Das Altpapier am 9. September 2020 Die Presse darf respektlos sein
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09. September 2020, 12:45 Uhr
Das Textverständnis des Presserats ist besser als das vieler Journalisten. Die NZZ trennt sich von einem Autor, der einen Artikel unzulässigerweise von KenFM republizieren ließ. Das Oberhaupt der Familie Hohenzollern ist in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten recht klagefreudig. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Eine gründliche Textexegese des Presserats
- Kann eine namhafte Familie eine historische Debatte "ersticken"?
- Sollte nachts die Sonne scheinen?
- Die Schwächen der Berichterstattung über extremes Wetter
- Altpapierkorb (Julian Reichelt sagt die Unwahrheit, TINA-Syndrom beim RBB, eingeschränkter Zugang für Öffentlichkeit zum Prozess gegen Julian Assange, Botho Strauß remixt altes Zeug, Statistiken zu YouTubes Uploadfilter)
Eine gründliche Textexegese des Presserats
All die Cop Lover unter den deutschen Journalisten, die, nachdem Hengameh Yaghoofibarahs taz-Kolumne "All cops are berufsunfähig" erschienen war, so getan haben, als könnten sie nicht lesen, sind seit gestern schlecht gelaunt. Denn: Der Presserat hat bekannt gegeben, wie er die Sache sieht:
"Die Kolumne verstoße nicht gegen die Menschenwürde von Polizist*innen, da sich die Kritik nicht auf Einzelpersonen, sondern auf eine Berufsgruppe beziehe (…)"
So fasst Christian Rath für die taz Teile der Entscheidung zusammen. Eine Überraschung ist das nicht - schon eher eine in seinem Text mitgelieferte Statistik:
"Gegen die Kolumne gingen beim Deutschen Presserat 382 Beschwerden ein, darunter etliche von Polizeivertreter*innen. Sogar Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte sich an den Presserat gewandt, nachdem er auf eine zunächst angekündigte Strafanzeige verzichtete. Nach Einschätzung des Presserats gab es noch nie so viele Beschwerden über einen konkreten Text. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 erreichten den Presserat 2.175 Eingaben."
Johannes Schneider kommentiert bei Zeit Online:
"Entscheidend ist, dass der Presserat als journalistische Institution neben seiner ethischen auch seiner Pflicht nachgekommen ist, gründliche Textexegese zu betreiben. Und so teilt er mit: 'Die Interpretation einiger Beschwerdeführer, Polizisten würden mit Müll gleichgesetzt, ist aus Sicht des Gremiums nicht zwingend. Es handelt sich hier um ein drastisches Gedankenspiel, das aber – wie aus der Kolumne hervorgeht – Raum für unterschiedliche Interpretationen bietet und daher noch unter die Meinungsfreiheit fällt.'"
Das, so Schneider, sei "der springende Punkt". Denn:
"Was der Kolumne von Vertretern staatlicher Stellen, aus Teilen der Politik und sogar aus der eigenen Redaktion zentral vorgeworfen wurde, geht aus ihr nicht zweifelsfrei hervor. Der Text mag als respektlos empfunden werden, er fällt ein vernichtendes Urteil über Polizeiarbeit. Aber Respektlosigkeit ist nichts, was gegenüber Erzeugnissen einer freien Presse als Vorwurf taugt."
Kann eine namhafte Familie eine historische Debatte "ersticken"?
Fünf komplette Feuilletonspalten bzw. mehr als 18.700 Zeichen hat die FAZ (€) den Historikern Eva Schlotheuber und Eckart Conze zur Verfügung gestellt, um einen Strauß sehr bemerkenswerter medienrechtlicher Fälle zu beschreiben. Georg Friedrich von Preußen, das Oberhaupt des Hauses Hohenzollern, gehe "über seinen Anwalt massiv juristisch (…) insbesondere gegen Wissenschaftler und Journalisten vor", schreiben die Autoren. "Ausdruck dessen ist eine steigende Zahl von Abmahnungen und Unterlassungsaufforderungen. Die Familie selbst sprach im Februar 2020 von 120 Fällen."
Es bestehe bei den Hohenzollern offenbar "kein Interesse" an "einer öffentlichen Debatte über die politische Rolle von Angehörigen des 'Hauses' vor und während der nationalsozialistischen Machtübernahme", konstatieren Schlotheuber und Conze. Den "Ton" des juristischen Vorgehens empfinden sie als "aggressiv". Worum geht es Detail? "Inkriminiert" worden seien zum Beispiel
"zwei Sätze eines Interviews von der Vorsitzenden des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) mit dem Deutschlandfunk (…), von denen einer lautet: 'Das Aushandeln der Bewertung der Vergangenheit muss ein Dialog auf der Basis von Argumenten und begründeten Einschätzungen sein.' Der Satz wird beanstandet, weil 'dabei der Eindruck entsteht, Georg Friedrich von Preußen wende sich gegen eine Bewertung der Vergangenheit auf der Basis von Argumenten'. Das erfülle den Tatbestand einer Falschaussage."
Puh, das Ganze ist also was für Feinschmecker des Medienrechts. Nebenbemerkung: Die eben zitierte Passage klingt in einer Hinsicht seltsam, denn die erwähnte Vorsitzende des VHD ist Autorin Eva Schlotheuber. Dass sie das ist, steht zwar unter dem Text. Aber über sich in der dritten Person zu schreiben, ist eine suboptimale Lösung. Auch über Co-Autor Conze erfahren wir, er sei wegen eines Interviews mit dem Deutschlandfunk "juristisch angegriffen" worden, und auch von ihm ist in der dritten Person die Rede. Was hätte dagegen gesprochen, den entsprechenden Passagen eine Formulierung à la "Auch wir, die Autoren, sind von juristischen Angriffen betroffen" voranzustellen?
Die Angriffe, so das Autorenduo, richteten sich im Übrigen
"auch gegen Politiker, Journalisten, Juristen, Blogger, Publizisten, Zeitungen, Radio- und Fernsehsender (…) Viele Betroffene haben seither Interviews oder andere mediale Äußerungen abgelehnt, manche Journalisten wurden aufgrund der drohenden Anwaltskosten von ihren Redaktionen mit anderen Aufgaben betraut. Das unverzichtbare öffentliche Aushandeln der für die Bundesrepublik so wichtigen Thematik ist unter diesen Umständen deutlich erschwert, die Debatte wird regelrecht erstickt."
Wenn "viele Betroffene (…) mediale Äußerungen abgelehnt haben", würde das erklären, warum über das Ausmaß dieses juristischen Vorgehens bisher wenig zu erfahren war. Vorbildliche Ausnahmen sind dieser und dieser Artikel bei fragdenstaat.de.
Sollte nachts die Sonne scheinen?
Über eine rechtliche Angelegenheit ganz anderer Art informiert uns auf durchaus unterhaltsame Weise Marko Ković von der Schweizer Medienwoche.
Milosz Matuschek war bisher Autor bei der NZZ, doch nun hat ihn die Zeitung in die Wüste geschickt, denn er hat einen Text von ihm, der in der NZZ erschienen war, von Ken Jebsens Laden republizieren lassen. Das fand aber der Verlag nicht witzig, weil Matuschek Jebsen gar nicht das Republikationsrecht einräumen kann.
"Am 8. September löschte KenFM schliesslich die Kolumne, sowie mehrere Übersetzungen des Texts in andere Sprachen",
schreibt Ković, der auch anmerkt, "das Irritierende" an dem Matuschek-Text mit dem Titel "Kollabierte Kommunikation: Was, wenn am Ende 'die Covidioten' recht haben?" sei, dass er sich wie eine KenFM-Erstveröffentlichung lese.
Der Fall gibt mir die Gelegenheit, hier noch den "obskuren 'Appell für freie Debattenräume'", wie ihn die SZ am Wochenende nannte, zu berücksichtigen. Matuschek - ein aktuelles Interview mit ihm nimmt Patrick Bahners in einem kurzen Thread auseinander - ist einer der beiden Initiatoren. Die SZ schrieb dazu:
"Der demokratische Prozess sei bedroht, heißt es da, es sei Zeit, 'das freie Denken aus dem Würgegriff' zu befreien. Der (…) 'Appell' (…) verzerrt eine lebendige Öffentlichkeit, die sich gegen illiberale, antisemitische oder auch nur irreführende Positionen verwahrt, als Krisensymptom und verlangt Toleranz auch für die Intoleranten."
Neben den üblichen rechten Heinis und Hildas bzw. Leuten, "deren Karriere in den letzten Jahren darin besteht, sich von einer linken Meinungsdiktatur unterdrückt zu fühlen" (Anatol Stefanowitsch im Interview mit RBB Kultur), fand sich unter den Erstunterzeichnern des Appells zunächst auch der Name Alexander Kluge, der, nachdem ihn die SZ angerufen hatte, allerdings sagte, das beruhe auf einem Missverständnis. Inzwischen hat Kluge, wie gegenüber der SZ angekündigt, seine Unterschrift zurückgezogen.
Besonders drollig an dem "Appell für freie Debattenräume" ist übrigens folgende Passage:
"Wir brauchen eine generelle Ent-Politisierung und Ent-Ideologisierung der öffentlichen Debatte. Sonst öffnen wir der Willkür des Zeitgeistes Tür und Tor."
Das ist ungefähr so plausibel wie die Forderung, dass wir dafür sorgen müssen, dass der Regen nicht mehr nass ist und nachts die Sonne scheint.
Die Schwächen der Berichterstattung über extremes Wetter
Wie man über die Klimakrise berichtet, und woran es in der Berichterstattung fehlt - das war im Altpapier kürzlich häufig ein Thema (in dieser, dieser und dieser Kolumne). Zu dem gestern hier erwähnten Offenen Brief, der bei Übermedien erschienen ist, gibt es ebendort auch bereits eine Replik Ralf Nestlers, der vor einem "schrillen Ton" in der Berichterstattung warnt.
Ein konkretes Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte, nennt Emily Atkin vom Newsletter und Podcast Heated. Es geht um die Berichterstattung über die aktuellen Waldbrände in Kalifornien. Unter den Medien, die Atkin kritisiert, ist die New York Times:
"Section A, page 12 of today’s New York Times contains a big story about the unprecedented weather pummeling California. Titled 'Extreme Heat Turns State Into a Furnace', the piece contains more than 1,700 words of devastating detail about how heat, fire, and toxic air are affecting people in the state. But none of those details were about why things are getting so bad. None of those words were 'climate change.'”
Generell beobachtet Atkin:
"News outlets like the Times, the Post, and the AP have climate reporting teams. These teams all publish important stories about how the climate crisis fuels extreme weather across the country. The Times in particular has increased its climate coverage substantially in the last few years (…) But these stories are, for the most part, stand-alone stories. The facts contained within them are not often integrated into daily coverage of extreme weather events (…) The repeated and prolonged failure of mainstream news outlets to include basic climate science facts in extreme weather coverage is an abdication of their core responsibility."
Dafür, dass in der Berichterstattung über "extreme weather" das Schlagwort Klima fehlt, lässt sich auch ein aktuelles Beispiel aus dem MDR-Reich nennen. Seit dem 1. September läuft in den "Tagesthemen" von montags bis donnerstags die Rubrik "Mittendrin", und als erster Beitrag der neuen Reihe war eine Reportage über "Deutschlands trockensten Ort" zu sehen: Artern in Thüringen. In dem vom MDR zugelieferten Beitrag für die "Tagesthemen" taucht der Begriff "Klimawandel" nicht auf. Immerhin: In der Online-Textfassung zum Film ist er zu finden.
Altpapierkorb (Julian Reichelt sagt die Unwahrheit, TINA-Syndrom beim RBB, eingeschränkter Zugang für Öffentlichkeit zum Prozess gegen Julian Assange, Botho Strauß remixt altes Zeug, Statistiken zu YouTubes Uploadfilter)
+++ Dass Julian Reichelt bei einem jämmerlichen Versuch, sich für die Berichterstattung über Solingen (Altpapier, Altpapier) zu rechtfertigen, eine Unwahrheit über eine Pressekonferenz der Polizei verbreitet hat, arbeitet der Bildblog auf.
+++ Schlesinger oder nix: Für die auf der morgigen RBB-Rundfunkratssitzung stattfindende Intendantenwahl hat eine vom Rundfunkrat eingesetzte Wahlkommission nur die Amtsinhaberin Patricia Schlesinger zur Wahl vorgeschlagen - obwohl es auch andere Bewerber gegeben hat. Die Medienkorrespondenz berichtet.
+++ Amnesty International kritisiert, dass "allen 40 angemeldeten Nicht-Regierungsorganisationen" der Zugang zum Prozess gegen Julian Assange (Altpapier von Dienstag) "verwehrt" worden sei, Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen weist darauf hin, dass "vorab durch die Justizverwaltung ausgegebene Videolinks auch am zweiten Prozesstag in dieser Woche nicht funktionierten", und der Wikileaks-Journalist Kristinn Hrafnsson bemängelt, dass "nur rund ein Dutzend" Pressevertreter den Prozess verfolgen können. Sie alle werden zitiert in einem ND-Artikel von Daniel Lücking, der einen Überblick darüber gibt, inwiefern der Zugang zu dem Verfahren für die Öffentlichkeit eingeschränkt ist.
+++ Peter Hintz hat für 54 Books über "Der Leviathan unserer Tage" geschrieben, den neuen bzw. "neuen" Essay des Schriftstellers Botho Strauß, für den dieser dieses Mal die Zeit als Verbreitungsort gewinnen konnte: "Es gehört nun zu den etablierten Kuriositäten der deutschen Nachrichtenmedien, dass dort alle 3-5 Jahre ein neuer, kulturkritischer Großessay von ihm erscheint. Diese Texte verstehen sich in der Nachfolge seines Aufsatzes 'Anschwellender Bocksgesang' (1993), der während der Jugoslawienkriege dem bürgerlichen Ressentiment gegen Geflüchtete Ausdruck verlieh und zum Gründungsdokument der Wendegeneration der sogenannten Neuen Rechten wurde." Sogar Strauß-Fans könnten sich ein bisschen langweilen, denn: "Wie 'Der Leviathan unserer Tage' zeigt, hat sich seit 'Der letzte Deutsche', seinem 2015 erschienenen Spiegel-Text (zumindest essayistisch) nicht sehr viel bei Strauß getan. Strauß ist – so viel Metapher sei hier selbst erlaubt – ein intellektueller Wiederkäuer. Ältere Textstellen hat er, um damaligen verschwörungsideologischen Anklang erleichtert, übernommen."
+++ Michael Hanfeld hat den aktuellen Transparenzbericht von Google gelesen und präsentiert in der FAZ (€) Statistiken zu der Löschung von YouTube-Inhalten durch automatische Upload-Filter: "11 401 696 Videos hat Youtube im vergangenen Quartal, im Zeitraum zwischen April und Juni, gelöscht (…) 10 849 634 Videos wurden automatisch entfernt, 42 Prozent davon, bevor sie ein Nutzer gesehen hatte, 33,7 Prozent, die bis zu zehn Nutzer aufrufen konnten, und 24,3 Prozent, die mehr als zehn Nutzer aufgerufen hatten. Die manuelle Löschung nimmt sich dagegen verschwindend gering aus (…) (Die) Zahl der Löschungen nach 'manuellen Meldungen' von Nutzern (beläuft sich) auf 382 499, die Zahl der Meldungen von sogenannten Trusted Flaggern auf 167 318."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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