Das Altpapier am 8. September 2020 Talkshows sind auch bloß Cliquentreffen
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08. September 2020, 11:42 Uhr
Ist Solingen das neue Gladbeck? Wird die entsprechende Berichterstattung von Bild und RTL also in die "nationale Mediengeschichte" eingehen? Sind die öffentlich-rechtlichen Talkshow-Redaktionen wirtschaftsfreundlich? Verheißt es irgendetwas Gutes, wenn das ZDF ankündigt, "aspekte" zu einem "Reportageformat" machen zu wollen? Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Manchmal ist Journalismus dann doch ein Verbrechen
- Jetzt oder nie
- Die "oftmals nationale Herangehensweise" der Talkshows
- Neues vom Kulturjournalismus
- Altpapierkorb (Keine Ermittlungen wegen "All cops are berufsunsfähig", "Leipziger Impuls II", Arte-Themenwoche "Schule ist klasse!", 75 Jahre Franz Beckenbauer)
Manchmal ist Journalismus dann doch ein Verbrechen
Lässt sich ein Bogen schlagen von der Wiederaufnahme des Auslieferungsprozesses gegen Julian Assange in London und der Berichterstattung der Bild-Zeitung, von bild.de und RTL über #Solingen (siehe Altpapier von Montag)? Vielleicht.
Greifen wir erst einmal einen der medienkolumnistisch relevanten Aspekte des Londoner Verfahrens heraus:
"Wenn Julian Assange von Großbritannien in die USA ausgeliefert wird, dann ist das ein Präzedenzfall für die Pressefreiheit. Und das heißt, dass Whistleblower sich nicht mehr sicher sein können. Und deswegen ist dieser Fall für Reporter ohne Grenzen ganz wichtig."
Sagt Christian Mihr von eben jener Organisation, und zitiert hat es der ARD-Hörfunkkorrespondent Christoph Heinze in einem bei tagesschau.de veröffentlichten Beitrag. Und Jörg Schindler (Spiegel) beschreibt die Atmosphäre zu Beginn des Prozesstages folgendermaßen:
"Draußen haben sich Dutzende Demonstranten versammelt mit Transparenten wie 'Journalismus ist kein Verbrechen'. Drinnen, in einem holzgetäfelten Saal ohne natürliches Licht, ist es unerträglich heiß."
Normalerweise würden wir hier so eine Passage vielleicht gar nicht aufgreifen, aber zumindest für mich hat der Slogan "Journalismus ist kein Verbrechen" in diesen Tagen einen anderen Beiklang als sonst.
An dieser Stelle bietet es sich an, rein zu blenden in Samira El Ouassils Übermedien-Artikel zu #Solingen). Sie schreibt, es gebe "Momente im Journalismus", die
"in die nationale Mediengeschichte als komplettes Versagen medienethischer Standards eingehen müssen. Solche extremen Fälle scheinen gegeben, wenn eine Berichterstattung eine derartige Attacke auf die Werte einer Gesellschaft darstellt, dass sie zum Verbrechen wird, was zum Beispiel dann geschehen kann, wenn Opfer oder Schutzbefohlene nicht geschützt werden oder eine unentschuldbare Pietätlosigkeit vorliegt."
Zu den "Attacken auf die Werte einer Gesellschaft", die sich als Verbrechen bezeichnen lassen, zählt El Ouassil "die Abbildung des Amoklaufs in Winnenden und die "Interviews mit den Geiselnehmern von Gladbeck (…) Und die Berichterstattung über den überlebenden elfjährigen Jungen aus Solingen, dessen Mutter seine Geschwister mutmaßlich getötet hat – ein neuer Tiefpunkt."
Journalismus kann also durchaus ein Verbrechen sein. Sollte man den Slogan, der behauptet, dass das Gegenteil zutreffe, angesichts seiner fehlenden Allgemeingültigkeit langsam mal ausrangieren? Trotz der Bedeutungsunterschiede - die Protestierenden in London betonen, dass Journalismus kein Verbrechen im juristischen Sinne ist, während El Ouassil über moralische Verbrechen schreibt - wäre das vielleicht eine Überlegung wert.
Gladbeck, Winnenden - die von El Ouassil erwähnten Bezugspunkte nennt auch Tanjev Schultz, Journalistik-Professor in Mainz, in einem Beitrag für t-online. Darüber hinaus erwähnt er die Berichterstattung über den Germanwings-Absturz (Altpapier). Schultz schreibt:
"In solchen Situationen rastet ein Teil der Branche aus, verliert jede Hemmung und jeden Anstand. Die Regelmäßigkeit, in der es geschieht, legt allerdings nahe: In manchen Redaktionen sind es keine Ausraster, sondern Routinen. Es gibt keinen Anstand."
Dass es den "in manchen Redaktionen" nicht gibt, lohnt sich zu erwähnen - angesichts dessen, dass in der Kritik an der #Solingen-Berichterstattung ein bisschen zu viel von Anstand die Rede ist. Auf der Website des Verdi-Medienmagazins M - Menschen Machen Medien heißt es etwa:
"(Einige) Kommentatoren verteidigen zwar das umfassende Beschaffen von Informationen – auch bei trauernden Angehörigen oder minderjährigen Opfern –, (…) fordern (aber) die Einhaltung journalistischer Regeln und moralischen Anstand. Das tut Not."
Nö. Finde ich nicht. Denn:
"Moralische Appelle an Springer-Führungskräfte halte ich (…) für naiv, denn keine Moral zu haben, ist ja eine unabdingbare Voraussetzung, um bei Springer auf einen Führungsposten zu gelangen."
Das stand hier vor ein paar Wochen schon mal in einem anderen Zusammenhang.
Alina Götz (taz) wirft anlässlich eines einerseits "pseudo-reflektierten", andererseits zum Gegenangriff blasenden Tweets der Bild-Führungskraft Daniel Cremer die Frage auf, ob "die Empörung über die eigene moralische Verkommenheit schon einkalkuliert" gewesen sei. "So exakt, dass Teile des Cremer-Tweets und der nachgereichten Entschuldigung vermutlich schon einsatzbereit in der stets gut gefüllten Schublade 'Reaktions-Floskeln bei Shitstorm' herumdümpelten".
Darauf, wie Leute aus dem Hause Springer auf Kritik reagieren, geht auch der Schriftsteller Till Raether ein:
"Inzwischen haben BILD-Geschichten immer zwei Brennstufen: erst die Widerwärtigkeit an sich, und dann der Kontrollverluste von mehr oder weniger leitenden Redakteur*innen in der Öffentlichkeit."
Jetzt oder nie
Am Donnerstag haben wir an dieser Stelle den ZDF-Wissenschaftsjournalisten Dirk Steffens unter anderem mit den Worten zitiert, dass man Journalisten, die "auf das Fortbestehen einer lebensfähigen Umwelt dringen und mahnen", nicht als Aktivisten bezeichnen sollte.
Ähnlich argumentiert nun Sara Schurmann in einem Offenen Brief, den Übermedien veröffentlicht hat und der mit der Forderung "Journalist:innen, nehmt die Klimakrise endlich ernst!" überschrieben ist:
"Viele Journalist:innen betonen zu Recht, den Unterschied von Aktivismus und Journalismus. Aber die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels als vierte Gewalt zu kontrollieren, ist kein Aktivismus."
Anders formuliert: "Verantwortung" zu zeigen "gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber unseren eigenen Kindern. Auch wenn die noch gar nicht geboren sind", hat nichts mit Aktivismus zu tun. Was Schurmann zum Offenen Brief motiviert hat:
"Bei heutigen Emissionen werden wir in etwa zehn Jahren das gesamte verbleibende CO2-Restbudget verbraucht haben. Es bleiben also weniger als zehn Jahre, um die Erderwärmung unter 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten. Zehn Jahre, in denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entschlossen handeln und die CO2-Emissionen weltweit halbieren müssen. Diese Sätze hat jede:r Journalist:in schon hundertfach gelesen und gehört. Viele von uns haben sie selbst schon geschrieben oder aufgesagt. Was sie bedeuten, scheint allerdings zu wenigen von uns wirklich bewusst zu sein. Sonst würden wir es den Politiker:innen und der Industrie nicht so einfach durchgehen lassen, dass sie seit Jahren nicht danach handeln."
Die Katastrophe, so Schurmann, sei in vielerlei Hinsicht übrigens längst da:
"Im Iran und Irak herrschten in den letzten Monaten mehrfach tödliche Temperaturen von mehr als 50 Grad und auch in Deutschland sterben bereits seit Jahren immer wieder tausende Menschen während der Hitzewellen. Das wird nicht mehr aufhören, es wird nur noch schlimmer."
Ihr Fazit:
"2020 ist ein historisches Jahr, auch und vor allem für die Klimapolitik: Entweder wir als Gesellschaft begreifen das jetzt und sorgen dafür, dass Politik und Wirtschaft entscheidende Schritte für die nächsten Jahre einleiten, oder es wird zu spät sein."
Lorenz Matzat meint dazu, dass eine Veränderung der Berichterstattung aber nur möglich sei, wenn sich Journalisten "mit (…) der kapitalistischen Wirtschafts- & Konsumweise (…) auseinandersetzen". Dass man auf Letzteres hoffen kann - dafür gibt es wiederum nicht fürchterlich viele Anzeichen.
Die "oftmals nationale Herangehensweise" der Talkshows
Mal wieder eine Talkshow-Studie gefällig? Here we go: "Die Talkshow-Gesellschaft" heißt sie, stammt von Paulina Fröhlich und Johannes Hillje und basiert auf 1208 Sendungen aus den vergangenen drei Jahren. Es geht auch hier um die Themen Repräsentation und Diversität - aber mit anderen Schwerpunkten.
Thomas Hummel (SZ), der die Studie schon vor ihrer Veröffentlichung lesen konnte, schreibt:
"Die Autoren bemängeln, dass relevante Gruppen kaum zu sehen sind. Aus dem Wirtschaftsleben etwa repräsentieren acht von zehn Gästen die Unternehmerseite. Hingegen werden Gewerkschaften, Sozialverbände oder Nichtregierungsorganisationen kaum eingeladen (…)".
Die von Lorenz Matzat festgestellte Wirtschaftsnähe des deutschen Journalismus (siehe oben) spiegelt sich also auch in dieser Untersuchung wieder. Hummel schreibt weiter:
"(Die Autoren) (…) beobachten (…) eine ‚Cliquenbildung‘ in den großen Talkrunden. Fast zwei Drittel der Gäste sind Politiker und Journalisten. ‚Zugespitzt formuliert, trifft in den Talkshows Hauptstadtpolitik auf Hauptstadtjournalismus‘, schreiben Fröhlich und Hillje (…)"
Nicht zuletzt diese Cliquenbildung bringt dann eine "oftmals nationale Herangehensweise" mit sich:
"In deutschen Talkshows kommen Politiker nur zu 7,3 Prozent von der europäischen Ebene, schreiben die Autoren."
Ob, angelehnt etwa an das ZDF-Sonntagsabendmagazin "Berlin direkt", auch so etwas wie "Brüssel direkt" vorstellbar wäre - darüber habe ich neulich für die taz mit Anne Gellinek, der ZDF-Studioleiterin in Brüssel, gesprochen (siehe zu dem Thema auch ein vor einem Jahr erschienenes Altpapier). Angesichts der Studie von Fröhlich und Hillje könnte man die Verantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme ja auch mal darauf ansprechen, ob sie schon mal über eine europapolitische Talkshow als regelmäßiges Format nachgedacht haben.
Neues vom Kulturjournalismus
Die ZDF-Sendung "aspekte" reformiert sich mal wieder, und der jetzt geplante Schritt ist der meiner Wahrnehmung nach bisher radikalste (um es wertfrei zu sagen). dwdl.de berichtet auf Basis einer ZDF-Pressemitteilung, dass die Sendung ab dem 23. Oktober zu einem "Reportageformat" werde:
"Die Moderatoren Katty Salié und Jo Schück sind fortan unterwegs, präsentieren Themen und treffen Kulturschaffende und andere Gesprächsgäste an den unterschiedlichsten Plätzen der Republik."
Was das für Autoren bedeutet, die bisher Beiträge für die Sendung geliefert haben, steht in der ZDF-Mitteilung nicht. Daniel Fiedler, ZDF-Redaktionsleiter für Kultur in Berlin, sagt unter anderem:
"Wir … gehen dahin, wo Kultur und Debatte entstehen - auch in der Präsentation."
Hm, das klingt ähnlich wie die Begründung für die Einführung des Arte-Kulturmagazins "Twist". Das sollte eigentlich schon im Frühjahr starten, lief aber aufgrund einer Corona-bedingten Verzögerung erst am 30. August zum ersten Mal. Claire Isambert, die Leiterin der Kulturredaktion bei Arte, sagte mir gegenüber vor einigen Monaten zum Konzept von "Twist":
"Die Idee dahinter ist: Wir gehen in eine europäische Metropole und berichten nicht über Kultur, sondern wollen mittendrin sein."
Twist ist das Nachfolgemagazin von "Metropolis", an dem das ZDF noch redaktionell beteiligt war. Bei "Twist" ist es aber nicht mehr dabei. Weil man im Hauptprogramm selber so etwas Ähnliches machen will? Petitesse am Rande, die angesichts dessen, dass wir uns hier im MDR-Reich befinden dann aber vielleicht doch nicht ganz so petit ist: Anstelle des ZDF ist jetzt der MDR beteiligt.
Auch wenn man das "Reportage"-Konzept erst nach den ersten Sendungen wird beurteilen können: Kulturjournalismus sollte schon ein bisschen mehr sein, als rauszugehen und Kulturschaffende zu treffen. Die letzten Reste von klassischer Kulturkritik scheinen mir mit der Einführung des neuen Konzepts jedenfalls über die Wupper zu gehen.
Ein weiterer Fiedler-Satz, den dwdl.de zitiert, lautet:
"Außerdem ermöglicht uns das neue Reportageformat, 'aspekte' schon um 21 Uhr in die ZDF-Mediathek zu stellen."
Das lässt Spekulationen über den künftigen Sendeplatz im linearen Programm zu. dwdl.de-Autor Timo Niemeier schreibt:
"Ob die Sendung auch künftig noch direkt im Anschluss an die 'heute show' gezeigt wird, ist unklar. Im November startet bekanntlich auch Jan Böhmermann mit seinem 'ZDF Magazin Royale' - wann genau ist bislang noch unklar. Der Freitagabend wäre dafür aber prädestiniert. "
Sagen wir es mal so: Einen früheren Sendeplatz wird "aspekte" dann nicht bekommen. Die Vermutung, dass es dann auf eine Argumentation à la "Wat wollt ihr denn? Ab 21 Uhr Mediathek ist doch supi!" hinauslaufen wird, scheint mir nicht gewagt zu sein. Dass das Interesse des ZDF an Kulturberichterstattung im linearen Fernsehen nicht mehr allzu ausgeprägt ist - das zeigte übrigens auch Ende 2018 die Absetzung des 3sat-"Kulturpalasts".
Altpapierkorb (Keine Ermittlungen wegen "All cops are berufsunsfähig", "Leipziger Impuls II", Arte-Themenwoche "Schule ist klasse!", 75 Jahre Franz Beckenbauer)
+++ Dass die Berliner Staatsanwaltschaft "Ermittlungen gegen die Autorin Hengameh Yaghoobifarah ablehnt", hat der Tagesspiegel in Erfahrung gebracht. Offiziell ist der Beschluss, auf den sich die Zeitung bezieht, aber noch nicht. In der Überschrift heißt es, Yaghoobifarahs "All cops are berufsunsfähig"-Kolumne bleibe "straflos". Das ist nicht völlig falsch. Aber: Angesichts dessen, dass nicht einmal der Verdacht besteht, dass die Kolumne strafrechtlich relevant sein könnte, ist die Formulierung auch ungenau. Die am Montag in der SZ fortgeführten Recherchen zu Hamburger Polizisten, die unerlaubt Daten zu Yaghoobifarah abfragten (Altpapier) greift aktuell das ND auf.
+++ Die FAZ (€) berichtet über den ihr vorliegenden "Leipziger Impuls II", eine "grundsätzliche Erklärung zur Gemeinwohlorientierung (Public Value) öffentlich-rechtlicher Sender". Der noch kein Jahr alte "Leipziger Impuls I" ist hier zu finden (siehe auch Altpapier)
+++ Die Stuttgarter Zeitung gibt einen Überblick über den Arte-Programmschwerpunkt "Schule ist klasse!". Dieser relativiere "manche Debatte, die von einigen Eltern so geführt wird, als würden durch zeitweilig etwas arg ruckeligen Unterricht die Zukunftschancen ihrer Kinder final zu Staub zerrieben".
+++ Holger Gertz (SZ) findet den Titel "Mensch Beckenbauer! Schau'n mer mal", den man sich beim ZDF für eine zur besten Sendezeit zu sehende Dokumentation ausgedacht hat, "bemerkenswert unterkomplex". "Das klingt nach Nullachtfuffzehn-Ware, wie sie RTL versendet - aber dieser ausgeruhte Film bietet dann doch wesentlich mehr." Der anlässlich des 75. Geburtstages Beckenbauer entstandene Film setze den "frühen Franz (der immer auch ein Schlawiner war)" in Beziehung "mit dem späten Franz, bei dem sich die Überzeugung festgesetzt haben mag, als Schlawiner durchzukommen".
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.
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