Teasergrafik Altpapier vom 15. Juli 2020: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 15. Juli 2020 Könnten Europäer, was TikTok kann?

15. Juli 2020, 10:45 Uhr

Die neueste Plattform-Initiative des BR-Intendanten Ulrich Wilhelm ist spannender als sie daherkommt. Die EU plant eine "große Umwälzung", die "die digitale Welt für immer verändern" könnte und zumindest unter Lobbyisten für rege Aktivität sorgt. Heute fällt die erste, aber kaum letzte Entscheidung in der Ironie-gesättigten Irland-Apple-Milliarden-Frage. Und kann auf YouTube Videos und Werbung anschauen, wer gar nicht auf YouTube verweilt? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Neues von der europäischen Plattform-Idee

"Europa kann seine digitale Souveränität stärken, indem es ein digitales Ökosystem schafft, das auf die Gestaltungshoheit Europas und die demokratische Kontrolle durch seine Bürgerinnen und Bürger setzt. Ein solches digitales Ökosystem, das bereits in seiner technischen Ausgestaltung europäischen Werten wie Transparenz, Offenheit und Schutz der Privatsphäre ..."

Hui, rüttelt da Bundespräsident Steinmeier auf? Nein, der Absatz entstammt dem 32-seitigen, grafisch gefällig hell bunt gestalteten Impulspapier "European Public Sphere. Gestaltung der digitalen Souveränität Europas", das gestern veröffentlicht wurde. Dahinter steckt "eine Projektgruppe unter der Leitung von Henning Kagermann und Ulrich Wilhelm".

Kagermann war lange Chef des Konzerns SAP. Wilhelm war ARD-Vorsitzender, hat in dieser Zeit seine Idee einer europäischen Medien-Plattform mit Ausdauer verbreitet und amtiert noch (Altpapier gestern) als Intendant des Bayerischen Rundfunks. Publiziert hat das PDF die nicht sehr oft groß in Erscheinung tretende Akademie "acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften", die im PDF viele "weitere Impulsgeberinnen und -geber und Fachleute aus Wirtschaft und Wissenschaft" nennt, etwa führende Mitarbeiter des Burda-Konzerns, dessen Name ja noch bis vor wenigen Jahren sehr klangvoll im Mediengeschäft war.

Und dennoch ist die Angelegenheit spannender als es scheint. Weil es sich um eine ziemlich süddeutsche Community handelt, wurde das Ganze gestern in der Süddeutschen Zeitung lanciert. Da schrieben Caspar Busse und Andrian Kreye, die fürs Feuilleton ein fast ganzseitiges Interview (€) mit Wilhelm und dem Präsidenten der TU München, Thomas Hofmann, führten, von einem "Grundsatzpapier, das sich liest wie eine Kampfansage".

Im Interview scheut Ulrich Wilhelm sich zum Beispiel nicht, "schicksalhaft wichtig" zu sagen, und:

"Der digitale öffentliche Raum wird heute von nichteuropäischen Unternehmen dominiert und beruht auf Geschäftsmodellen, die nicht sensibel sind für Werte der Demokratie, auch des Gemeinwohls. Das führt zu großen Fehlentwicklungen ..."

Die hochgradig amerikanophile SZ stellt Fragen wie "Sind europäische und amerikanische Werte nicht spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ziemlich deckungsgleich?" und "Ist das nicht auch Protektionismus, der den ursprünglichen Idealen des Internets widerspricht?" und fragt, warum die neue Initiative noch nicht den "Chaos Computer Club, Netzpolitik oder Republica" begeistert hat und wie sie denn "YouTube-Stars wie Rezo, Julien Bam oder Bibi" begeistern möchte, von Googles YouTube "in ein europäisches Ökosystem zu wechseln".

In ungefähr dem Zusammenhang entgegnet Hofmann, ursprünglich Lebensmittelchemiker, der naheliegenden Skepsis, ob es angesichts der auf sämtlichen Ebenen erdrückenden Dominanz US-amerikanischer Plattformen nicht längst zu spät ist, europäische Gegenmodelle anzuleiern, mit dem frischen Argument:

"Im Übrigen erleben wir ja immer wieder, dass trotz der Größe der Etablierten neue Plattformen wie Tiktok erfolgreich sein können. Wenn das einem chinesischen Portal gelingt, warum soll es für ein europäisches nicht möglich sein? Sowohl viele Anbieter als auch viele Nutzer würden gerne zu transparenten und fairen Plattformen wechseln ..."

Ein Argument, das sitzen sollte, falls es den entscheidungsbefugten Politikern nicht ausschließlich darum geht, in den laufend veranstalteten Wahlumfragen nicht zurückzufallen, lautet, dass ja bloß "ein Bruchteil" der 750 Milliarden Euro nötig wäre , die gerade auf EU-Ebene verteilt werden – neben den Milliarden, die auf Staaten-, in Deutschland Bundes- und Länder-Ebene rausgehauen werden. "Gemessen an den Riesensummen, die jetzt zur Stabilisierung der Wirtschaft fließen, geht es hier um relativ kleine Beträge" sagte Wilhelm der dpa (heise.de). Viel mehr als ein paar Meldungen, darunter eine flott multimediale bei Wilhelms eigener Anstalt, zog die Initiative bisher nicht nach sich. "Wenn die Corona-Krise überhaupt für etwas gut sein könnte, dann vielleicht dazu: dass manchen die Abhängigkeit von datengetriebenen Geschäftsmodellen klar wird, was zu einem Umdenken führen könnte", kommentiert Interviewer Busse heute im SZ-Wirtschaftsressort (wobei der doppelten "könnte"-Konjunktiv am ehesten ins Auge springt) die Initiative.

Die schönen Werte des Universalismus, der im europäischen (oder zumindest deutschen) Mainstream weiterhin schwer in Mode ist, schwinden an den meisten anderen Ecken und Enden der Welt, auch in Washington und London. Dass europäische Nutzer diese Werte bei Google, Facebook und Co bestätigt bekommen, ist, äh, nice, sollte aber nicht überschätzt werden. Schließlich gilt das für Impfgegnerinnen und Verschwörungsmythologen im Prinzip ja auch: Auf den üblichen Plattformen bekommen alle standardmäßig angezeigt, worin sie bestätigt werden wollen. Das ist ein zentraler Service dieser Plattformen. Ein offenes, mit Ausdauer aufgebautes europäisches Gegenmodell wäre verdammt wichtig.

Neues aus der EU-Digitalpolitik

Wie der Zufall will, wird in Brüssel bereits "die große Umwälzung", die "die digitale Welt für immer verändern" könnte, vorbereitet. Da berichtet der eigentlich zurückhaltende Blog netzpolitik.org über den "Digital Services Act" der EU, der auf deutsch den Namen "Gesetz für digitale Dienste" tragen soll: "Ein erster Textentwurf wird gegen Jahresende erwartet, doch Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat das Gesetz zu einem der Leuchtturmprojekte ihrer Amtszeit erklärt".

Freilich müsste dieser Leuchtturm notwendig die Strahlkraft von Leuchtturmprojekten nationaler Regierungen,  etwa des deutschen NetzDG, verringern. Und die zahlreichen deutschen Institutionen, die sich zwar weitgehend wirkungsfrei, aber doch mit oft guter Ausstattung auf oft eng an Bundesländer-Regierungspolitik gekoppelten Posten um Internet-Regulierung bemühen, würden noch weiter an Relevanz verlieren. Und obwohl der erste Textentwurf, über den dann noch Jahre lang gestritten werden dürfte, noch gar nicht vorliegt, laufen bereits Lobbying und Frontenbildung auf Hochtouren, schreibt Tomas Rudl.

So habe sich eine Gruppe von zehn EU-Staaten zusammengefunden, um das meiste so zu belassen, wie es ist. Das seien "kleine Staaten mit großer Digitalbranche wie Estland, Finnland und Schweden" und "Länder wie Polen, Irland und Luxemburg, die ausländische Konzerne mit niedrigen Unternehmenssteuern locken." Denen ist besonders wichtig, "das Herkunftslandprinzip, nach dem Firmen in erster Linien den Gesetzen ihres Sitzstaates unterworfen sind", beizubehalten.

Unter diesem Aspekt und für einen dieser Staaten wird es am heutigen Mittwoch spannend: Am Gericht der Europäischen Union in Luxemburg wird das erste Gerichtsurteil im "Streit um die Rekord-Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro für Apple in Irland" fallen (siehe etwa Standard). Ob diese "richtungsweisende Entscheidung", die die streitbare EU-Kommissarin für Wettbewerb und inzwischen auch Digitales an sich, Margrethe Vestager, anno 2016 verhängte, Bestand haben wird, wagt auch das FAZ-Wirtschaftsressort noch nicht vorherzusagen. Die Ironie dieser Sache: Irland, dem die Milliarden zugute kämen, will sie gar nicht, weil dann seine Qualität als EU-Hauptsitz kalifornischer Datenkraken in Gefahr geriete.

Falls Sie sich für das auf deutschen Agenden weiter unten rangieren Nischen-/-Orchideen-Thema EU-Politik interessieren: Kürzlich wurde, für deutsche Beobachter überraschend, statt der für favorisiert gehaltenen spanischen Sozialdemokratin, zum neuen Vorsitzenden der Euro-Gruppe (die eher informell, aber für die gleichnamige Währung wichtig ist) Paschal Donohoe gewählt: also der Finanzminister der EU-weit ausstrahlenden Steueroase und Datenschutzwüste Irland...

Je wichtiger alle YouTube finden, desto wichtiger wird es

Wenn immerzu überall von der Dominanz US-amerikanischer Plattformen die Rede ist, wie in diesem Altpapier ja auch wieder, obwohl sie längst null Newswert besitzt und prozentual kaum noch steigen kann – besitzt das eine selbstverstärkende Dynamik, die die Maßstäbe zusätzlich verzerrt?

Zumindest eine "massive Überschätzung von YouTube" beklagte gerade Bertelsmanns RTL, berichtet horizont.net. Sicher, RTL ist, was das im linearen Fernsehen immer noch und im Internet erst recht lukrative Geschäft mit Werbung in Form von Bewegtbildern angeht, ein Wettbewerber von YouTube. Doch ist der Vorwurf "umso brisanter", weil er gar nicht Google gilt, sondern der GfK, also der in der Mediennutzungsforschung renommierten "Gesellschaft für Konsumforschung" aus Nürnberg.

"Gleich zweimal seien die durchschnittlichen Tages-Netto-Reichweiten, Sehdauern und Verweildauern von YouTube falsch ausgeliefert worden. Aufgefallen ist der mutmaßliche Fehler in Köln, weil in einem GXL-Datensatz, der Horizont vorliegt, die Youtube-Sehdauer viel höher als die Verweildauer angegeben ist. Letztere lag bei 31 Minuten für YouTube, die Sehdauer bei 58 Minuten. In der Praxis ist das schlicht nicht möglich: Wer sich nicht mehr auf einer Plattform aufhält, kann auf dieser auch nichts mehr sehen."

Diese Geschichte (die sich online nach Anmeldung per E-Mail-Adresse kostenlos lesen lässt) ist im technokratischen Sound der Werbewirkungsforschung verfasst und hat mehrere Schleifen und Ebenen. Die GfK habe nach erster Kritik an ihrem Datenmaterial nachgebessert, aber immer noch Zahlen, die nicht stimmten, geliefert. Und RTL, das diese Zahlen als zahlender GfK-Kunde bezieht, um "ein Gefühl für unsere Konkurrenz zu bekommen", ärgert sich nun, "sehr relevante Fehleinschätzungen zu unserem Marktkonkurrenten abgeleitet" zu haben. Vielleicht ist das keiner größeren Aufregung wert. "Beim Verband der Mediaagenturen OMG reagiert man vergleichsweise gelassen auf die falschen Zahlen", meldet zumindest dwdl.de.

Wobei es den Mediaagenturen natürlich gleichgültig sein kann, wo sie nun Werbung platzieren...

Nicht, dass wir ausgerechnet in dieser Nische Zweifel an der Reichweiten-Ermittlung säen wollen, auf der schließlich das allersystemrelevanteste Massenmedium basiert, das Einschaltquoten-Fernsehen (in dem unsere ARD, durchaus nicht zu Unrecht, den stolzen Markennamen "Das Erste" führt!). Doch die GfK, deren Akronym genau genommen nun für "Growth from Knowledge" lautet, gehört ja inzwischen den Heusch ... pardon: Finanzinvestoren von KKR, denen zwischen circa dem halben Springer-Konzern und der noch konturlosen Fred Kogel-Firma namens "Leonine" ziemlich viel im deutschen Mediengeschäft gehört ...). Und aus ihrem inzwischen überwiegend englischsprachigen Internetauftritt hat sie offenbar ziemlich vielen deutschsprachigen Text entfernt. Das merkt man, wenn man sucht, wofür "GXL" eigentlich steht. Ungefähr dafür, zeigt sich im deutschsprachigen Abschnitt einer Stellenanzeige:

"Unser CrossMediaLink (GXL) Panel ist dabei ein einzigartiger Ansatz, die passiv gemessenen Mediennutzung sowie Kaufverhalten aus einer Hand kombiniert. Basierend auf der ganzheitlichen Messung von TV, Print und Online (inkl. mobiler Internetnutzung) ermöglicht es tiefgehende Analysen zu bestimmten Medienkanälen und deren Interaktion. Neben der Kampagneneffizienz beinhaltet unser Portfolio ebenfalls die Übertragung unser Mediadaten in Tools von Drittanbietern / Kunden sowie anspruchsvolle kundenspezifische Analysen."

Als guter Anlass, sich nicht mehr zu sehr vom betagten Fetisch angeblich repräsentativ ermittelter Einschaltquoten bezirzen zu lassen – und vielleicht gar: auf in einem ursprünglichen Sinne anspruchsvolle Inhalte zu setzen – könnte diese Geschichte vielleicht dienen.


Altpapierkorb ("Medienpolitisches Schneckentempo", ziemlich unbekannter "vielleicht erfolgreichster deutscher Digitalgründer", Glückwunsch "Kicker"!, New Yorker Nachrufe, "Das neue Normal")

+++ "Dieses medienpolitische Schneckentempo schadet nicht nur der Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, sondern auch der Ausgewogenheit des dualen Rundfunksystems": Da ärgert sich Helmut Hartung auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle) über die jüngsten Wendungen, also Verzögerungen in der von den Bundesländer-MinisterpräsidentInnen betriebenen Rundfunkpolitik, von denen zuerst die Medienkorrespondenz berichtete.

+++ "Wieso kommt der vielleicht erfolgreichste, deutsche Digitalgründer nach den SAPlern praktisch gar nicht in deutschen Medien vor, obwohl ein Husten von Mark Zuckerberg Eilmeldungen auslöst, Frank Thelen alle fünf Minuten ein Mikro vor der Nase hat und alles Startup genannt wird, was eine Datenleitung abonniert?" Das fragt, mit vielen, also wenigen Beispielen Thomas Knüwer (indiskretionehrensache.de) anhand des Shopify-Gründers Tobi Lütke.

+++ Am gestrigen 14. Juli wurde der Kicker, die traditionsreiche und dennoch online gut aufgestellte Fußballzeitschrift 100 Jahre alt. Glückwunsch! Dem Erfolgsrezept, aber auch Kritik am Kicker ging Deutschlandfunks "@mediasres" nach.

+++ "In den USA bekommen viele Opfer der Corona-Pandemie nicht einmal eine Todesanzeige", und da will die "spendenfinanzierte Online-Zeitung" thecity.nyc mit Nachrufen gegensteuern, berichtet Konrad Ege bei epd medien.

+++ Auf der SZ-Medienseite (€) bespricht Heribert Prantl eher den inzwischen ergebnislos beendeten Prozess zur Duisburger Loveparade-Tragödie als die heute auf Arte gezeigte ARD-Dokumentation dazu. +++ Übrigens: "Die Medienseite der SZ wird dem neuen Ressort Feuilleton Medien zugeschlagen. Die bisherige Medien-Chefin Laura Hertreiter wird das neue Ressort gleichberechtigt mit Alexander Gorkow leiten, bisher Seite-3-Chef", meldete die BLZ (um allerdings vor allem "die Frage, ob die SZ ein Problem mit Frauen und Onlinern hat", zu stellen ...).

+++ Kritik an den unausgegorenen, aber jedenfalls digitalen Bundes-Presse-Subventionen äußert Gregory Lipinski bei meedia.de ("Der Bund macht es den Verlagschefs quasi unmöglich, die Zustellung ihrer Zeitungen dauerhaft wirtschaftlich zu betreiben. Vor allem in vielen ländlichen Regionen drohen rasch weiße Flecke").

+++ Schon gestern hier ein Thema: wie die Fernsehindustrie unter Corona-Bedingungen ihren Ausstoß hochfährt. Heute geht's darum in der FAZ (Blendle), die sich freut, dass das ZDF seine Katie-Fforde-Schmonzetten statt an Originalschauplätzen in der Holsteinischen Schweiz dreht, und bei uebermedien.de, wo der Veteran Wilfried Urbe einen Überblick ("Überaus optimistisch schätzt Nico Hofmann die Lage ein") gibt.

+++ Und in heute nacht linear ausgestrahlten, in der ARD-Mediathek nonlinear verfügbaren neuen Ausgabe des MDR-Kurzfilm-Magazins "unicato" ist "Das neue Normal" ebenfalls Thema.

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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