Teasergrafik Altpapier vom 19. August 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 19. August 2020 Comedy ist kein Journalismus

19. August 2020, 12:15 Uhr

Wer sich über Polizisten lustig macht, hat nichts zu lachen. Diese Erfahrung macht gerade ein funk-Comedian wegen eines zweieinhalb Minuten langen Instagram-Videos. Außerdem: Warum ohne "Amateuraufnahmen" die Berichterstattung über Polizeigewalt schwer möglich wäre. Ein Altpapier von René Martens.

Bitte keine Witze über Polizisten!

Seit dem 11. Juli ist auf dem Instagram-Kanal des ZDF/funk-Comedians Aurel Mertz ein zweieinhalb Minuten langes Video zu sehen, in dem er sich des Themas Racial Profiling bei der Polizei annimmt - auf eine meiner Meinung nach etwas zu possierliche Art und mit einer (Achtung, Spoiler!) nicht sehr originellen Pointe (irgendwas mit weißen Socken), aber das nur am Rande.

Ein paar Wochen später haben Mitarbeiter von Bild TV - "Hass-Video von ARD verunglimpft Polizisten", heißt es dort, wogegen sich unter anderem einwenden ließe, dass, siehe oben, das Format vom ZDF produziert wird - und Abgeordnete der CDU den Clip entdeckt. Er ist Teil eines Formats, das funk anlässlich des Starts vor einem Jahr als "Instagram-Sitcom" bezeichnete. Man könnte hier also, vereinfacht gesagt, von einer neuen Art des Unterhaltungsfernsehens sprechen.

Der freie, unter anderem für den MDR tätige Journalist Henrik Merker greift die Reaktionen zweier CDU-Politiker auf, die mit solcherlei Einordnungen überfordert zu sein scheinen: Der eine ist der in Sachen mangelndes Kunstverständnis schon Anfang des Jahres verhaltensauffällig gewordene Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer, der das Mertz-Video als "gebührenfinanzierten Hass auf Polizisten" bezeichnet und es als "journalistischen Inhalt" rubriziert. Nun ist Comedy aber alles andere als ein "journalistischer Inhalt", und es fühlt sich schon sehr merkwürdig an, so eine Selbstverständlichkeit überhaupt hinzuschreiben.

Der andere von Henrik Merker erwähnte Christdemokrat ist Sven Schulze, laut Twitter-Bio "Vorsitzender Ostdeutsche CDU-Gruppe im #EP" (was es nicht alles gibt!). Er nimmt die zweieinhalb Instagram-Minuten allen Ernstes zum Anlass, die unterste medienpolitische Schublade aufzumachen: "Nicht nur deshalb ist es richtig, daß die geplante Erhöhung des #Rundfunkbeitrags nicht kommen wird. Die #CDU in #SachsenAnhalt wird das verhindern."

Wer sich in satirischer (siehe die Debatte zu "All cops are berufsunfähig") oder comedyesker Weise mit der Polizei (im konkreten Fall vorrangig eigentlich mit der Politik Horst Seehofers) beschäftigt, der verbreitet Hass - auf diese Weltsicht scheinen sich in Deutschland sehr, sehr viele Meinungsmultiplikatoren einigen zu können.

Virale Polizeigewaltvideos

Während Aurel Mertz in seinem Instagram-Video auf komische  Weise mit strukturellem Rassismus und Polizeigewalt umzugehen versucht, zeigen andere derzeit viral gehende Videos die alles andere als komische Realität.

"Vor ein paar Jahren noch hätte es Berichte über den Einsatz gar nicht gegeben – weil es keine Smartphones gab. Jetzt werden ständig Einsätze gefilmt. Für die Polizei ist das eine zusätzliche Belastung, sie gerät schnell in Erklärungsnot."

Mit diesen Worten kommentiert die Hamburger Morgenpost ein Video, das eine Frau im Hamburger Stadtteil Neustadt von einem Polizeieinsatz gegen einen Teenager gedreht hat, der zum wiederholten Male mit seinem E-Scooter auf dem Bürgersteig gefahren war. Man könnte dieses Zitat aber auch auf zahlreiche andere Bilder beziehen, die in den vergangenen Tagen, um nur einige Beispiele zu nennen, in Ingelheim, Düsseldorf und Frankfurt-Sachsenhausen entstanden sind. Bilder teilweise exzessiver Polizeigewalt, produziert von Bürgerjournalisten - um mal einen etwas aus der Mode gekommenen Begriff hervorzukramen (den es schon gab, bevor es Smartphones gab, er kam mit vielmehr mit dem Web 2.0. auf). Diese "Amateuraufnahmen" (der Spiegel im aktuellen Hamburger Kontext) liefern die maßgebliche Basis für die Berichterstattung in den etablierten Medien - in der Regel, ohne dass die Urheber dafür einen Cent bekommen.

Georg Leppert kommentiert in der FR, die Frankfurter Beamten, die einen am Boden liegenden Mann traten, benähmen "sich nicht wie Staatsdiener, sondern wie Hooligans", der Kriminologe Thomas Feltes sagt gegenüber der "Aktuellen Stunde" des WDR, mit dem Fall in Düsseldorf müsse sich "die Anti-Folter-Kommission des Europarates beschäftigen", und den krassesten Fall - die von der Polizei beinahe herbeigeführte Wiederholung des Tunnel-Unglücks bei der Duisburger Love Parade - hat Anett Selle für die taz nachrecherchiert.

Am Hamburger Fall ist unter anderem noch erwähnenswert, dass in dem Video zweimal zu sehen oder zu hören ist, wie versucht wird, die Filmende mindestens einzuschüchtern. Ein Grund dafür, dass Marcus Engert (Buzzfeed) noch einmal auf die rechtliche Lage hinweist ("Wann darf man Polizeibeamte eigentlich filmen? Und wann darf man das auch veröffentlichen?"). Einordnungen zur teilweise grotesken, mit meme-reifen Formulierungen aufwartenden Pressemitteilung der Hamburger Polizei finden sich hier und hier.

Als Filiale der Polizeipressestelle agiert wieder mal das "Hamburg Journal" des NDR Fernsehens, das seinen Bericht mit folgenden Worten abschließt:

"Die Polizei prüft jetzt intern, wie deeskalierend, souverän und professionell der Einsatz ablief."

Und das, obwohl jeder, der es sehen will, sehen kann, dass "deeskalierend" und "souverän" die falschestmöglichen Begriffe sind, um das in dem Video Gesehene zu beschreiben.

Eine Ironie an der Verbreitung von dem Einsatz gegen den renitenten Rollerfahrer: Die zunächst vielfach retweetete Kurzfassung des Videos stammt offenbar von dem Account eines türkischen Rechtsextremisten, der versucht, mit "linken" Inhalten Leser anzulocken. Siehe diesen und diesen Hinweis bei @nomnomcookiez.

Die wasserblauen Augen eines Waffen-SS-Mannes

Ein Text, der zentral ist für das Verständnis des rechtskonservativen Journalismus von heute, ist bei Übermedien erschienen. Annika Brockschmidt zerlegt hier einen Artikel des Welt-Chefkommentators Torsten Krauel:

"'Sehr große helle Augen, sehr wasserblau, sehr abwesend und zugleich sehr, sehr traurig. Als Kleinkind hat man einen Instinkt dafür, wie ein Hund vielleicht.' So gefühlig beginnt Krauel seine Beschreibung von Hugo Kraas, einen SS-General, den er 1958 als Zweijähriger traf, in einem Kinderheim, das Kraas damals leitete. Stattdessen argumentiert er, dass es zwar 'unerträglich', aber letztendlich 'richtig' gewesen sei, Nazis in unterschiedlichen Funktionen, also auch als Leiter von Kinderheimen, in die Gesellschaft zu integrieren. Denn alles andere sei 'Cancel Culture' und inhärent undemokratisch."

Kraas war Generalmajor der Waffen-SS, und Teile seiner Ideologie konnte er auch in der Bundesrepublik noch umsetzen, indem er in vermeintlichen Erholungsheimen Kinder quälen ließ, die bis heute darunter leiden. Brockschmidt schreibt:

"Irritierenderweise ist (Krauels) Schlussfolgerung aus dieser Realität der Nachkriegszeit, in der Nazis in Behörden, Justiz und Gesellschaft oft unbehelligt weiterleben konnten, ohne für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden, nicht etwa, dass das eine Schande der noch jungen Bundesrepublik gewesen sei. Nicht, dass es sich hierbei um das Versäumnis einer ganzen Gesellschaft handelte, die die Täter in den eigenen Reihen schützte, was langanhaltende Folgen für die Schulbildung und Kindererziehung ganzer Generationen hatte."

Zum besseren Verständnis von Krauels Text ließe sich noch ergänzen, dass auch Journalisten, die das NS-Regime mindestens gestützt haben, keineswegs "gecancelt" wurden, dass sie vielmehr in dem Verlag, für den Krauel heute arbeitet, keine kleine Rollen spielten - wobei vor allem die Namen Paul Schmidt-Carell und Horst Mahnke zu nennen wären (siehe hier und hier). Dass deren alte Haltungen im bundesdeutschen Medienbetrieb weiterleben konnten, hatte, um Brockschmidt  zu variieren, langanhaltende Folgen für ganze Generationen von Journalisten. Es gibt im Journalismus eine mentale Kontinuität, die von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute reicht - und sie ist ein wichtiger Schlüssel, um die offensive Anti-Antifa-Ideologie zu verstehen, die heute en vogue ist in Zeitungen, die man früher mal bürgerlich genannt hätte.


Altpapierkorb (Folgen der Corona-Pandemie für freie Auslandsberichterstatter, Fortsetzung der Debatte um die Plagiatorin Cornelia Koppetsch, die Hörzu für Arte-Zuschauer, Protest gegen die Ausgliederung des NDR-Chors in eine GmbH)

+++ Welche Auswirkungen die Corona-Pandemie für freie Auslandskorrespondenten hat, beschreibt Megan Janetsky, die in den vergangenem zwei Jahren überwiegend aus Venezuela und Kolumbien gearbeitet hat, für Poynter: "At a time when global coverage has never been more important, the coronavirus has created a devastating cocktail of economic turmoil and heightened risks that throw the fate of foreign reporting into jeopardy (…) International reporting has been beleaguered for years. As news budgets were slashed over past decades, foreign bureaus were the first to go. We were the ones to replace them: an army of freelancers fighting for work week to week and wondering if our editors knew, or even cared, about the risks we ran. COVID-19 has only accelerated that deterioration (…)"

+++ Die Debatte um die trotz exzessiven Plagiierens von einigen Journalisten noch geschätzte Soziologin Cornelia Koppetsch (siehe Altpapier von Freitag) geht weiter: in einem Thread von Patrick Bahners und einem von Floris Biskamp, in der er die Ideologen-sind-immer-die-anderen-Berichterstattung des Spiegel zu diesem Fall kritisiert (auf die ich am Freitag hier zwar nicht eingegangen bin, die aber in den Reaktionen auf die Kolumne Erwähnung fand).

+++ Welcher Verlag hält einen für ihn tätigen Ü80-Textbastler, der wie eine krude Mischung aus Tom Kummer und Claas Relotius wirkt, für einen "renommierten, von der Branche geschätzten Journalisten"? Wer nun neugierig geworden ist, sollte einen, untertrieben formuliert: materialreichen Übermedien (€)-Artikel lesen.

+++ Altpapier-Kollege Christian Bartels widmet sich in seiner neuen Medienkorrespondenz-Kolumne der von einer Firma aus dem Reich Axel Springers produzierten Arte-Programmzeitschrift. Sie wirke "wie eine globalisierte Version der (…)  Hörzu" und könne mit dem französischen Pendant, das von Arte France selbst produziert wird, nicht mithalten.

+++ Ebenfalls in der MK: eine Zusammenfassung der von den Landtagen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen veröffentlichten Einschätzungen von Medienrechtlern und anderen Sachverständigen zum neuen Medienstaatsvertrag.

+++ Über den Protest gegen die Ausgliederung des NDR-Chors in eine GmbH berichtet Menschen Machen Medien. Björn Siebke, den für den NDR zuständige ver.di-Sekretär, zitiert das ver.di-Medium folgendermaßen: "Man kann an einem so anspruchsvollen Klangkörper nicht einfach wild herumsparen, ohne irreparablen Schaden anzurichten."

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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