Das Altpapier am 27. Juli 2020 Mit dem Helikopter über die Alpen
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27. Juli 2020, 07:59 Uhr
Die Florian-Silbereisen-Show der ARD wurde von Kitzbühels Tourismus bezuschusst. Warum Bezeichnungen wie “BPoC“ kein spalterischer Sprachgebrauch sind, sondern in erster Linie von komplexen Begriffsgeschichten zeugen. Und: In Ungarn hat eine Redaktion gekündigt, die den Verlust der Unabhängigkeit befürchtet. Ein Altpapier von Klaus Raab.
371.597 Euro
Am Samstag lief in der ARD die Show “Schlager, Stars & Sterne“ mit Florian Silbereisen. Ich habe sie verpasst, aber die Sendung, übertragen aus Kitzbühel, hatte dem Vernehmen nach alles, was eine zünftige Sause braucht: Roland Kaiser, Heino, Sarah Lombardi… Eine Sache aber “irritierte alle“, wie tz.de berichtet: “Es ist Florians neue Erscheinung“. Der Mann trug nämlich eine kurze Hose. Und nicht nur das:
“Während Ottonormalverbraucher mit einem Auto zu einer Party kommen, wird Flori zu seiner eigenen Schlagerparty erstmal mit einem Helicopter eingeflogen. Als er aussteigt, schwingt er sich dann auf ein für ihn bereit stehendes Motorrad, um sich direkt an den See zu begeben.“
Ach so, und dann war da noch eine zweite Sache, die irritierte, wenn auch vielleicht nicht gleich “alle“, sondern nur ein paar andere: “Die TV-Sause wird vom örtlichen Fremdenverkehr bezuschusst. Der Gesamtwert dieser Produktionshilfe liegt dem zuständigen MDR zufolge bei 371 597 Euro. Darin enthalten sind etwa Hotelkosten im Wert von bis zu 60 000 Euro, die Kitzbühel Tourismus übernimmt.“ Das meldete am Wochenende Der Spiegel.
“Sowohl am Anfang und Ende der Sendung blendet die ARD ein ‚P‘ für Produktionshilfe ein und kommt somit der Kennzeichnungspflicht solcher Hilfen nach. Mit der hohen mitfinanzierten Summe verstoße man laut MDR nicht gegen ARD-Werberichtlinien oder den Rundfunkstaatsvertrag.“
In den Werberichtlinien (ab Punkt 9 – Entgeltliche Produktplatzierung und unentgeltliche Produktionshilfe) heißt es freilich: “Das Produkt darf nicht zu stark herausgestellt werden.“ Ob Kitzbühel in der Schlagershow aus Kitzbühel zu stark herausgestellt wurde – zum Beispiel im Rahmen von Silbereisens “spektakulärem“ Einschweben “in den Kitzbüheler Alpen“ –, wird gewiss noch diskutiert werden.
(Transparenzhinweis: Ich arbeite, außer für den MDR, auch frei für den Online-Spiegel.)
Ein Blick nach Ungarn und Österreich
Am Freitag hat in Ungarn die Redaktion von Index gekündigt, weil der Chefredakteur, Szabolcs Dull, entlassen worden war. Index ist “eines der letzten regierungsunabhängigen journalistischen Schwergewichte“ in Ungarn (eurotopics.net). Dull schrieb, die Unabhängigkeit sei nicht mehr gewährleistet. Denn der Unternehmer Miklos Vaszily hatte zuvor 50 Prozent der Anteile der Werbeagentur von Index gekauft, und die Sorge der Redaktion schon damals, so @mediasres vergangene Woche: Index könne es ähnlich ergehen wie der Nachrichtenseite Origo, die sich unter Vaszilys Einfluss “von einer unabhängigen Nachrichtenseite zu einem regierungstreuen Medium gewandelt“ habe.
Am Freitagabend gab es in Budapest Demonstrationen gegen die Einschränkung der Medienfreiheit. “Der Protestzug formierte sich nahe der Index-Redaktion. Von dort aus zogen die Demonstranten entlang der Donau bis vor den Amtssitz von Premierminister Viktor Orbán im Burgviertel. Immer wieder klatschten sie spontan Beifall für die Arbeit der Index-Journalisten. Andere riefen 'Wir sind mit euch‘ und 'freies Land, freie Medien‘.“ So die Deutsche Welle.
Relevant über Ungarn hinaus sind die Geschehnisse in Ungarn auch deshalb, weil die EU sich soeben mit Rechtsstaatlichkeitskriterien befasst und EU-Hilfen nur zurückhaltend daran gebunden hat. Und auch deshalb, weil es Menschen in anderen Ländern geben könnte, die sich von Ungarns Entwicklungen leise inspirieren lassen…
…Ach, übrigens, ganz anderes Thema: Am Samstag berichtete die SZ über die hier am Freitag zusammengefassten Vorgänge in Österreich rund um ein Sebastian-Kurz-Interview. Warum wurden zwei Passagen aus einem Interview mit dem Privatfernsehsender Puls 24 herausgenommen? Warum etwa eine, in der Kurz sich im Ton vergriff? Die SZ kommentiert, das sei
“(e)in erstaunlicher Vorgang, der in Deutschland kaum vorstellbar wäre. In Österreich aber sind etliche Medien inzwischen die aggressive Gangart des Teams um Kanzler Kurz gewohnt. Deswegen ist dieser an sich nicht dramatische Vorgang bezeichnend: Statt rasch eine Entschuldigung zu veröffentlichen, setzt das Team Kurz schon bei einem flapsigen Spruch die 'Message-Control‘-Maschinerie in Gang. (…) Ein weiterer Teil der Wahrheit findet sich womöglich in Österreichs staatlicher Presseförderung. Nach dem Gießkannenprinzip werden auch Radio- und Fernsehsender mit Zuschüssen bedacht. (…) Ein weiterer Anreiz, es sich mit der Regierung nicht zu verscherzen.“
Inklusive exklusive Sprache
Gibt es eigentlich nicht auf Empörung zielende Sprachkolumnen? Erstaunlicherweise ja: bei newsroom.de. In Teil 54 seiner dort erscheinenden Kolumne weist Stephan Töngi vom Mannheimer Morgen darauf hin, dass man “potenziell“ auch mit “t“ in der Mitte schreiben kann, “exponentiell“ aber nicht mit “z“. Gut zu wissen. Und null polarisierend. Sofern der Duden als Autorität akzeptiert wird.
Viel weiter verbreitet als harmloser Deutschunterricht ist im Journalismus aber eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, die das Trennende der gemeinsamen Sprache überbetont.
“Ihr Medien-Entscheider*innen müsst BIPoC-Journalist*innen fördern!“ wäre ein Beispiel für einen zugleich inklusiven und exklusiven Satz. So lautet die Überschrift eines Beitrags, der Mitte Juli bei Meedia erschienen ist. Er wurde von einer Journalistenschülerin verfasst, die dafür zwar keinen Originalitätspreis gewinnen wird, aber herausragend radikal ist der Text nun auch nicht. Die Reaktionen, die sie darauf bekommt – ein verbissenes Herumgesenftel, nun, nach einigen anderen, auch noch von Manfred Klimek in der Welt (€) – ist deshalb erst recht ein Fall für sich.
“Den alten Journalismus, der sich oft noch als Handwerk begreift, den wird es in fünf Jahren nur noch in geringer Ausprägung geben. Er wird von Agitationspropaganda abgelöst“, heißt es bei Klimek. Man fragt sich aber auch, warum er, wenn er schon das alte Handwerk hochhält, dann zum Beispiel Hanns-Joachim Friedrichs “stets korrekten Lehrspruch 'Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten‘“ zitiert, ohne den ebenfalls hinlänglich bekannten Kontext zu benennen.
Erheblich konstruktiver als solche Debattentexte, die nur zur Vertiefung der Gräben beitragen, scheint mir das Vorgehen der Feuilletons von Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung und Süddeutscher Zeitung (Samstag). Grundvernünftig reportiert in letzterer etwa Jörg Häntzschel, warum Bezeichnungen wie BPoC kein spalterischer Sprachgebrauch sind. Häntzschel:
“Liest man die Kommentare, ist es, als tobe in Deutschland ein erbitterter Kulturkampf. Als würde ein jakobinischer Mob landauf, landab Denkmäler schleifen, Straßen umbenennen und Karrieren beenden. In Wahrheit wird, sieht man von der Umbenennung der Berliner Mohrenstraße ab, in Deutschland vor allem höflich diskutiert. Die deutsche 'Kultur‘, die deutsche 'Geschichte' ist nicht in Gefahr. Und was die Sprache angeht: Da geht es um nicht mehr als eine Handvoll Buchstaben.“
Häntzschel sprach mit einigen der Menschen, die – zum Beispiel – den Begriff “BPoC, für Black and People of Color“ nutzen möchten. Und siehe da:
“Sprachpolizisten konnte der Autor nicht finden. Stattdessen sprach er mit vielen vernünftigen und nachdenklichen Menschen, die ihm, einem weißen Deutschen, ihr Anliegen geduldig erklärten, nicht ohne auch ihre eigenen Zweifel anzusprechen. Denn glücklich sind nicht alle mit dem Begriff BPoC.“
Es gebe nur auch keinen besseren, zitiert er. Wenn alle Redaktionen, die sich für Phänomene einer sogenannten “Political Correctness“ interessieren, die Diskussion so führen würden – nämlich mit Blick für Motive und Uneindeutigkeiten –, wäre einiges gewonnen.
Ein anderes Beispiel für einen fruchtbaren Beitrag ist ein nicht unkritisches, aber (außer vielleicht in der Überschrift) nie polemisches “Glossar des richtigen Sprechens“, in dem Begriffe wie “Menschen mit Behinderung“, “trans“, “Person of Color“ oder auch das Gender-Sternchen erklärt werden, und das die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am Wochenende veröffentlicht hat (0,55€ bei Blendle):
“In den Selbstbezeichnungen diskriminierter Gruppen“ stecken “komplexe Begriffsgeschichten. Sie verraten viel über Verletzungen, Macht und unaufgelöste Widersprüche, die dem besinnungslosen Reden entgehen. Und sie sperren sich oft dagegen, in schöne und anschauliche deutsche Sätze integriert zu werden. Was die Sache nicht einfacher macht.“
Stimmt. Aber so kompliziert, wie sie momentan immer wieder dargestellt wird, ist sie auch nicht.
Altpapierkorb (“Panorama“-Beitrag, Institut für Rundfunktechnik, Fall Weinstein)
+++ Der “Panorama“-Beitrag über einen Oberstleutnant der Bundeswehr, der Beiträge eines Identitären likete (Altpapier vom Freitag), sorgt für Anschlussberichterstattung. Der Soldat selbst wurde u.a. vom Spiegel interviewt; die Berichterstattung der ARD ist zudem gleich mehrfach Thema u.a. in der Welt. Medienredakteur Christian Meier schreibt: “Das sieht nicht gut aus, schon gar nicht für einen Bundeswehrsoldaten, der wie Marcel B. mit Social-Media-Aufgaben betraut war und bei dem man Verständnis für Umgang und Funktion sozialer Netzwerke voraussetzen kann.“ Meier kritisiert aber vor allem auch, “dass einem Magazin der ARD wenige Likes reichten, um einen Menschen zunächst ohne weitere Belege in die Nähe von Rechtsradikalen zu stellen. Allein die Vernetzung auf einer Plattform, allenfalls ein Anlass zur tieferen Recherche, rechtfertigte für ‚Panorama‘ eine Berichterstattung. Wem das reicht, der sollte noch einmal über die journalistische Sorgfaltspflicht nachdenken.“ Die “Panorama“-Redaktion hat sich zur Kritik geäußert und schreibt u.a., sie habe dem Soldaten sehr wohl die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben.
+++ Die taz blickt in die Ukraine, wo die Journalistin Ekaterina Sergatskowa bedroht werde.
+++ “Die Zukunft des Instituts für Rundfunktechnik (IRT) der öffentlich-rechtlichen Sender ist weiter unklar. Auf einer Gesellschafterversammlung am Donnerstag gab es keine abschließende Entscheidung. ‚In einem engen Zeitraum wird weiterhin mit Hochdruck an der Möglichkeit einer Fortführung gearbeitet. Der Ausgang ist offen’, teilte das Institut mit.“ (FAZ, siehe auch horizont.net/dpa)
+++ “Was läuft verkehrt bei ARD und ZDF?“, fragt im Tagesspiegel Bernd Gäbler.
+++ Die Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor sprechen (SZ/€) über ihre Recherche zum Fall Weinstein und ihr Buch darüber: “Es ist auch eine Geschichte über die Macht von Journalismus – in einer Zeit, in der die Medien mit Fake-News-Vorwürfen konfrontiert sind. Oft fühlen sich Menschen ohnmächtig im Angesicht der Macht, und mit unserem Buch wollen wir zeigen, dass selbst die mächtigsten Männer und die mächtigsten Systeme nicht standhalten, wenn auf der anderen Seite guter Journalismus und mutige Leute stehen, die die Wahrheit sagen wollen.“
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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