Das Altpapier am 24. Juni 2020 Journalisten sind wie Kinder
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24. Juni 2020, 12:19 Uhr
Was ihre Haltung zur Polizei angeht, haben sich viele Journalisten seit ihrer Polizeiauto-Spielzeugphase nicht nennenswert weiter entwickelt. Gute Nachricht für potenzielle Stuttgart-Reisende: Trotz anderslautender Medienberichte steht die Stadt noch. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Was einen satirischen Text von einem Kommentar unterscheidet
- Die "strukturellen Vorteile" der Rechten im "Diskurskampf"
- Zur "medialen Realität" in Sachen #Stuttgart
- Altpapierkorb (ARD-Recherchen zu geschlossenen rechten Facebook-Gruppen, Kooperationen internationaler Medien und Journalistenorganisationen mit Maria Ressas Rappler, Freischreiber-Honorarreport 2020)
Was einen satirischen Text von einem Kommentar unterscheidet
Das sich fürs Altpapier aufdrängende Überthema ist auch heute die Auseinandersetzung um und im besten Fall sogar mit Hengameh Yaghoobifarahs "All cops are berufsunfähig"-Kolumne (siehe Altpapier von Dienstag). Samira El Ouassil (Übermedien) schreibt :
"Die öffentliche Rezeption des Textes zeigt, dass verschiedene Lesarten vorhanden waren, wobei die am meisten kritisierte Lesart 'Polizisten seien Müll' von der Autor*in selbst im Nachhinein abgelehnt wurde – das muss man zur Kenntnis nehmen. Das Rekurrieren auf eine andere Interpretation des Textes ist hermeneutisch-kritisches Spekulieren, was natürlich legitim ist – wir sind ja achtzig Millionen verkappte Germanistikseminaristen –, man sollte aber die Uneindeutigkeiten nicht willentlich gegen die Autor*in instrumentalisieren, wenn sie* sich öffentlich von einer Lesart distanziert hat, gerade in einer ohnehin so zerknüllten Debatte."
Ihr Fazit:
"Eine Gesellschaft muss es nicht mögen, aber den Schmerz unbedingt aushalten, wenn in einer linken Zeitung in einem Meinungsstück ein*e Autor*in jede Form von Autoritarismus verspottet. Denn diese schmähende Abwertung systemischer Institutionen durch eine Grenzüberschreitung ist eben auch (t)rotzige Selbstbehauptung."
Die "schmähende Abwertung" der Polizei erträgt ein guter deutscher Journalist aber bloß so gut wie der prototypische Stuttgarter Wochenend-Randalierer die Mutmaßungen, seine Mutter verdiene ihren Lebensunterhalt im ältesten Gewerbe der Welt. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass ich mich bei der Formulierung "prototypische Stuttgarter Wochenend-Randalierer" auf ein ferndiagnostisches Narrativ beziehe (mehr zu #Stuttgart folgt weiter unten).
Über die Haudeginnen und Haudegen der taz, die am Wochenende mit Contra-Yaghoobifarah-Texten die Bühne betraten, schreibt Mely Kiyak in ihrer Zeit-Online-Kolumne:
"Es gibt diese Kollegen, die ihre Abscheu gegen eine diversere Zeitung verklemmt als Kampf um sprachliche Finessen und als stilistisches Florettgefecht ummänteln, aber eigentlich vertreten sie dieselben Argumente gegen die marginalisierten Stimmen wie die Deutsche Polizeigewerkschaft und ihr Minister. Und weil es hier in den vergangenen Tagen immer um Vergleiche ging: Das hier war jetzt einer."
Auf die internen Auseinandersetzungen nimmt auch ein Offener Brief von freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit der Anrede "Hallo taz’ler’innen, sehr geehrte Chefredaktion" Bezug:
"Wir erwarten, zukünftig nicht zum Spielball hauspolitischer Auseinandersetzungen zu werden. Wir erwarten, dass wenn ein Text abgenommen wurde, wir auf Unterstützung der taz zählen können. Wir erwarten mehr."
Bei Zeit Online ist außer der Mely-Kiyak-Kolumne ein weiterer Text zum Thema erschienen. David Hugendick und Johannes Schneider schreiben:
"Nun hängt es immer vom Einzelnen ab, einen Text auch als die Kunst anzusehen, als die er sich ausgibt. Ein Leser kann den Anspruch gern verwerfen, ihm widersprechen, den Text geschmacklos oder gar unmoralisch finden und ihm im Privaten den Kunststatus aberkennen, was allerdings an der allgemeinen Gültigkeit des Kunstvorbehalts wenig ändert, unter dem der Text weiterhin steht. Dieser Vorbehalt sichert gerade der satirischen Kolumne gewisse Freiheiten zu, die ein Kommentar, eine Reportage oder eine Buchrezension in einer Zeitung nicht besitzen."
Das ist ein guter Anlass zu betonen, dass der Text ja nun gerade nicht auf der Kommentarseite der taz erschienen ist, sondern auf einer Seite des Ressorts taz zwei, auf der nicht selten gegen den Strich gebürstete Kolumnen zu finden sind.
Hugendick/Schneider betonen außerdem:
"(Der) Kunstvorbehalt gilt im Übrigen nicht nur für gute Kunst, wobei die Beurteilung der Güte von Kunst noch mal ganz andere Fragen aufwirft. Nicht allerdings jene, ob die Bezeichnung eines Textes als Satire ihm eine besondere Güte oder Qualität verleiht. Tut sie nicht."
Da wir hier ja über Satire reden, breche ich den bisherigen Tonfall an dieser Stelle gern auf mit einer satirischen Reaktion auf die Reaktionen. Titanic-Chefredakteur Moritz Hürtgen vertritt jedenfalls folgende "MEINUNG":
"Was bringt Menschen dazu, eine ganze Berufsgruppe, die Polizei, als Müll zu bezeichnen? Der skandalöse Text erschien quasi aus dem Nichts, die Nachrichtenlage der vergangenen zehn Jahre liefert keine Erklärung, keinen Anlass, keinen Zusammenhang. Warum also? Die Antwort lautet: Identitätspolitik. Diese entstand vor kurzem in den geheimen Twitter-Chaträumen amerikanischer Elite-Universitäten und verdirbt nun unsere Jugend. Auf den Schulhöfen wird sie per Bluetooth gehandelt und macht die Kids kirre. Mehr muss man eigentlich nicht wissen."
Zurück zu Hugendick/Schneider:
"Dass Yaghoobifarahs Text als Satire aufgefasst werden möchte, erschließt sich schon nach wenigen Zeilen, als er den Boden des Realen verlässt und sich dem Imaginären zuwendet (…)Wer jetzt weiterliest, sollte wissen, dass er sich fortan in einem polemischen, hyperbolischen Gedankenexperiment befindet. Die Perspektive dieser Kolumne folgt einem kenntlich zugespitzten Gedanken: dass Polizisten und Polizistinnen aufgrund etlicher interner, bekannter Skandale und Enthüllungen sowie mutmaßlich und weniger mutmaßlich rechtsradikaler Beamter in ihren Reihen nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln seien."
Wobei man ergänzen könnte, dass die taz für viele dieser "Enthüllungen" verantwortlich ist. Darauf geht auch Mely Kiyak ein:
"Die taz hat in einer Reihe bemerkenswerter und ausgezeichneter Recherchen herausgefunden, dass es innerhalb der Sicherheitsbehörden, also bei Polizei und Sondereinheiten, rechtsextreme, militante Strukturen gibt. Genau deshalb gehört die gesamte Institution – und eben nicht einzelne Polizisten – kritisiert und analysiert, damit sie Druck verspürt, sich von ihren Terrorströmungen zu reinigen. Die Recherchen der taz führten nicht dazu, dass der Innenminister sich politisch bewegt, aber Hengameh Yaghoobifarahs Kolumne sehr wohl."
Ein paar Relationen rückt Margarete Stokowski (Spiegel) gerade:
"Der einzige Grund, keine Witze über die Polizei zu machen, wäre die Einsicht, dass die Situation nach bisheriger Lage der Erkenntnisse zum Thema Rassismus bei der Polizei einfach zu ernst ist. Und selbst wenn Yaghoobifarah eindeutig geschrieben hätte, dass ihrer Meinung nach Polizei Müll ist: Gut, dann hätte jemand einen schlechten Text geschrieben. Wäre das krasser als die Tatsache, dass die Polizei in diesem Land ihren Job nicht gut macht? Nein."
Welche generellen Mechanismen werden in der Rezeption der Yaghoobifarah-Kolumne deutlich? In diesem Kontext lohnt ein Blick in die Einstiege bei Stokowski und Hugendick/Schneider. Stokowski schreibt:
"Es ist immer bitter, wenn man sich von einer Idee trennen muss, an die man lange geglaubt hat. Vom Weltfrieden, Weihnachtsmann, whatever - oder vom Glauben daran, dass Polizisten die Guten sind, die auf uns alle aufpassen und tapfer auf Verbrecherjagd gehen."
Journalisten, die an den Weihnachtsmann glauben, gibt es vermutlich eher nicht so viel, aber an solchen, die ihre Haltung zur Polizei seit ihrer Polizeiauto-Spielzeugphase nicht geändert haben, mangelt es nicht.
Bei Hugendick/Schneider heißt es zu Beginn:
"Wer einmal Kind war, und wer war das nicht, kennt vielleicht die Aufforderung, man möge sich nicht dumm stellen, oder genauer: sich nicht mutwillig dumm stellen. Es geht dabei meist darum, aus taktischen Erwägungen, zum Schutz oder zur Beförderung eigener Interessen, bestimmte Dimensionen eines Problems zu leugnen. Man sagt dann, man habe nicht gewusst, dass das Geld auf der Ablage für den Paketboten bestimmt war. So etwas."
Diese Passage hat die Redaktion zu der Überschrift "taktisches Missverständnis" inspiriert, und die ist ziemlich gut - vor allem, weil sie über die aktuelle Diskussion hinaus gültig ist: Viele Journalisten verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit damit, dass sie aus "taktischen" - oder, etwas altmodischer formuliert: ideologischen - Gründen Dinge missverstehen.
Die "strukturellen Vorteile" der Rechten im "Diskurskampf"
Jemand, der fest daran glaubt, "dass Polizisten die Guten sind, die auf uns alle aufpassen und tapfer auf Verbrecherjagd gehen" (Stokowksi), hat am Montag den Kommentar in den "Tagesthemen" gesprochen. Diesen wiederum ordnet Sebastian Friedrich für den Freitag folgendermaßen ein:
"Dass die Law-And-Order-Fraktion auf bestem Wege ist, den Ring als Sieger zu verlassen, zeigt der Kommentar in den Tagesthemen am Montag: Yaghoobifarah und Esken seien geistige Brandstifter. Übergriffe der Polizei müssten angezeigt und gerichtlich geahndet werden, doch in Summe und Schwere der Taten seien diese nicht zu vergleichen mit den Angriffen auf Polizisten. Unter dem Strich zeigt die Debatte einmal mehr: Auch wenn Rechte sich gerne als Opposition darstellen – sie haben offenbar strukturelle Vorteile im Diskurskampf."
Lorenz Matzat schreibt in einem Twitter-Thread:
"Es könnte auch AfD oder Rainer Wendt drüber stehen - statt Tagesthemen -, und es würde nicht auffallen."
Der Autor des rainerwendtesken Kommentar ist der 2018 mit einer denkwürdigen G20-Doku als Linkenfresser aufgefallene Thomas Berbner, den ich im Altpapier mal am Rande verarztet habe.
Zur "medialen Realität" in Sachen #Stuttgart
In Berbners Kommentar ging es auch um #Stuttgart. Über das mediale Bild, auf das sich der NDR-Mann bezieht, schreibt die Wochenzeitung Kontext:
"Die Berichterstattung über die 'Nacht der Schande' ('Bild') in Stuttgart hat bundesweit eine mediale Realität erzeugt, die von der Wirklichkeit weit entfernt ist."
Das ist fast ein bisschen banal, denn Berichterstattung über Randale ist ja immer Ideologieproduktion und Wunschbildmalerei. Im Detail ordnet Johanna Henkel-Waidhofer das Ganze so ein:
"Es gibt kein 'Schlachtfeld' (CDU-Landtagsfraktionschef Wolfgang Reinhart), auch keine Blutspur, 'die sich vom Hauptbahnhof bis zur Marienstraße zieht' (StN). Es gibt keine 'verwüstete Innenstadt' (dpa) und keine 'bürgerkriegsähnlichen Zustände' (AfD und SPD). Aber es gibt in der deutschen Sprache jede Möglichkeit, sich differenziert auszudrücken über den Landfriedensbruch, die inakzeptablen Angriffe auf Menschen und Fahrzeuge, die Lust an Gewalt und Zerstörung, das Macho-Gebaren und das schräge Bewusstsein, wonach gewalttätiger Blödsinn eine Art Heldentat ist, wenn sie einen Filmschnipsel auf Youtube hergibt."
Auf eine bei Twitter von Jens Volle und auch bei n-tv.de erwähnte groteske bis trumpeske Inszenierung für eine Stuttgarter Performance von Horst Seehofer und Co. — man beachte in Volles eben verlinktem Tweet die wie choreographiert wirkenden Blicke auf dem Foto oben rechts - geht Henkel-Waidhofer ebenfalls ein:
"Für Horst Seehofer, eigens aus Berlin angereist, wurde extra ein heftig demoliertes Polizeifahrzeug mit zertrümmerten Scheiben in der Oberen Königstraße platziert. Zehn Meter weiter hatte das Eiscafé Venedig nicht so sehr viel hergegeben an optischer Untermalung. Immerhin konnte es weniger als vierzig Stunden nach dem Krawall schon wieder KundInnen mit Kugeln und Bechern bedienen, obwohl es doch laut FAZ ‚zerstört‘ worden war."
Was fehlt denn nun zum Beispiel in der bisherigen Berichterstattung zu Stuttgart? t-online.de hat mit dem Soziologen und Jugendforscher Albert Scherr gesprochen. Er sagt:
"Bei dem was im Augenblick bekannt ist, wäre ich vorsichtig damit, eine Ferndiagnose zu stellen. Und es macht auch überhaupt keinen Sinn, wenn jetzt Politikerinnen oder die Medien sich ganz schnell an irgendwelche Erklärungen wagen, die sehr aus der Luft gegriffen sind. Wir müssen einfach abwarten, dass die Polizei ihr Wissen von dem ganzen Prozess kenntlich macht. Und natürlich müsste man auch andere Akteure befragen. Stuttgart hat ja eine relativ breite mobile Jugendarbeit. Dort hat man genaueres Wissen über die Szene. Bevor man von diesen Seiten – und idealerweise auch von den betroffenen Jugendlichen selbst – keine Informationen hat, bleibt alles sehr spekulativ."
These: In den nächsten Tage wird es so laufen, wie es oft läuft: Es werden zu Stuttgart gute Erklärstücke oder andere nicht-spekulative Texte erscheinen, aber sie werden die bereits gesetzte Erzählung nur geringfügig verändern.
Altpapierkorb (ARD-Recherchen zu geschlossenen rechten Facebook-Gruppen, Kooperationen internationaler Medien und Journalistenorganisationen mit Maria Ressas Rappler, Freischreiber-Honorarreport 2020)
+++ Ein zehnköpfiges Team von Reporterinnen und Reportern war beteiligt an dem Projekt "Die Hassmaschine” von BR, NDR und WDR, das "den bisher tiefsten Einblick in eine rechte, mitunter rechtsextreme Schattenwelt" bei Facebook bietet, wie die Beteiligten in einer Zusammenfassung bei tagesschau.de schreiben. Das Team hat "2,6 Millionen Posts und Kommentare aus 138 meist geschlossenen rechten Facebook-Gruppen technisch erfasst und analysiert (…) Sie gewähren den bisher tiefsten Einblick in eine rechte, mitunter rechtsextreme Schattenwelt im weltweit größten sozialen Netzwerk Facebook (…) 25 der untersuchten Gruppen haben einen Bezug zur AfD (…) Nach Recherchen von BR, NDR und WDR waren darin (…) mehrere Accounts von Bundes- und Landtagsabgeordneten zu finden. Diese waren auch in Gruppen aktiv, in denen mutmaßlich strafbare Inhalte gepostet wurden. Die AfD ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet."
+++ Welche internationalen Medien und Journalistenorganisationen das unter exzeptionellem juristischem Druck stehende philippinische Online-Portal unterstützen wollen - siehe die aktuelle Berichterstattung zum Vorgehen gegen die Rappler-Herausgeberin Maria Ressa (Altpapier, Altpapier) -, berichtet das Global Investigative Journalism Network. Darunter sind der Guardian,das Latin American Center for Investigative Journalism, Le Monde, die SZ und SVT, Schwedens öffentlich-rechtliche Fernsehgesellschaft: "Working with Rappler’s reporters, the group will look into international angles of important stories originating from the Philippines. Rappler staff will have access to databases and analysts, journalists, researchers, and reporters from all these partner organizations to help them in their work."
+++ Der Freischreiber-Honorarreport 2020 liegt vor, und er liefert - wen wundert’s? - keinen Anlass, Freudentränen zu vergießen: "Auffällig ist wie schon 2019 die extreme Bandbreite der Honorare, die freie Journalist*innen erzielen – abhängig vom Medium, für das sie arbeiten (…) Der Spitzenreiter – das Greenpeace Magazin – zahlt seinen Freien für 1000 Zeichen knapp 200 Euro, das Schlusslicht Jungle World hingegen knapp 8 Euro. Gerade so, als handele es sich hier um zwei verschiedene Berufe." Steffen Grimberg stellt die Erhebung des Verbandes in seiner taz-Kolumne vor und plaudert dabei aus dem Nähkästchen: "Das taz-Grundhonorar liegt bei 49 Euro für einen Text von 3.000 Zeichen."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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