Das Altpapier am 26. August 2020 War gar nicht so schlimm
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26. August 2020, 10:25 Uhr
Das Medienecho zum Online-Interview des Thüringer MDR mit AfD-Rechtsaußen Björn Höcke. Es zog so viele Onlinebesprechungen nach sich wie sonst nur Anne-Will-Shows. Auf Youtube gibt es MeToo-Vorwürfe, und ein eigentlich gern provokanter Youtuber bittet die "klassische Medienbubble", einzugreifen. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
- "Duldsamkeit", "Phrasendrescherei" (eher negative Höcke-Interview-Kritiken)
- Geleistet, was der ÖR leisten kann (eher positive Kritiken)
- Klassische Medienbubble, bitte kommen!
- Altpapierkorb (Medienkritik und Urheberrecht, "Holocaust-Challenge" auf Tiktok? "Registermodernisierungsbehörde"? Deeskalationsteams?)
"Duldsamkeit", "Phrasendrescherei" (eher negative Höcke-Interview-Kritiken)
Im Thüringer Landesfunkhaus des MDR wird das Altpapier nicht geschrieben; diese Ausgabe z.B. entstand in Berlin. Es erscheint bloß beim MDR Erfurt. Gestern vormittag richteten sich aus völlig anderen Gründen die Blicke der Weltöff... na gut: der deutschen Mediennische aufs selbe Funkhaus. Dort fand das erst ins Netz gestreamte und weiterhin außer auf Youtube auch bei mdr.de abrufbare Interview mit AfD-Mann Björn Höcke statt.
Dem Interview galt vorab große Aufmerksamkeit. Dass es "eine schlechte Idee" sei und und welche Argumente, am prominentesten formuliert vom "Monitor"-Redaktionsleiter Georg Restle, dagegen sprächen, wurde an vielen Stellen ausführlich formuliert. Z.B. gestern im Altpapier, wobei wir hier manchmal sehr unterschiedliche Meinungen vertreten. Wie war's denn nun?
Wer sog. soz. Medien vertraut, wird am meisten unterm Twitter-Hashtag #KeineMinuteAfD fündig. Gar nicht so schlimm wie vorab vielerseits befürchtet war es, wenn man klassischen redaktionellen Medien vertraut. Bei denen der MDR für die im linearen Fernsehen nur ausschnittweise gezeigte Produktion so viele Onlinekritiken zog wie sonst allenfalls Anne Will nach dem "Tatort".
Schärfere Kritik am Interview selbst gab nur vereinzelt, etwa einen Absatz lang gegen Ende eines taz-Überblicksartikels von Andreas Speit:
"Der MDR aber ließ Höcke gewähren: Er konnte seine antiparlamentarischen Positionen und rassistischen Ressentiments darlegen. Die kritischen Nachfragen dürften die rechtsradikale Anhängerschaft in ihren Einstellungen zur 'Lügenpresse' nur bestätigt haben."
Jan Sternberg von Madsacks RND würde zu Interviewer Lars Sänger sagen:
"Oft, allzuoft, erlag der Fragesteller dem Redeschwall des AfD-Chefrhetorikers, der keine Fragen beantworten, sondern Propagandaphrasen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen platzieren wollte."
Wobei Sternberg dann ("Doch irgendwann reicht es dem duldsamen Sänger") den häufig, ausführlicher etwa bei Ströers t-online.de zitierten (und wmöglich auch zum Zitiert-Werden formulierten) Sänger-Satz "Sie unterstellen uns immer Framing. Was Sie machen, das ist Framing!" zitiert. Ähnlich sahen es der Onlineauftritt des Stern ("Höcke nutzt die Bühne erwartungsgemäß und weicht Fragen aus - bis es dem Moderator zu viel wird") und vielleicht am anschaulichsten Katja Thorwarth in Ippens Frankfurter Rundschau. Auch sie macht unter der Überschrift "Da schmunzelt der Rechtsextremist" Moderator Sänger ausdrücklich keinen Vorwurf,
"da in der Person Björn Höcke die Problematik im Vorfeld angelegt war. Er ... will, und sei es qua Monolog, seine Themen und Inhalte möglichst widerspruchsfrei platzieren. ... Natürlich sind Politiker-Gespräche meistens ein Festival parteipolitischer Phrasendrescherei. Nur findet in der Regel weder Corona-Leugnung noch Hetze noch Verharmlosung der extremen Rechten statt. Wenn das die Ausgewogenheit des Öffentlich-Rechtlichen gewährleisten soll, dann ist weniger in Sachen journalistischer Kategorien vielleicht doch einfach mehr."
Soll heißen, dass generell weniger Politiker-Interviews im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine gute Idee wäre. In der Praxis käme es wahrscheinlich darauf an, ob Parteien, die in den Rundfunkräten erheblich stärker als die AfD vertreten sind und deren Mitglieder insgesamt erheblich öfter interviewt werden, sich drauf einlassen würden. Alle Landtags-Fraktionsvorsitzenden zu interviewen, bloß dieses Jahr nicht den der AfD (die im Thüringer Landtag die größte Oppositionspartei ist, wie im Bundestag übrigens auch) wäre ein größerer Fehler gewesen als dieses Interview ordentlich zu führen, ist meine Meinung.
Geleistet, was der ÖR leisten kann (eher positive Kritiken)
Ansonsten gab es, für den MDR in bundesweiter Wahrnehmung eher ungewöhnlich, sogar explizites Lob für die Interviewführung:
"Der Moderator ist vorbereitet, kennt die Corona-Fallzahlen ebenso wie aktuelle Umfragen zur Akzeptanz der Maskenpflicht. In seiner Ruhe bietet er Höcke kaum Anlass zur selbstgerechten Empörung, treibt ihn aber auch nicht in die Ecke. 'Wir nehmen das jetzt mal so hin', ist ein Satz, der in bissiger Ironie öfter fällt und verhindern soll, dass sich beide Gesprächspartner im verbalen Schlagabtausch hoffnungslos verhaken. Er führt aber auch dazu, dass Höcke immer mal wieder das letzte Wort haben darf",
schreibt Ulrike Nimz bei sueddeutsche.de, und Arno Frank (spiegel.de) fährt fort:
"So geht das über Minuten, und Höcke entglitscht wie ein Stück Seife in der Wanne, wirkt dabei aber immer weniger entspannt als zu Anfang des Gespräch",
um sein Lob dann im Satz "Was das Öffentlich-Rechtliche in diesem Rahmen leisten kann, hat der MDR diesmal geleistet" kulminieren zu lassen. "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat, wie vielerorts befürchtet, mit dem Interview des AfD-Rechtsaußen keinen Schaden genommen", hält Markus Ehrenberg vom Tagesspiegel den Ball flacher.
Vermutlich wurden ebensowenige Höcke-Fans ins gegnerische Lager hinübergezogen wie umgekehrt der AfD-Rechtsaußen sich neue Fans erschlossen hat.
Auf Twitter gingen mehrere Tweets des gestern hier bereits zitierten Münsteraner Publizisten Andreas Kemper rum, etwa einer, in dem er auf mit ihm geplante, aber abgesagte Interviews zu Höcke hinwies.
Klar, auch solche Interviews sollten geführt und gesendet werden. Mehr, gerne auch kontroversere Interviews in einem größeren Spektrum als gegenwärtig gut zu führen – und dem Publikum dabei mehr Fähigkeit zu sinnvoller eigener Meinungsbildung zuzutrauen als im Moment oft geschieht –, würde dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk mittelfristig nachhaltiger helfen als die berechenbaren und (von allen Seiten) berechneten Aufregungswellen, wie sie auch jetzt vorm Höcke-Interview aufbrandeten. Ist meine persönliche Meinung.
"Wenn Rechtsextreme viel sprechen dürfen, werden zwangsläufig einige ihrer Aussagen unwidersprochen bleiben. Aber das tun sie in ihren dunklen Echokammern, den angestammten Kanälen der 'sozialen' Netzwerken, erst recht",
schreibt Arno Frank im erwähnten spiegel.de-Text, einen viel geteilten, kritischeren Tweet des Grünen-nahen Politikberaters Johannes Hillje paraphrasierend. Solange aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk niemand so austreten kann wie aus Kirchen (oder Parteien), kommt dieser nicht umhin, gelegentlich auch scharfe bis extreme Gegner zu befragen. Weniger ob, sondern eher wie solche Interviews geführt werden sollen, ist die Frage. Da hat sich der MDR dieses Mal gut geschlagen.
Was ich dagegen bedenklich fand: dass Moderator Sänger gleich am Anfang das Publikum zum Kommentieren auf Facebook einlud – wo sämtliche Interaktionen (auch Ihre, falls Sie hinklicken) in den konkurrenzlos riesengroßen Datenschatz einfließen, den Facebook gerne an Kunden aller Art, darunter politische Parteien, zur individualisierbaren Werbung vermarktet. Da zeigt sich ein allerwenigstens genauso großes Strukturproblem der Öffentlich-Rechtlichen.
Klassische Medienbubble, bitte kommen!
"Wenn man jetzt pessimistisch wäre, könnte man diese Situation als Beleg dafür nehmen, dass ein gesellschaftlicher Konsens im Informationszeitalter allein durch die Quantität von Information kaum noch möglich ist."
Achtung, da geht es um ein völlig anderes Thema. Und es geht im selben Absatz optimistischer weiter:
"Für mich überwiegt aber, bei allen Problemen, eine andere Erkenntnis: Dieser Fall hat mal wieder deutlich gezeigt, dass es einen spürbaren Bedarf nach Wahrheit gibt. Es gibt eine Neugier, Situationen verstehen und einordnen zu können."
Wer da spricht bzw. schreibt ist der Youtuber, der gesprochen wie schriftlich eigentlich für in aller Wohlüberlegtheit pointiert provokante Formulierungen bekannt ist. Rezo formuliert in seiner neuen zeit.de-Kolumne sehr vorsichtig, weil es um "MeToo auf YouTube" geht, um ein Thema, das in sämtlichen Milieus wichtig, aber schwierig zu thematisieren ist:
"Ein Problem bei klassischen MeToo-Fällen ist aber regelmäßig, dass zwischen dem Zeitpunkt des Übergriffs und dem Öffentlichmachen große zeitliche Distanz herrscht und letztlich Aussage gegen Aussage steht. Nicht nur die Fälle selbst sind kaum belegbar, auch der Kontext ist unscharf, die Frage, wer wem Glauben schenkt, variiert stark: Feministinnen drängen darauf, das Opfer wohlwollend zu hören, Männerrechtler wiederum beklagen, dass inzwischen der Ruf von Männern ohne Angabe von Beweisen ruiniert werden könne, und wieder andere erinnern daran, dass im Grunde nur ein Prozess Aufklärung bringen kann"
Dass im digitalaffinen Milieu überdurchschnittlich viele gespeicherte Medieninhalte vorliegen, "Vlog-Videos" und Chatverläufe ("Sich allein durch einen nennenswerten Teil dieses Primär-, Sekundär- und Meta-Materials zu arbeiten, das innerhalb der ersten paar Tage entstanden ist, würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen") mache die Beurteilung keineswegs einfacher, argumentiert Rezo. Und bittet dann quasi Journalisten klassischerer Medien, sich für den Fall zu interessieren:
"Echt schade, dass die klassische Medienbubble hier bisher gefehlt hat, denn das hätten viele klassische Journalistinnen nicht nur aufgrund ihrer Distanz, sondern auch aufgrund ihres bubbletypischen Skillsets gut ausgefüllt."
Bislang gab es dazu bloß einen – von Rezo natürlich verlinkten und um ein docs.google.com-Dokument mit allerdings nur wenigen Kritikpünktchen ergänzten – Artikel aus der Ippen-FR unter der Überschrift "Shitstorm gegen Skandal-YouTuber".
Die Fähigkeit, durch attraktive Überschriften Klicks zu generieren, gehört schließlich zum, äh, Skillset der Ippen-Medien.
Altpapierkorb (Medienkritik und Urheberrecht, "Holocaust-Challenge" auf Tiktok? "Registermodernisierungsbehörde"? Deeskalationsteams?)
+++ Spannend werden dürfte ein Prozess im November in Berlin in der Sache Radio Bremen gegen Holger Kreymeier, den Madsacks RND als "berühmt-berüchtigter Medienkritiker" vorstellt, werden. Es geht um weder unpolemische noch unfundierte Kritik Kreymeiers im Youtube-Kanal "Massengeschmack-TV" an einem "Rabiat"-Film des Y-Kollektivs – jedoch aber inhaltlich, sondern urheberrechtlich. Kreymeier habe in seinem Video "das Zitatrecht in mehreren Fällen verletzt", lautet der Vorwurf.
+++ "Das Entsetzen ist groß - womöglich größer als das Phänomen", berichtet spiegel.de über eine "angebliche Holocaust-Challenge auf TikTok". Matthias Kremp erklärt auch das Phänomen der "POV-/ point of vue-Videos".
+++ Altpapier-Autor René Martens tritt auf uebermedien.de dem selbst "in linksliberalen Kreisen" verbreiteten Eindruck entgegen, ARD und ZDF seien in Belarus nicht präsent genug. +++ Dem Eindruck, jede gegen Donald Trumps Wiederwahl gerichtete Kampagne sei unbedingt richtig und sinnvoll, tritt ebd. Annika Brockschmidt anhand des "Lincoln Project" entgegen.
+++ "Registermodernisierungsbehörde"? "Datencockpit"?? Da veröffentlicht netzpolitik.org einen Gesetzesentwurf, der unter auffällig unscheinbaren Formulierungen " die Steuer-ID als universelle Personenkennziffer einführen" wolle.
+++ "Deeskalationsteams"??? Wollen Veranstalter künftig in Stuttgart bei Demos gegen die Corona-Maßnahmen einsetzen, um Journalisten zu schützen. Journalistengewerkschafter Jörg Reichel von der dju hält wenig von der Idee, sagte er Deutschlandfunks "@mediasres".
+++ "Lebhafte Diskussion", "bereits über 15.000 Abrufe bei Researchgate": Da freut sich die Uni Passau über die Breitenwirkung der "Corona-Tunnelblick-Studie" (Altpapier) ihrer Wissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig.
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
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