Das Altpapier am 19. Juni 2020 Intersubjektiv richtig
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19. Juni 2020, 11:30 Uhr
Samira El Ouassil schlichtet den Streit über Neutralität im Journalismus. Christian Meier fragt, ob Selbstversicherung als Journalismusmodell trägt. Und in der SWR-Wuhan-Doku geht es um die Frage: Hat China die Doku aus dem Programm genommen? Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Auf der Seite der Wahrheit
Wie es mit der Neutralität und der Objektivität im Journalismus weitergeht (zuletzt hier im Altpapier), ist leider weiterhin nicht geklärt. Samira El Ouassil versucht für Übermedien, etwas Ordnung in die Debatte zu bringen. Sie schreibt: "Man kann als Journalist objektiv sein, ohne neutral sein zu müssen." Den Satz muss man etwas sacken lassen, aber dann kann sehr schön den ganzen Tag immer wieder drüber nachdenken.
Kleine Denkhilfe: Neutralität bedeutet in dem Fall, keine Präferenz für eine bestimmte Position zu haben. Objektivität ist das Vermögen, unvoreingenommen ein Urteil treffen zu können.
Beides existiert, wie wir wissen, nicht in Reinform. Das macht die Auseinandersetzung so schwer. Samira El Ouassils Argumentation beginnt mit der These: "Journalisten sollten, um ihrem Beruf gerecht zu werden, natürlich parteiisch sein: Sie müssen immer auf der Seite der Wahrheit sein." Allerdings bedeutet das: Es braucht ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit. Und das ist nun leider irgendwie abhanden gekommen.
"Die Idee journalistischer Äquidistanz, die 'fair and balanced' alle Positionen auf den Markt der Ideen zulässt, funktioniert nicht mehr, wenn sich nicht alle MarktteilnehmerInnen auf einen demokratischen und gesellschaftspolitischen Konsens einigen können, der die Grenzen ihrer Meinungsverschiedenheiten festlegt."
Und nun stehen wir in einer Sackgasse. Kurzer Rückblick: Spiegel-Reporter Philipp Oehmke hatte in einem Debattenbeitrag das Ende der Neutralität diagnostiziert und "klare moralische Ansagen gefordert". Sein Kollege Florian Gathmann hatte in einer Replik die Meinung vertreten, als Journalist müsse man "der Welt so unvoreingenommen wie möglich gegenübertreten".
Gathmann sagt also: Journalisten müssen trotz vorhandener Restriktionen versuchen, dem Ideal der Objektivität entgegenzustreben. Oehmke sagt: Journalisten dürfen den eigenen Standpunkt nicht verbergen.
Und was sagt Samira El Ouassil? Sie sagt: "Das stimmt beides." Ihr Vorschlag ist stattdessen "intersubjektive Objektivität". Dieser Maßstab sei "als ein identitätsstiftender Wert von Journalismus universell, zeitlos und schafft vor allem eines: Nachprüfbarkeit".
Und das bedeutet:
"In einem Klima der Postfaktizität ist es vielleicht wichtiger denn je, dass JournalistInnen nicht nur abbilden, was ist, sondern dabei auch zeigen, was davon richtig ist – bei überzeugender Vermittlung, dass ihre Agenda das Streben nach Wahrheit bleibt."
Es bleibt also der "Wille zur Objektivität", und an die Stelle Objektivitätsbehauptung tritt das Bemühen um Transparenz.
Um das mit einem Beispiel zu bebildern: Der Fußballkommentator tut nicht mehr so, als wäre es ihm egal, welche Mannschaft gewinnt. Er gibt zu: Ich bin HSV-Fan. Dann bemüht er sich einigermaßen unvoreingenommen, 90 Minuten lang die drückende Dominanz des Gegners zu beschreiben, aber nach seiner Offenlegung muss sich niemand darüber wundern, wenn nach dem sechsten Gegentor zwischen den Zeilen doch eine leichte Niedergeschlagenheit durchscheint.
Oder um bei Samira El Ouassils Text zu bleiben:
"Journalisten müssen, wenn sie über das Weltgeschehen erzählen möchten, dieses auch ein bisschen persönlich nehmen dürfen."
Generationenkonflikt über das Selbstverständnis
Christian Meier hat zum gleichen Thema für die Welt einen Essay geschrieben (€). Er beschreibt "einen Generationenkonflikt über das journalistische Selbstverständnis". Dabei beruft er sich unter anderem auf Bari Weiss, Meinungsredakteurin der New York Times. Ihre These fasst er wie folgt zusammen:
"Die Gräben verlaufen (…) zwischen den jungen 'Wokes' und den über 40-Jährigen 'Liberals'. Während die Wokes sich lieber in einer Welt sehen möchten, in der die aus ihrer Sicht oft lauten und polarisierenden Stimmen der neuen konservativen Garde stumm geschaltet werden, vertreten die Liberals eher traditionelle Werte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung auch für Populisten."
Meier sieht hier eine Verbindungslinie zum deutschen Journalismusmarkt.
"Der 'Spiegel' stellt 'Bento' derweil demnächst ganz ein. Kein Grund für Häme, aber eine Nachfrage: Ist es denkbar, dass ein Journalismus, der in erster Linie der Selbstversicherung seiner Leser dient und ihnen ein gutes Gefühl gibt, zwar eine legitime Idee ist, von seiner Zielgruppe auch angenommen wird, aber eben nicht bezahlt würde, weil sein Anliegen bereits häufig in der Überschrift auserzählt ist?"
Bemerkenswert in der Debatte um Objektivität und Neutralität ist jedenfalls, dass es auch weiterhin möglich ist, einfach so zu tun, als müsste man sich mit derlei lästigen Fragen gar nicht beschäftigen, weil sie ohnehin nur die komischen Menschen im Internet betreffen.
WDR-Intendant Tom Buhrow sagt im Interview mit Sven Lilienström (hier eine Zusammenfassung):
"Im Journalismus gelten – unabhängig von Ausspielwegen – klare Regeln für Nachrichten und Kommentare. Ein Kommentar gibt eine persönliche Meinung und eine individuelle Sicht auf ein Thema wieder und er ist als solcher gekennzeichnet. Im Netz verschwimmen diese Grenzen oft."
Immerhin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist die Welt also weiterhin in Ordnung.
Wer setzte die Wuhan-Doku ab?
Der zahlenverliebte ARD-Programmdirektor Volker Herres wird an der SWR-Doku "Wuhan – Chronik eines Ausbruchs" schon allein deshalb keine große Freude gehabt haben, weil die Quote echt mies war. Gesehen haben den Film nur eine Handvoll Journalisten. Und dann fiel das Echo auch noch überwiegend enttäuschend aus. Kritikpunkt vor allem: Die Produktionsfirma hatte Bildmaterial der chinesischen Filmproduktionsfirma CICC (China International Communication Center) verwendet, die unter staatlicher Kontrolle steht. Nach den kritischen Beiträgen wurde der Film kurz vor der Ausstrahlung überraschend aus dem Programm genommen. Der Sender begründete das mit einem Hinweis auf die "erforderlichen Rechte am verwendeten Filmmaterial". Was das genau bedeutet, ist nicht so ganz klar.
Zunächst eine Offenlegung: Ich habe den Film nicht gesehen. Eigentlich die besten Voraussetzungen für eine intensive Debatte bei Twitter. Aber das dann vielleicht später. Zunächst ein Blick auf die aktuellen Beiträge zur Diskussion.
Mein Altpapier-Kollege René Martens, der hier am Montag bereits erklärt hat, warum er vieles von der Kritik an der Dokumentation nicht teilt, hat das nun noch einmal in einem Beitrag für die Medienkorrespondenz präzisiert.
In seinem Beitrag geht es unter anderem um die ungeklärte Frage, warum die Dokumentation so kurzfristig abgesetzt wurde. Eine Mitteilung der für den Film verantwortlichen Produktionsfirma Gebrüder Beetz könnte darauf hindeuten, dass die Aussatrahlungsrechte noch gar nicht vorlagen.
René Martens schreibt dazu:
"Wäre das so, widerspräche das allen bekannten Gepflogenheiten bei der Zusammenarbeit zwischen Sendern und unabhängigen Produktionsfirmen, denn letztere müssen die entsprechenden Rechte bereits vor der redaktionellen Abnahme vorweisen."
Es könnte aber auch sein, dass die chinesischen Materiallieferanten die Rechte nach der kritischen Berichterstattung zurückgezogen hat. Hans Hoff schreibt auf der SZ-Medienseite über seinen erfolglosen Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum der Sender den Film aus dem Programm nahm.
"Fragt man beim SWR nach, wie sich das Ganze denn zugetragen hat, bekommt man freundliche, in der Sache aber eher ausweichende Antworten – die der Sender im wesentlichen schon seit Wochenbeginn verbreitet. Diese Antworten aber werfen letztlich mehr Fragen auf, als sie beantworten."
Die deutsche Produktionsgesellschaft antwortet schließlich, dass es jetzt so langsam aber auch mal gut mit den Fragen sein müsse:
"Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir aus rechtlichen Gründen weitere Nachfragen nicht beantworten können."
Der Sender erklärt aber immerhin, dass nicht die Einwände gegen das verwendete Material waren, die letztlich die Ausstrahlung verhindert haben, sondern die ungeklärten rechtlichen Fragen. "Dies klingt nicht so, als habe man im Südwest-Sender das Problem schon voll erkannt", schreibt Hoff.
Er ist wie seine Kollegin Lea Deuber, die den Film in der SZ wegen des verwendeten Materials kritisiert hatte, aber anders als René Martens, der Meinung, die inhaltlichen Erwägungen hätten zur Absetzung führen müssen.
Sollte die chinesische Produktionsfirma nun tatsächlich die Rechte zurückgezogen haben, weil sie schlechte PR für ihre Land befürchtete, könnte das bedeuten, dass das redaktionelle Letztentscheidungsrecht, wie von der deutschen Produktionsfirma weiterhin behauptet, zwar offiziell beim SWR lag, aber faktisch, wie sich nun zeigt, doch möglicherweise in China.
Und damit zum Altpapierkorb.
Altpapierkorb (Applaus in TV-Shows, Spex, AI und Fake News, Facebook sperrt Trump-Tweet)
+++ Wird es irgendwann ein seltsames Gefühl sein, wenn in Fernsehstudios geklatscht wird? Wir haben uns an die Stille ja schon so sehr gewöhnt. Alexander Krei beschäftigt sich für DWDL mit der Frage. Sein optimistischer Ausblick: "Echter Applaus wird in nächster Zeit aber mit ziemlicher Sicherheit wieder häufiger zu hören sein. Die Chancen stehen gut, dass Klaas Heufer-Umlauf nicht für immer auf die Lacher amerikanischer Sitcoms angewiesen sein wird."
+++ Die Print-Ausgabe der Spex ist vor zwei Jahren eingestellt worden. Danach ging es mit Bezahl-Abo weiter, und es sah zumindest so aus, als würde es funktionieren. Jetzt hat die gesamte Redaktion die Kündigung erhalten. Dirk Schneider kommentiert das für den Deutschlandfunk.
+++ Sebastian Meineck hat für den Spiegel mit Yann LeCun gesprochen, Professor an der Universität New York und Pionier in Sachen künstlicher Intelligenz. Die Forscher arbeiten im Moment an Möglichkeiten, Falschinformationen über Covid-19 zu identifizieren und kenntlich zu machen. Auf die Frage, ob die Technologie sich auch für politische Zensur missbrauchen ließe, sagt er: "Natürlich kann sie missbraucht werden. Deshalb achtet Facebook extrem genau darauf, sich bei politischen Debatten auf keine Seite zu schlagen. Besonders in den letzten Monaten. Facebook möchte seine Macht nicht einsetzen, selbst wenn es das könnte. Facebook geht mit Technologie verantwortungsvoll um."
+++ Der überraschende Spin am Donnerstagabend: Donald Trump hat es dann doch noch geschafft, ein Facebook-Posting zu veröffentlichen, das gesperrt wird, genauer: sein Wahlkampfteam. Hier eine Zusammenfassung in der SZ.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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