Teasergrafik Altpapier vom 30. Juli 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 30. Juli 2020 “Ein unendlicher menschlicher Abgrund“

30. Juli 2020, 13:11 Uhr

Die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl ist wegen eines Statements für einen Beitrag im Politikmagazin “Panorama“ zum Opfer einer Psychoterror-Kampagne geworden. Eine HR-Gerichtsreporterin kritisiert die Vernehmungsvideo-Veröffentlichungen des NDR. Der “Stern“-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges macht Schluss. Ein Altpapier von René Martens.

“Wird Facebook benutzt werden, um die US-Präsidentschaftswahlen 2020 zu manipulieren?“

Sind wir hier im Altpapier zu oft auf Nebenschauplätzen unterwegs? Möglicherweise. Wobei das bei einer Kolumne, die hauptsächlich über das schreibt, was andere über Medien schreiben, zu einem erheblichen Teil in der Natur in der Sache liegt. Bei freitag.de lenkt Carole Cadwalladr nun den Blick auf einen Hauptschauplatz, dem ihrer Ansicht nach nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteilwird:

“Wir alle kennen heute den Namen Cambridge Analytica – und einen Moment lang war die Empörung groß über Facebooks Komplizenschaft. Das Unternehmen hatte zugelassen, dass die persönlichen Daten von 87 Millionen Menschen gestohlen und für einen zwielichtige Zwecke benutzt wurden – unter anderem für Trumps Wahlkampf.“

“Wir“, so Cadwalladr, hätten daraus aber bestenfalls ungenügende Schlüsse gezogen. Sie betont:

“Die Frage ist nicht länger, ob sich das wiederholen wird. Natürlich wird es das."

Konkret bedeutet das:

“Wird Facebook benutzt werden, um die US-Präsidentschaftswahlen 2020 zu manipulieren? Ja. Wird Facebook dafür verantwortlich gemacht werden? Nein.“

Und wie wird die Manipulation von statten gehen?

“Die alte Truppe ist für Trump 2020 zusammengetrommelt. Der leitende Datenwissenschaftler von Cambridge Analytica, Matt Oczkowski, hat mit Data Propria eine neue Firma gegründet, die mit dem Digital Director von Trumps Wahlkampf-Kampagne Brad Parscale zusammenarbeitet. Und Trump testet seine Grenzen aus. Kann er Anzeigen platzieren, die Nazi-Symbole enthalten? Ja. (Sie wurden aus dem Netz genommen, aber erst, nachdem sie Millionen Klicks generiert hatten). Kann er per E-Mail Lügen verbreiten? Ja. Kann er Black-Lives-Matter-Demonstranten Gewalt androhen? Ja. Wird er in der Lage sein, Facebook dafür zu benutzen, das Wahlergebnis in Frage zu stellen? Wir halten Sie auf dem Laufenden.“

Die Originalfassung des Cadwalladr-Textes erschien am Sonntag im Observer.

Rechtsextremistische Kondolenzbuchschändung

Das zumindest in meiner Twitter-Timeline dominierende Journalisten-Branchenthema sind die Attacken des Welt-Kolumnisten Don Alphonso auf die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl - und eine mutmaßlich damit im Zusammenhang stehende Psycho-Terroroffensive von mutmaßlichen Fans des Autors.

Strobl kam am Donnerstag in einem “Panorama“-Beitrag über einen hochrangigen rechten Bundeswehr-Offizier zu Wort, von dem unklar ist, ob er “Leiter Social Media im Bundesministerium der Verteidigung“ war oder er sich selbst bloß so bezeichnet hat (worauf aktuell auch Daniel Lücking im ND noch einmal eingeht). Der Beitrag und die Reaktionen waren am Freitag und am Montag Thema im Altpapier.

Die Betroffene selbst schreibt über ihre aktuelle Situation:

“Sie haben jetzt die Gedenkseite meines Vaters entdeckt und hinterlassen dort Kommentare, die für alle seine Freund_innen, die Kinder, die Geschwister und die ganze Familie ersichtlich sind.“

Und:

“Ich habe mittlerweile Bauchweh, jede neue Drohung zu veröffentlichen, weil die Person(en) offenbar einen Kick davon bekommen.“

Strobl tut es dann aber doch und dokumentiert anhand von Screenshots, wie Nazis das digitale Kondolenzbuch schänden. Und es ist auch durchaus nachvollziehbar, dass sie diese Abgründe sichtbar macht.

Thomas Laschyk (Volksverpetzer) weist in einem ausführlichen Artikel darauf hin, dass es das Ziel der “rechten Ablenkungskampagne“ sei, den “eigentlichen Inhalt der 'Panorama‘-Recherche“ in den Hintergrund geraten zu lassen. Er schreibt weiter:

“(I)n den Artikeln von Don Alphonso in der Welt (…) gewinnt plötzlich die Rechtsextremismusforscherin Strobl, die nur kurz zu ihrer Einschätzung befragt wurde, (…) enorme Aufmerksamkeit. Die Österreicherin wird plötzlich massiv unter Beschuss genommen und in die Nähe von Linksextremismus wegen ihrer Kontakte zu Antifa-Gruppen gerückt. In einer unglaublichen Detailtreue, die man sich viel lieber beim eigentlichen Sachverhalt gewünscht hätte, konstruiert Don Alphonso (…) Verbindungen Strobls in eine linksextreme Szene. Ein großer Teil der Begründung fußt auf etlichen Aussagen und Tweets der 'Antifa Kiel‘. Die einzige Verbindung zu Strobl? Angeblich soll die Extremismusexpertin dort einen Vortrag gehalten haben. Alphonso will ihr dadurch Nähe zu diesen Aussagen unterstellen. Fakt nur: Strobl war in ihrem Leben noch nie in Kiel und hat dort auch keine Vorträge gehalten, wie sie uns versichert.“

Übrigens nicht die einzige Behauptung, die nicht stimmt. Patrick Bahners, leitender Redakteur bei der FAZ, also jener Zeitung, für die Don Alphonso früher im Einsatz war, merkt darüber hinaus an, dass dieser ein rechtsoffenes Studienzentrum “verharmlost“.

Patrick Gensing (“Faktenfinder“) twittert:

“Die derzeitigen persönlichen Attacken auf die Politikwissenschaftlerin Strobl und NDR-Kolleginnen sind (…) ein Versuch der Einschüchterung - und damit ein Angriff auf die #Pressefreiheit. Das Ziel ist klar: Berichterstattung über mutmaßliche rechtsradikale Tendenzen bei der #Bundeswehr soll erschwert, JournalistInnen eingeschüchert und Zustimmung zu rechtsextremen Beiträgen offenbar normalisiert werden.“

Andere Journalistinnen und Journalisten berichten über ihre Erfahrungen mit Don Alphonso: etwa Anna-Mareike Krause vom RBB (“Nach einem Text von ihm hatte ich mal mehrere Tage Ausnahmezustand, auch Gewaltdrohungen und Anrufe seiner Fans in der Redaktion“) und der frühere Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim. Er wendet sich an Welt-Herrscher Ulf Poschardt:

“Wenn Sie sehen, dass etwas Schaden anrichtet (oder wenn Sie mehrfach darauf hingewiesen werden, wenn Sie es schon nicht selbst sehen), wenn Menschen wegen Äußerungen, die in Ihrer Verantwortung stehen, Morddrohungen hinnehmen müssen, dann wäre es sehr im Sinne einer wirklichen liberalen Gesellschaft, dass Sie alles dafür tun, dass das abgestellt wird. Bemerkenswert ist, dass Sie das nicht tun.“

Moralische Appelle an Springer-Führungskräfte halte ich allerdings für naiv, denn keine Moral zu haben, ist ja eine unabdingbare Voraussetzung, um bei Springer auf einen Führungsposten zu gelangen.

Welche über ihren eigenen Fall hinaus weisenden Folgen der Terror bei Twitter hat, beschreibt Strobl folgendermaßen:

“Es ist kein inhaltlicher Diskurs zu führen, wenn die Sanktion für eine nichtkonforme Meinung ein unendlicher menschlicher Abgrund ist. Wenn die Sanktion für Widerspruch persönliche Attacken auf die Familie sind, dann gibt es keine Chance auf Erkenntnisgewinn. Wir haben es also effektiv mit Diskurszerstörung zu tun. Die Diskussion zu diesen Themen ist nicht mehr zu führen. Man zwingt Personen zum Rückzug mittels Psychoterror und feiert das als Sieg. Andere betreten das Feld gar nicht mehr aus Angst.“

Die geleakten Vernehmungs-Videos und die Gefahr der Zeugenbeeinflussung

Was gibt es an neuen Wortmeldungen zu den vom NDR via funk bzw. YouTube verbreiteten Videos polizeilicher Vernehmungen mit dem mutmaßlichen Mörder Walter Lübckes (Altpapier von Mittwoch)? Die “Hessenschau“ des HR hat mit Heike Borufka gesprochen, der Gerichtsreporterin aus dem eigenen Hause. Sie  kritisiert:

“Gerade das erste Video ist das wichtigste Beweisstück überhaupt in dem Prozess. Es ist zwar in der Verhandlung gezeigt worden und wurde somit einer anwesenden Öffentlichkeit auch vorgeführt. Doch ich finde es dennoch bedenklich, das nun ins Netz zu stellen. Erst gestern [gemeint ist Dienstag - RM] haben die Zeugenvernehmungen begonnen, mit einem Sohn von Walter Lübcke. Alle anderen Zeugen sind noch nicht vernommen worden. Die können sich das jetzt alle anschauen. Und das ist genau das, was Juristen und vor allem Gerichte nicht wollen: Sie wollen nicht, dass Zeugen derart beeinflusst werden. Dazu kommt: Wir können im Video Stephan Ernst nur in Sequenzen sehen, es ist nur ein Teil der mehrstündigen Aussagen online gestellt worden. Wir können uns ein Bild machen, aber es ist eben nur ein Ausschnitt.“

Auf die Frage, ob es rechtlich überhaupt zulässig sei, die Aufnahmen medial zu verbreiten, sagt Borufka: Das sei “gar nicht so einfach zu bewerten“.

“Ein Bundeskanzler hat versucht, mich zu vernichten“

Hans-Ulrich Jörges, zuletzt vor etwas mehr als zwei Wochen im Altpapier erwähnt, verabschiedet sich als “Zwischenrufer“ vom Stern, und die Zeitschrift bedenkt ihn anlässlich dessen mit einem großen Interview (65 Cent bei Blendle).

“Du warst 18 Jahre lang journalistischer Leitstern für uns und hast wie kein anderer unsere Marke nach außen repräsentiert“,

flötet das Chefredakteurs-Duo Anna-Beeke Gretemeier und Florian Gless gleich zu Beginn. Sollte das ernst gemeint sein (also mehr als die bei solchen Verabschiedungen übliche Honig-um-den-Bart-Schmiererei), sollte sie sich beim Stern mal fragen, warum ihr “journalistischer Leitstern“ in den vergangenen Jahren ein Kolumnist war und kein investigativer Reporter.

In seiner letzten Kolumne (25 Cent bei Blendle) geizt Jörges nicht mit breitbeinigen Formulierungen:

“Ein Bundeskanzler – ich halte das hier so unscharf, weil ich das Schwert nun nicht mehr ziehen möchte –, ein Bundeskanzler also hat zweimal versucht, mich beruflich zu vernichten. Beide Male spielte sich das auf einem Bertelsmann-Empfang in Berlin ab, im Abstand von einem Jahr. Ich stand jeweils etwa 20 Meter von der Szene entfernt. Beim ersten Mal sagte jener Kanzler dem Verlagschef von Gruner+Jahr, er solle mir das Maul stopfen. Im folgenden Jahr verlangte er, mich zu feuern. Als er zur Antwort bekam: Das ist bei uns nicht üblich, erwiderte er: Dann seid ihr euer Geld nicht wert.“

Einerseits behauptet Jörges, das “Schwert nun nicht mehr ziehen“ zu wollen, andererseits tut er es mithilfe der Umschreibungen dann doch. Denn: So fürchterlich viele während Jörges’ Wirkungszeit amtierende Bundeskanzler, zu denen die zitierten Äußerungen (“Maul stopfen“, “Geld nicht wert“) passen, gab’s ja nun auch nicht. Und dass Jörges “beruflich vernichtet“ gewesen wäre, wenn Gruner + Jahr keine “Haltung“ gezeigt und ihn entlassen hätte, ist auch nicht unbedingt anzunehmen.

Altpapierkorb (Antisemitismus-Debatte, Wirecard-Dokudrama, freundliche Twitter-Account-Takeover, “Pop Utopia“)

+++ Was ist von einem an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichteten Offenen Brief zu halten, in den “mehr als 60 Intellektuelle aus Israel und Deutschland“ behaupten, “man könne nicht mehr offen über die Politik Israels debattieren, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus einzufangen“. Darauf geht Deutschlandfunk Kultur in einem Interview mit der Antisemitismus-Expertin Monika Schwarz-Friesel ein. Sie sagt:Eine der Hauptaussagen ist ja, Kritik an Israel würde prinzipiell jetzt immer gleichgesetzt mit Antisemitismus. Das stimmt ja so überhaupt nicht (…) Niemand aus der Forschung, niemand in den Medien – ich habe das auch empirisch überprüft an Hunderten von Texten – hat allen Ernstes jemals gesagt, legitime Kritik an israelischer Regierungspolitik sei Antisemitismus. Die Einzigen, die das behaupten, sind eigentlich diese Briefeschreiber (…) Dann kritisieren sie extrem die international anerkannte Working Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance) und sagen, sie sei nichts wert und man sollte sie nicht implementieren. Sie ist aber mittlerweile von 34 Ländern in der Welt und von fast allen renommierten Antisemitismusforschern und -forscherinnen in der Welt akzeptiert.“ Einen Offenen Brief gegen den Offenen Brief gibt es auch, dokumentiert ist er bei den Prinzessinnenreportern. Unterzeichnet haben ihn unter anderem das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus und der Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V. . Hier heißt es: “Es ist antisemitisch, Jüdinnen und Juden hier in Deutschland für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich zu machen. Dies erleben Jüdinnen und Juden immer wieder, seit Jahrzehnten. Dabei ist die Behauptung, dass man Israel nicht kritisieren könne, bereits ein Teil des Ressentiments. Es gibt hierzulande keine Sprechverbote, dazu genügt der tägliche Blick in die deutsche Presse.“

+++ Martin Himmelheber, ein Journalist der Neuen Rottweiler Zeitung, hat auf juristischem Wege erreicht, dass ihm die schriftliche Begründung eines die Firma Heckler & Koch betreffenden “Skandalurteils“ (Altpapier) zugänglich gemacht wird. Die Waffenbauer hatten dies verhindern wollen. Darüber berichtet Himmelheber für die Kontext Wochenzeitung.

+++ “Im ersten Quartal des kommenden Jahres“ wird bei RTLs Streamingportal TV Now ein “Wirecard-Doku-Drama“zu sehen sein, berichtet die FAZ (€). “Das Konzept (…) stammt von Raymond und Hannah Ley, von Georg Meck, Ressortleiter Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und von Bettina Weiguny, Autorin der F.A.S.“ Insofern ist die Meldung zumindest zum Teil auch eine in eigener Sache.

+++ “Wenn andere reichweitenstarke Multiplikatoren ihr Mikro für einen Tag an Personen leihen, die in der Aufmerksamkeitsökonomie weniger sichtbar sind oder weniger sichtbar gehalten werden, sorgt das für eine erkenntnisreiche, herzensbildende Störung der Kommunikations- und, im besten Fall, Diskursroutinen (Für beide Seiten!).“ Das schreibt Samira El Ouassil in ihrer Übermedien-“Wochenschau“ (€) anlässlich der Erfahrungen, die sie bei der eintägigen Übernahme des reichweitenstarken Twitter-Accounts des Zeichners Ralph Ruthe gemacht hat. Und: “Das Gesehen- und Gehörtwerden ist elementar für transformative Prozesse einer Gesellschaft; deswegen ist das Takeover vielleicht so ein interessantes, weil einfaches und wirkungsvolles Instrument, das nichts kostet außer Vertrauen.“

+++ Morgen geht es bei Arte mit dem “Summer of dreams“ weiter. Ich habe für die Medienkorrespondenz die zweiteilige Übersichtsdarstellung “Pop Utopia“ besprochen, die zu Beginn dieses Sommer-Schwerpunkts ausgestrahlt wurde und noch bis zum 8. August im Netz abrufbar ist. Trotz einiger erhellender Aussagen der Musikjournalisten Jens Balzer und Tobi Müller ist sie eher misslungen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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