ramelow berichtet bei Lanz vom Dilemma, between a rock and a hard place zu sein. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Rise like a phoenix?
Dem Feuer wird ja von jeher neben der zerstörerischen auch eine erneuernde Kraft zugeschrieben, siehe Phönix (griechische und ägyptische Mythologie sowie Conchita Wursts ESC-Gewinnersong). Im Falle Moria ist auch nichts anderes möglich: Schlimmer als die überbelegten, menschenunwürdigen, erbärmlichen Buden, die die Lebensgrundlage für 12 000 Geflüchtete inklusive Kinder bildeten, und über die aufgrund von Coronafällen auch noch eine Ausgangssperre verlegt worden war, geht es – in Europa – vermutlich kaum. Aus dem von den Flammen geschluckten "Symbol für das Versagen europäischer Flüchtlingspolitik", wie es am Mittwoch in einem "ZDF spezial" hieß, kann nur etwas Neues entstehen. Aber wann, und was?
Der Migrationskommissar der EU Margaritis Schinas, behauptete in besagter Sendung etwas kryptisch:
"Moria ist nicht der Fehler von Europa, Moria ist die Konsequenz von einem nicht existierenden Europa".
Auf die Frage, was sich nach der erwartbaren Katastrophe, (manche wie der griechische Parlamentsabgeordnete Giannis Bornous nennen sie "geplantes politisches Verbrechen") denn nun ändern wird, antwortete er:
"Dieses Mal werden wir an einem gesamtheitlichen Ansatz arbeiten, und wir werden drei Elemente zusammenbringen: zunächst mal arbeiten wir besser mit unseren Nachbarn, und wir werden besser Beziehungen zu den Transitländern herstellen. Zweitens werden wir sicherstellen, dass unsere Außengrenzen überwacht werden, und zwar gemeinsam mit der europäischen Küstenwache. Und zum Schluss werden wir ein Solidarsystem aufbauen um die Lasten zu teilen unter allen Mitgliedern der Europäischen Union. (....) Sie werden in ein paar Wochen unseren Vorschlag auf dem Tisch sehen."
Wann kommen die konkreten Fragen?
Und dann war leider schon wieder die Zeit vorbei, und Nachfragen ging nicht mehr: Ja, ist das denn so einfach, "besser mit den Nachbarn" zu arbeiten? Woran ist es dann bislang gescheitert? Hat das Überwachen der Außengrenzen irgendeinen Einfluss auf die Fluchtursachen? Und die vielleicht wichtigste Frage: Wo schlafen die 12 000 Menschen jetzt, heute Nacht, die nächsten Tage und Nächte, bis "in ein paar Wochen" der Vorschlag "auf dem Tisch" landet? Irgendwie ist man nach solchen schnell zusammengeschusterten Sendungen, die zwar durch die Relevanz und Monstrosität der Ereignisse durchaus ihre Berechtigung haben, aber kaum neue Erkenntnisse bringen, immer genauso sprach- und ratlos wie vorher, und einfach nur noch trauriger.
Die taz berichtet in einer großen Reportage von den letzten Tagen vor dem Brand im Lager, von den unfassbaren hygienischen Verhältnissen, der Corona-Quarantäne, der
"Mischung aus Traumatisierung, Stress, Ungewissheit und Verelendung",
und schreibt weiter:
"Griechenland hätte Ressourcen, um die Menschen würdig unterzubringen. Doch das Elend soll weitere Flüchtlinge abschrecken."
Vielleicht kann der Gedanke in der nächsten Spezial-oder Extra-Sendung ja mal in die Fragen einfließen.
Lanz rüffelt Ramelow
And now to something completely different: Am Dienstagabend war Bodo Ramelow bei Markus Lanz zu Gast, und man stritt sich über die Position der Linkspartei zum Fall Nawalny (in Kürze: Lanz will hören, dass es keine andere Täter-Möglichkeit als die russische Regierung gibt, Ramelow will sich nicht darauf festnageln lassen und verweist darauf, dass auch in anderen Ländern Folter-Betrugs- und Mordsitten herrschen, und will zudem nicht immer als Russlandfreund gebrandmarkt werden). Lanz habe Ramelow "gerüffelt", nennt es "Der Westen", verschweigt in seiner Kritik aber die Wendung, die das Gespräch anschließend nahm: Es ging nämlich auch noch um das Hin-und-Her in Bezug auf den gesundheitlichen Zweck von Masken. Und da, vielleicht weil Ramelow ein kleines bisschen weichgekocht war, vielleicht weil Lanz, obwohl er seinem Gast zuweilen sekündlich ins Wort fiel, ihm dennoch in seinen typischen Lanz-Befindlichkeitsfragen Platz für die echte, moralische Empörung und damit für eine politikuntypischen Summe an Authentizität ließ, da jedenfalls plauderte Ramelow aus dem Regierungsnähkästchen, beziehungsweise aus den Corona-Krisenrunden im Frühjahr (ab Minute 51 der Sendung "Markus Lanz"; Anm. d. Red.):
"Als Manuela Schwesig ganz vehement gestritten hat für Mundnasenbedeckung, gab es keine Bereitschaft damals das zu machen."
Vor allem der Bund und Bayern hätten die Idee abgelehnt, mit Verweis auf die damalige Einschätzung des RKI in Bezug auf die unbestätigte Wirkung von Masken. Weiter Ramelow:
"Und dann hieß es: wir haben keine Masken. Das stimmte."
Altes und Neues aus dem Regierungsnähkästchen
Da wäre jetzt natürlich DER Moment gewesen, um zu fragen, was hinter der ganzen Geschichte wie ein Rosa Elefant im Raum steht: Beruhte die damalige Entscheidung gegen Masken tatsächlich ausschließlich auf die Einschätzung des RKI, oder steckte eben auch die "Panik wegen fehlender Masken Vermeiden!"-Strategie dahinter?! Das konnte Lanz zunächst nicht fragen, weil Ramelow, der alte Kommunikationsfuchs, das Thema schnell entschärfte, indem er Lanz mit dem Geschenk selbstgenähter, oder zumindest selbst transportierter Thüringer FFP2-Masken ablenken wollte, und gleich noch eine Portion Eigenlob ablieferte ("Wir in Thüringen..." etc. pp.)
Aber da holte Lanz tatsächlich mal seine eigenen Fuchsqualitäten raus. Er blieb dran, und fragte nochmal nach, ob man mit dieser "Kommunikation" tatsächlich nicht "rausgegangen" sei, weil man eben keine Masken habe.
"Ja klar" so Ramelow, aber
"wenn ich es anordne und ich kann es den Bürgern nicht geben weil wir es nicht haben, dann ist das eine Anordnung bei der der Staat dafür sorgt dass wir uns selbst widersprüchlich verhalten."
Da ist es also, das immer schon vermutete und nicht lösbare Dilemma, von Ramelow nur notdürftig durch ein paar verallgemeinernde Halbsätzen verkleidet: Hätte man als Staat zugeben sollen, dass man den Bürger/die Bürgerin nicht schützen kann? Oder aus Stimmungsgründen behaupten sollen, ihn oder sie schon ausreichend zu schützen, und darauf hoffen, dass es besser geht als befürchtet? Zut Alors. Gekippt ist die Stimmung jedenfalls trotzdem. Wie man’s macht, ist es vermutlich verkehrt. Und wenn man sich dann anschaut, was sich gerade aus Bob Woodwards neuem Buch über Donald Trump entwickelt – hier ein Text im Spiegel, hier in der FAZ – und wie der US-Präsident sich mit seinem Verhalten immer wieder auf das „Vermeiden von Panik“ zurückzieht, dann wird das Geschmäckle nicht leckerer.
Altpapierkorb (SR-Intendanz, Seehofers "Jesuskeule", "Keeping up with the Kardashians")
+++ Der 66jährige Intendant des Saarländischen Rundfunks, Thomas Kleist, gibt vorzeitig seinen Posten auf, berichtet die FAZ. (Vielleicht hatte er keine Lust mehr, sich für mickrige 245 000 Euro Jahresgehalt weiter derartig aufzureiben... hier nochmal die interessante Gehaltsliste der ARD, nur so aus Bock. Der SR-Intendant bekommt danach am wenigsten.). Vielleicht wird ja eine Frau als Nachfolgerin gewählt, dann wären’s vier von zehn.
+++ Horst Seehofer, meldet die Süddeutsche, regt sich über die Entscheidung des Presserats bezüglich der All-Cops-are-berufsunfähig-taz-Kolumne auf (gestern berichtete das AP), und schreibt, "als Christ" werde er eine solche Sprache niemals akzeptieren. Puh. Die Jesuskeule wieder. Der Tagesspiegel berichtet ebenfalls.
+++ Unter anderem die taz vermeldet das Ende von "Keeping up with the Kardashians", vermag aber deren Erfolg über den vagen "Einfluss auf Influencer*innen" hinaus nicht wirklich zu erklären. Dabei kann man sicher sein, dass irgendwo da drin griechisches Drama schlummert, wenn nicht noch mehr. Wer einen Eindruck von den Abgründen bekommen möchte, sollte sich mal dieses immer wieder erstaunlich erfrischende 73-Fragen-Video-Format der Vogue anschauen, in dem Kim Kardashians auffälliger Somnambulismus keinen Zweifel daran lässt, dass sie irgendetwas Gruseliges im Schilde führt, während ihr Mann Kanye West auf die Frage, was das Schöne am Vatersein sei, sybillinisch antwortet: "The Kids". Huah.
Neues Altpapier gibt es am Freitag.
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